Weil Demonstrationen in vielen Bundesländern verboten sind, ist Protest jetzt eine Kunst für sich. Zeit, kreativ zu werden, sagt Protestforscher Swen Hutter
Ein zerknittertes Zelt steht am Mittwochnachmittag auf dem Rasen am Platz der Republik in Berlin. Der Reichstag dahinter wirkt im grellen Sonnenlicht unbelebt wie eine Kulisse. Am Zelt lehnt ein Pappkarton mit der Aufschrift: »Schluss mit der Quarantäne des Gewissens, Europa!« 4 Frauen mit Mundschutz und in funkelnden Kleidern posieren daneben abwechselnd mit einem Bund Spargel, einer Sektflasche Dabei achten sie auf genügend Abstand. Ihre Aktion soll eine der starken Kontraste sein: Dekadenz und Privilegien des guten Lebens treffen auf dünne Zeltwände, mit denen sich zurzeit Zehntausende Geflüchtete in griechischen Flüchtlingslagern vor dem Virus schützen müssen.
Seit Wochen rufen Europäer:innen dazu auf, Doch den großen Protest hat das Coronavirus von den Straßen gefegt.
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Es ist keine Demonstration, sondern eine Kunstaktion, darauf beharren die Aktivistinnen vor dem Reichstag. Sie sind hier, um starke Bilder zu kreieren. Von der Aktion erfuhren sie über einen Kettenbrief in Messengerdiensten. »Verantwortung tragen« heißt die Aktion in dem 3-seitigen Aufruf. Darin wird dazu aufgefordert, sich nur in sehr kleinen Gruppen zu organisieren. Nach 10 Minuten wird die Kunstaktion am Reichstag beendet. 2 Polizeibeamte kommen über den Rasen näher. »Das ist eine unangemeldete Demonstration«, meint einer von ihnen. Unter den Aktivistinnen herrscht Konsens, dass sie hier abbrechen.
Nicht immer verläuft der Kontakt zwischen Aktivist:innen und Polizei so friedlich in den letzten Tagen. Am Wochenende griff die Polizei in Frankfurt und Berlin durch, als sich Menschen für Den einen fehlte die Sondergenehmigung des Gesundheitsamtes, die anderen hielten laut Polizei den Mindestabstand nicht ein. Deshalb gab es Anzeigen für Demonstrant:innen,
Was macht Corona mit unserer Protestkultur? Können wir uns noch gemeinsam äußern? Das haben wir Swen Hutter gefragt. Er ist Protestforscher des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Während viele Aktivist:innen die Situation in düsteren Farben zeichnen, schöpft er Hoffnung, dass wir jetzt neue Wege des Protestes entdecken.
Auf der einen Seite gibt es nachvollziehbare, gewichtige Gründe für die momentanen Kontaktbeschränkungen und das Verbot von Veranstaltungen, auf der anderen wiederum das demokratische Grundrecht der Wie sehen Sie dieses Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und dem Schutz der Gesellschaft?
Swen Hutter:
Dieses Spannungsverhältnis zwischen existiert schon immer. Wichtig ist, dass 2 Dinge mitgedacht werden: einerseits die Verhältnismäßigkeit und andererseits die zeitliche Befristung. Dann kann man aus einer demokratietheoretischen, aber auch juristischen Sicht zunächst nichts gegen diesen Zustand haben. Aber je länger er andauert, desto mehr müssen diese beiden Punkte auch öffentlich ausdiskutiert werden. Jetzt, nach den ersten 3–4 Wochen, ist es an der Zeit sich zu fragen: »Wann wird unser Versammlungsrecht wieder garantiert? Und wenn es nicht so ist, dass wir uns wieder öffentlich versammeln können, welche anderen Formen von Protest werden dann zugelassen?«
Wie könnte das aussehen?
Swen Hutter:
Wir haben schon viele Innovationen auf der Straße gesehen. Manche Menschen demonstrieren in Autos und halten damit auch Distanz. Oder sie legen Schuhe ab, um zu symbolisieren, dass sie stellvertretend für Geflüchtete protestieren. Die Politik muss aber auch klar signalisieren, wie sie mit diesen Formen des Protestes umgeht. In »normalen Zeiten« ist bereits ausgehandelt und verrechtlicht, was Protestierende tun können. Jetzt darf man nicht zu lange damit warten, einen vergleichbaren Aushandlungsprozess für die momentane Situation zu starten. An dessen Ende nicht nur eine Lösung für Sicherheit und Gesundheit stehen kann, sondern eine Lösung, die auch das Recht auf Widerspruch und Protest abwägt.
