Tötet das Virus die freie Gesellschaft?
Unsere Autorin stellt in der Coronakrise eine erschreckende Selbstdiagnose: Sie verliert das Vertrauen in ihre Mitmenschen. Dieser Text ist eine Therapie in 3 Schritten.
Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich am Sonntagnachmittag die Eilmeldung auf meinem Handy lese. »Coronavirus: Bund und Länder verständigen sich auf Kontaktverbot«. Und weiter:
Das mulmige Gefühl verwandelt sich in einen Anflug von Panik.
Um es gleich zu Beginn klarzustellen: Ich habe überhaupt kein Problem damit, für eine Weile viel Zeit in meinen 4 Wänden zu verbringen, um mich und andere vor einer Ansteckung zu schützen. Ich finde es richtig, dass Großveranstaltungen abgesagt werden. Ich verstehe, warum es vernünftig ist, wenn wir uns jetzt Zeit kaufen, um Impfstoffe und Medikamente zu entwickeln, um Betten in den Krankenhäusern möglichst lange frei zu halten. #Staythefuckhome. Sehe ich ein.
Mein Problem ist ein anderes. Das mulmige Gefühl begleitet mich, seit die ersten Maßnahmen zum Shutdown des öffentlichen und sozialen Lebens eingeleitet wurden.
Ich möchte gern daran glauben, dass wir als Gesellschaft an einem Strang ziehen, um solidarisch durch diese Krise zu kommen. Ich will an die Stabilität der demokratischen Institutionen glauben, an politische Entscheidungen mit Augenmaß, an eine wache Zivilgesellschaft.
Doch es macht mir Angst, wie schnell Grundrechte beschränkt und sogar ausgesetzt werden können. Wie leichtfertig die Konsequenzen dieser Eingriffe gerade oft vom Tisch gewischt werden. Welche Sehnsucht nach starker Führung ich bei vielen zu erkennen meine, wenn ich in sozialen Medien die Forderungen nach harten Ausgangssperren lese. In einer Facebook-Gruppe meiner Nachbarschaft wurde am Wochenende eine Frau beschimpft, die sich erkundigt hatte, ob noch irgendwo ein Blumenladen geöffnet habe. Blumen seien ja nun wirklich kein Grund, noch vor die Tür zu gehen!
Eine Verwandte wurde beim Besuch einer Freundin gebeten, ihre Schuhe mit nach drinnen zu nehmen, damit die Nachbar:innen nicht sähen, dass sie dem Gebot der sozialen Distanz nicht allumfänglich folge.
Ich habe Angst, dass uns da gerade etwas entgleitet. Dass die Gesellschaft eine andere sein wird, wenn wir in ein paar Wochen (hoffentlich!) das öffentliche Leben wieder hochfahren – eine unfreiere, eine autoritärere.
Überreagiere ich? Oder sind meine Sorgen um die
Ich weiß es nicht. Was ich weiß: Es sind vor allem 3 Abwägungen, die entscheidend dafür sind, ob aus der Coronakrise auch eine Krise der Demokratie wird – oder ob wir gestärkt aus ihr herausgehen.
1. Sicherheit vs. Freiheit
Im Rennen um den Titel »Deutschlands kernigster Krisenmanager« will einer unbedingt ganz oben aufs Siegertreppchen: der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Bayern hat als bisher einziges Bundesland den Katastrophenfall ausgerufen.
Was heißt das genau? Es berechtigt Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beispielsweise dazu,
Die Katastrophenschutzbehörde kann zur Katastrophenabwehr von jeder Person die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen sowie die Inanspruchnahme von Sachen anordnen.
Doch nicht nur mit Shopping ist Schluss. Sozialer Kontakt in Bayern soll sich derzeit auf Mitbewohner:innen und die Kernfamilie beschränken. Für Alleinlebende heißt das: Eigentlich dürfen sie gar keinen direkten menschlichen Umgang mehr pflegen. Nicht nur öffentliche Veranstaltungen, auch Feiern zu Hause sind untersagt.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung […] können auf Grund dieses Gesetzes eingeschränkt werden.
Gesetzliche Grundlage für die Einschränkungen des sozialen Lebens, Schulschließungen und andere Maßnahmen sind nicht die Katstrophenschutzgesetze der Länder, sondern ist das bundesweit geltende (und von den Ländern ausgeführte)
Die Tragweite ist enorm. Denn »keine Versammlungsfreiheit« heißt nicht nur: keine Partys. Das heißt auch: keine Demonstrationen gegen als unverhältnismäßig empfundene Maßnahmen oder in Solidarität mit anderen Gruppen, die nun auch dringend Hilfe benötigen –
Das Infektionsschutzgesetz ist derzeit die »Grundlage für die einschneidendsten Beschränkungen der Grund- und der Freiheitsrechte, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat«,
Müsste da nicht ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen, zumindest eine laute und kontroverse Diskussion darüber, ob der Zweck die Mittel heiligt?
Es spricht einiges dafür, dass die gewählten Mittel Leben retten könnten, indem sie dafür sorgen,
Die Mittel bedeuten aber auch, dass Menschen ihren Job verlieren, Kultureinrichtungen schließen müssen, Existenzen zerbrechen, die über Jahrzehnte mühevoll aufgebaut wurden. Sie bedeuten vielleicht – wie schon in China beobachtet – soziale Isolation, Einsamkeit und die Zunahme häuslicher Gewalt.
Es gibt Menschen, für die Freiheit ein höheres Gut ist als Sicherheit. Die das Überleben an sich nicht als einzigen oder höchsten Wert betrachten.
Viele dürften nachvollziehen können, wenn jemand nicht allein im Pflegeheim sterben will, sondern lieber noch einmal mehr Besuch von Kindern und Enkel:innen empfängt – trotz Ansteckungsrisiko.