In den vergangenen Tagen gab es eine Auseinandersetzung mit Demonstrierenden, die gegen den Transport von radioaktivem Material aus Gronau nach Amsterdam protestieren wollten. Der geplante Protest in Münster wurde erst verboten, vor Gericht hat sich die Stadt dann aber mit den Protestierenden auf eine Mahnwache mit Auflagen geeinigt: Abstand halten und aus dem bisherigen Vermummungsverbot wurde ein Kann das ein Beispiel für so ein neues Aushandeln sein?
Swen Hutter:
Das ist exemplarisch für eine demokratische Gesellschaft. Wir müssen bedenken, dass nicht nur die Protestierenden, sondern auch der Staat, Polizei und Gerichte in einer Situation sind, die für sie neu ist. Deshalb braucht es genau dieses Aushandeln, was ja auch historisch die Entwicklung des modernen Protestrepertoires kennzeichnet. Noch vor Jahrzehnten hätten Sie nicht wie vor Kurzem in Berlin einfach Plätze in der Stadt besetzen können und wären lange Zeit von der Polizei ruhig toleriert worden. Das wurde möglich, weil beide Seiten dazugelernt haben.
Die so genanntender Bundesländer gehen zum Teil unterschiedlich mit der Frage der Versammlungen und Demonstrationen um. Diese wiederum können von Städten und Gemeinden unterschiedlich interpretiert werden. Ein mühsamer Weg zum Protest - eine für alle verbindliche Maßgabe, unter der Demonstrationen aktuell stattfinden können, gibt es nicht.
Am vergangenen Wochenende gab es in Frankfurt und Berlin Solidaritätsdemonstrationen für die Menschen in den überfüllten Flüchtlingslagern in Griechenland. Die Polizei nicht, hat dafür aber Plakate in Tüten gestopft, Demonstrant:innen und Journalist:innen vertrieben. Bilder, die man eher aus autoritären Staaten erwartet, nicht aus Deutschland.
Swen Hutter:
Das mag so scheinen, und das will ich auch gar nicht verteidigen, aber das Gute ist ja, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, wo genau das eine Gegenreaktion provoziert und eine öffentliche Diskussion in Gang kommt: »Was ist denn wirklich verhältnismäßig? Wie lange können wir in diesem Zustand bleiben?« Und deshalb glaube ich auch, dass der Lernprozess relativ schnell einsetzen wird. Wenn nicht, muss er erzwungen werden, durch Gerichte und die Politik.
Hat es eine ähnlich einschränkende Situation in Bezug auf die Versammlungsfreiheit und Protestmöglichkeiten schon einmal gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik?
Swen Hutter:
Nein, in diesem drastischen Ausmaß ist das eine neue Situation. Bislang kennen wir ja eher Diskussionen darum, Proteste gewisser Gruppierungen einzuschränken oder manche Demonstrationsformen als zu radikal zu verbieten. In den 60ern oder 70ern gab es Ausnahmezustände, weil die öffentliche Sicherheit höher gewichtet wurde als Aber, dass sich das generell durchschlägt auf unser gesamtes Leben, das ist doch neu.
Seit 1968 gibt es die sogenannten Notstandsgesetze, das sind Änderungen des Grundgesetzes, die vorübergehend Grundrechte stark einschränken können. Im Blick hatten die Politiker damals Kriege, Terroranschläge oder Katastrophenfälle, in denen solche Maßnahmen notwendig sein könnten. Vor allem die Studentenbewegung hatte damals massiv gegen die Notstandsgesetze protestiert. Ein Ausnahmezustand wie in anderen Ländern, der sogar Verfassungen ganz außer Kraft setzen kann, ist in Deutschland auch im Rahmen der Notstandsgesetze nicht möglich.
Menschen demonstrieren vermehrt online, Proteste werden aufgelöst – könnte die aktuelle Situation als Zäsur des politischen oder demokratischen Lebens in Deutschland verstanden werden?
Swen Hutter:
Für mich stellt sich eher die Frage, ob wir nicht eine Zäsur in Europa insgesamt erleben werden, wenn in ein paar Monaten die gesamte Konfliktlandschaft wieder durchbricht. Die alten Konflikte sind nicht gelöst und und das wahrscheinlich in geballter Form. Das könnte dann eine Zäsur sein: für die Protestlandschaft, aber auch für die demokratischen Auseinandersetzungen generell.
Jetzt steht gerade eine traditionelle Demonstrationszeit in Deutschland bevor. Die fallen dieses Jahr aus und dann steht mit dem 1. Mai auch bald der Tag der Arbeit in der Tür. Die Organisatoren der Ostermärsche wollen ihren Protest vor allem ins Netz tragen. Stumpf gefragt: Bringt das etwas?
Swen Hutter:
Was die Forschung zeigt, ist, dass Protestbewegungen, die stark digitalisiert sind, oftmals auch traditionellere Formen des Protestes nutzen, wenn sie wirkliche Durchschlagskraft haben wollen. Für die aktuelle Situation ist es aber sicher so, dass auch der Internetprotest einen gewissen Nachrichtenwert für sich hat, weil es eben das erste Mal ist, dass zum Beispiel Ostermärsche und 1. Mai dort stattfinden. Es wird sich aber zeigen, wie stark sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Form, sondern auch auf den Inhalt des Protestes richten wird.
Wir sehen jetzt auch Protestformen wie kurzlebige Kunstaktionen, bei denen mit Zelten auf öffentlichen Plätzen auf die Lage in den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern aufmerksam gemacht wird. Es scheint, dass Protest immer kreativer wird.
Swen Hutter:
Man darf nicht vergessen: das Protestrepertoire war schon immer relativ breit und bunt. Aber gerade mit den globalisierungskritischen Bewegungen der 2000er-Jahre wurde dieses performative Element von Protest noch stärker sichtbar. Flashmobs, aber auch theatrale Performances, wie wir sie vor einigen Wochen auch bei Extinction Rebellion gesehen haben, gehören zum Protest in Deutschland und weltweit dazu.
Die Innovationsfähigkeit der Straße und auch die kleinen Nadelstiche durch gezielte symbolische Aktionen zeigt sich exemplarisch in der jetzigen Situation. Politik und Polizei sollten daher auch versuchen, verhältnismäßig auf diese Aktionen zu reagieren. Diese Art von Protest ist nichts Neues, aber ich glaube, sie wird jetzt sichtbarer unter den Umständen, die wir gerade erleben.
Welche neuen Protestformen sind denn noch vorstellbar?
Swen Hutter:
Was wir zum Beispiel wissen, ist, dass in Brasilien die Mittelschicht ja lange Zeit nicht wirklich auf den Straßen protestiert hat. Und es könnte schon sein, dass das gemeinsame Applaudieren, das wir jetzt in Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas als Solidaritätsbekundungen sehen, wo einfach geklatscht und gesungen wird, um zu sagen »Wir sind alle gemeinsam im Boot. Wir danken den Pflegekräften«, bald zu einer stärker politischen Form werden könnte, wo es heißt: »Wenn ich jetzt klatsche oder hier mit meinem Pfannendeckel klopfe, dann will ich auch, dass die Politik denen noch mehr Geld gibt« oder Ähnliches.
Also gibt es nicht nur eine Bedrohung der Freiheit, sondern wir haben eben auch die Chance, selbst an dieser Verhandlung der Rechte teilzunehmen und Einfluss zu nehmen?
Swen Hutter:
Ja, ich glaube schon, dass bald die Stunde der Zivilgesellschaft ansteht, nach dieser ersten Stunde der Exekutive. Man sieht bereits jetzt einiges an Solidarität und Engagement. Wir sehen Innovation bei den Protestformen, wir diskutieren über das Recht auf Versammlungsfreiheit und Widerspruch. Daraus kann eine Gesellschaft viel lernen. Spätestens in ein paar Monaten wird es aber auch um wirkliche Verteilungskonflikte gehen und, wie gesagt, die bestehenden Konflikte um das Klima oder Europa werden mit Wucht die Tagesordnung bestimmen. Dann hängt auch von der Zivilgesellschaft und ihrem Protest ab, in welche politische Richtung wir uns bewegen werden.
Mit Illustrationen von
Mirella Kahnert
für Perspective Daily
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.
von
Benjamin Fuchs
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!