Natürlich dürfen diese Menschen ihre persönliche Abwägung nicht einfach auf andere Menschen ausweiten. Wenn es mir egal ist, ob ich mich anstecke, habe ich nicht das Recht, mich sorglos gegenüber anderen zu verhalten, die Gesundheit höher zu priorisieren.
Aber gilt das nicht auch umgekehrt?
Obrigkeiten haben die menschliche Angst um das eigene Überleben (und das nahestehender Menschen) in der Vergangenheit immer wieder genutzt, um Macht und Kontrolle auszuweiten. In Überwachen und Strafen beschreibt der französische Philosoph
Mit den Disziplinierungsmaßnahmen zur Seuchenbekämpfung kommt nach Foucault auch eine Unterscheidung zwischen uns, den Gesunden, die sich an die Regeln halten, und den Anderen, den Kranken und denen, die Krankheit bringen könnten. Das sollten wir im Kopf behalten, wenn wir in diesen Zeiten lesen,
»Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen« – Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Regierungen mit autoritären Tendenzen dürften überall auf der Welt versuchen, die Coronakrise in ihrem Sinne zu nutzen. In Ungarn testet Ministerpräsident Viktor Orbán gerade schon, wie weit er seine Macht ausbauen kann. Ein Gesetzentwurf, mit dem er das Parlament in einem unbegrenzt verlängerbaren Notstand lahmlegen will, scheiterte allerdings gerade an eben jenem.
Deutschland dagegen hat mit Angela Merkel momentan eine Regierungschefin, die umsichtig durch die Krise navigiert. Sie verspürt offenbar keinen Drang, sich als starke Führerin zu profilieren, sondern scheint jede Einschränkung des öffentlichen und sozialen Lebens sorgsam abzuwägen. Die DDR-Biografie bedingt bei ihr eine Sensibilität für Fragen der Freiheit, die ein Markus Söder gar nicht haben kann.
Dazu kommt noch etwas: Merkel ist Naturwissenschaftlerin. Und die nüchterne Sprache der Wissenschaft ist gerade gefragt. Denn von ihr erwarten sich viele eindeutige Antworten auf die Frage, was jetzt zu tun ist.
2. Politik vs. Wissenschaft
Tatsächlich ist in Deutschland und anderen Ländern derzeit etwas Erstaunliches zu beobachten: Die Politik gibt die Führungsverantwortung ein Stück weit ab und legt sie in die Hände der Wissenschaft. Christian Drosten, Chef der Virologie an der Berliner Charité, ist dieser Tage überall –
Auch den Namen »Lothar Wieler« dürften viele Deutsche inzwischen fast täglich lesen und hören. Wieler ist Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), dessen gesetzlicher Auftrag es ist, »wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen zu erarbeiten«.
Vielleicht genossen Wissenschaftler:innen noch nie eine so große Autorität wie in diesem Moment. Das ist eine enorme Chance, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ihnen nach dieser Krise denn weiter zuhören und Handlungsempfehlungen auch bei anderen Themen – zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel – ernst nehmen.
Klar ist aber auch: Es gibt einen Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Politisches Handeln beruht in einer pluralistischen Demokratie nicht darauf, dass Entscheidungsträger:innen immer das tun, was das Beste ist.
Vielleicht genoss die Wissenschaft noch nie so eine große Autorität wie in diesem Moment
Denn keine Maßnahme wirkt sich auf alle gleichermaßen aus. Ärzt:innen erleben die Coronakrise anders als Café-Besitzer:innen, Kulturschaffende oder Journalist:innen. Geflüchtete, Obdachlose und Angehörige von Minderheiten haben mit anderen Herausforderungen zu kämpfen als Konzernchef:innen. Politik ist im besten Fall ein faires Ringen um einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen.
Es ist nicht die Aufgabe von Christian Drosten oder Lothar Wieler, darüber nachzudenken, wie, sagen wir, eine
Erstaunlich schnell haben Bund und Länder
Doch der beeindruckende Aktionismus der Exekutive darf jetzt niemanden blenden. Wir müssen bei allem Händewaschen genau hinschauen, was passiert und was nicht. Schon Mitte März berichteten
3. Solidarität vs. Egoismus
Unsolidarisch zeigen sich auf den ersten Blick
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Kliniken in Baden-Württemberg nehmen einige an Covid-19 erkrankte Patient:innen aus dem französischen Elsass auf.
Und das Internet quillt über vor Hilfsinitiativen, Spendenaufrufen und Solidaritätsbekundungen: für Geflüchtete in Griechenland, Kulturschaffende, Kranke und Ältere aus der Nachbarschaft, für Obdachlose,
»Katastrophen und Krisen bringen das Beste in den Menschen hervor«, schreibt der niederländische Autor Rutger Bregman beim Online-Medium The Correspondent – und unterlegt dies mit Fakten:
Wie steht es also um Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit in Zeiten von Corona? Wird gerade eine neue Stufe des Überwachungszeitalters eingeläutet, wie Michel Foucault vielleicht vermuten würde? Oder nutzen wir die Chancen, die sich uns in der Krise bieten – auch dank der neuen Technologien und des Internets?
Legen wir post-Corona andere Maßstäbe an Regierungshandeln an und lassen uns nicht mehr so lange vertrösten, wenn es auf andere Art existenziell wird, weil wir gesehen haben, dass entschlossenes Handeln möglich ist? Achten wir mehr auf ein solidarisches Miteinander, werden uns der direkten und indirekten Folgen unseres Handelns im Alltag bewusster?
Noch haben wir es in der Hand – wenn wir vor lauter Händewaschen nicht vergessen, auch den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Noch ist es nicht zu spät.
Mir geht es ein bisschen besser.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily