Warum die USA so stark polarisiert sind – und was uns in Deutschland (noch) schützt
Worauf wir achten müssen, damit uns amerikanische Verhältnisse erspart bleiben.
Donald Trump hält nichts von der Maskenpflicht. Erst am 11. Juli 2020 ließ er sich beim Besuch eines Militärkrankenhauses in Maryland zum ersten Mal mit einem Mund-Nasen-Schutz fotografieren, obwohl sich die Hinweise aus der Wissenschaft darauf mehren,
Man könnte meinen, der US-amerikanische Präsident würde alles versuchen, um die Bevölkerung seines Landes zu schützen,
Ob jemand Mundschutz trägt oder nicht, kommt in den USA einer politischen Standortbestimmung gleich. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, tritt seit Monaten nicht mehr ohne ein Stück Stoff im Gesicht in die Öffentlichkeit. Für viele Republikaner:innen und Trump-Anhänger:innen
Eine YouGov-Umfrage stellte Ende Juni zwar fest, dass 2/3 der Amerikaner:innen eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit unterstützen,
Der Streit um die Maske zeigt: Die USA des Jahres 2020 sind eine tief gespaltene und polarisierte Gesellschaft. Gerne wird Donald Trump daran die Schuld gegeben. Doch so einfach ist es nicht, meint der US-amerikanische Journalist
Es ist ein Buch über die Geschichte der zunehmenden Polarisierung von Demokraten und Republikanern, die massiv am gesellschaftlichen Zusammenhalt zerrt und die demokratischen Institutionen zu zerstören droht. Klein wendet sich darin gegen Analysen, die dem Individuum Trump übermäßige Bedeutung zusprechen. Für den ehemaligen Washington-Post-Kolumnisten und Gründer der amerikanischen Medienplattform Vox sind viele der Probleme seines Landes in der Struktur des politischen Systems angelegt.
Wir brechen systemische Probleme auf personalisierte
Als wichtigste Dynamik, die das kontinuierliche Auseinanderdriften der Gesellschaft antreibt, erkennt Klein die »Logik der Polarisierung«. Sie besteht darin, dass Politiker:innen sich immer eindeutiger positionieren müssen, um eine zunehmend polarisierte Öffentlichkeit für sich einzunehmen. Und polarisierte politische Akteure und Institutionen wirken ihrerseits polarisierend auf die Bevölkerung. Es ist eine Art Teufelskreis, der sich ständig selbst verstärkt.
Doch wie setzt er sich in Bewegung, was befeuert ihn? Der aktuell größte Treiber von Polarisierung, so Klein, sind unsere »politischen Identitäten«, die immer stärker und allumfassender werden.
In diesem Text erkläre ich dir die Grundlagen von Identitätspolitik:
Was genau meint Klein damit?
Warum wir alles dafür tun, dass unser Team gewinnt – selbst wenn es bedeutet, Trump zu wählen
Wir alle bewegen uns mit einer Vielzahl von Identitäten durch unser Leben. Niemand nimmt nur eine Rolle ein. Ein überzeugter Anhänger der amerikanischen Republikaner ist vielleicht auch Fußballtrainer der Mannschaft seiner Tochter, hilfsbereiter Nachbar und Fabrikarbeiter in einem prekären Beschäftigungsverhältnis. All unsere Identitäten prägen Gespräche, Beziehungen und Handlungen, sie enthalten Privilegien oder Diskriminierungserfahrungen. Das war schon immer so.
Aber etwas passiert gerade mit all diesen regionalen, religiösen, ideologischen und kulturellen Identitäten, so stellt es Ezra Klein auf Grundlage zahlreicher Studien und Erhebungen zumindest für die USA fest: Sie verschmelzen immer stärker zu einer politischen Überidentität, die sich am Ende gar nicht mehr so sehr über sich selbst, sondern vor allem
Diese verschmolzenen Identitäten haben so sehr an Gewicht gewonnen, dass sie an dem zerren, was dieses Land zusammenhält, und unsere Institutionen daran zu zerbrechen drohen.
Donald Trump gewann demnach nicht, weil eine Mehrheit von seinem Programm oder seiner Person überzeugt war – sondern weil er nicht Hillary Clinton war, nicht der Kandidat der Demokratischen Partei. »Negative Partisanship« nennt Klein dieses Phänomen.
Wir alle wollen daran glauben, dass wir, auch bei Wahlen, rationale Entscheidungen treffen. Dass wir eine bestimmte politische Option gegenüber einer anderen bevorzugen, weil wir uns gründlich informiert haben und die besseren Argumente dafürsprechen.
Doch da könnten wir uns etwas vormachen, meint Klein. Er begreift all die Trennungslinien zwischen »uns« und »den Anderen« mit Verweis auf Studien aus der politischen Psychologie weniger als politische, sondern mehr als psychologische Differenzen. Demokraten und Republikaner verfügen, so Klein, über komplett unterschiedliche Bausätze psychologischer Grundeinstellungen.
Während das liberale, demokratische Lager von Offenheit gegenüber Veränderung und einem Grundoptimismus getragen wird, legen konservative Republikaner größeren Wert auf Ordnung und Tradition. Das ist nicht überraschend, interessant ist aber, wie weit es sich im Alltag niederschlägt. Klein wählt das Beispiel der beiden US-amerikanischen Supermarktketten »Whole Foods« und »Cracker Barrel«. »Whole Foods« setzt auf bio und spricht eher eine experimentierfreudige, gesundheitsbewusste Kundschaft an, während »Cracker Barrel« Südstaatenklassiker im Sortiment hat.
Ob sich die Eröffnung einer Filiale an einem neuen Standort lohnt, machen beide Ketten auch vom lokalen Wahlverhalten abhängig. Kleins Schlussfolgerung: Unsere politischen Präferenzen korrelieren mit anderen Präferenzen, die sehr viel tiefer sitzen. Unsere Identitäten bestimmen, was wir kaufen und essen, welche Musik wir hören, wo wir Urlaub machen und ob uns die U-Bahn oder ein SUV zu unserer Arbeit bringen – um nur einige Beispiele zu nennen.
Mit der Herausbildung von politischen Identitäten, die längst viel mehr sind als eine Wahlentscheidung, schaffen sich die unterschiedlichen Gruppen auch ganz eigene Informationsstrukturen, die ihre jeweiligen Argumente – zum Beispiel für oder gegen eine Maskenpflicht – unterfüttern. Auch die
Es gibt Beweise dafür, dass kollaborativ und positiv strukturierte Interaktionen Verständnis fördern können. Aber nur sehr wenig politische oder soziale Medien sind für positive Interaktionen mit der anderen Seite ausgerichtet.
Bei der Lektüre von Kleins Buch braucht es nicht allzu viel Fantasie, um seine Analyse auf Deutschland und Europa zu übertragen; viele der beschriebenen Dynamiken treten auch hier immer deutlicher zutage. Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Debatte um die deutsche Polizei.
Freund und Helfer oder ein Fall für die Müllkippe? Wie sich Politik, Medien und Öffentlichkeit in der Polizeidebatte gegenseitig polarisieren
Vordergründig geht es dabei darum, ob sie ein Problem mit strukturellem Rassismus hat, ob das neue Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz Beamt:innen unter Generalverdacht stellt, wie scharf Kritik geübt werden darf – und ob es einen
Wer steht sich in diesem Konflikt gegenüber? Was hat den Kreislauf der Polarisierung in Bewegung gesetzt? Eine kurze Chronologie der Ereignisse, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Auf den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai in Minneapolis folgten in den USA landesweit intensive Proteste gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt. Aktivist:innen forderten unter anderem die Kürzung von Mitteln der Polizei,
Auch in Deutschland gingen Menschen auf die Straße. Dabei wurde an Fälle wie den von Oury Jalloh erinnert, der vor 15 Jahren in Polizeigewahrsam in Dessau ums Leben kam und dessen Todesumstände - Die Polizei wehrt sich laut gegen Vorwürfe eines strukturellen Rassismus; der von Medien gern zitierte Sprecher der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG)
- Zu diesen Personen zählt er wahrscheinlich auch taz-Kolumnist:in Hengameh Yaghoobifarah. In einer wenige Tage später erschienenen
- Am 22. Juni kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer an, Strafanzeige gegen Hengameh Yaghoobifarah stellen zu wollen.
Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen, genauso wie wir es jetzt in Stuttgart gesehen haben. Das dürfen wir nicht weiter hinnehmen.
In Stuttgart hatte es am Wochenende zuvor eine spontane Massenrandale gegeben, nachdem die Polizei einige Jugendliche auf Drogen kontrolliert hatte. Neben einem Einsatzfahrzeug gingen auch Schaufensterscheiben zu Bruch, Handys und Turnschuhe wurden gestohlen, einige Beamt:innen verletzt. - Wie genau sich die Dynamik in Stuttgart entfaltete, ist bis heute nicht ganz klar, der Bundesinnenminister hatte seinen persönlichen Sündenbock jedoch schnell identifiziert: taz-Kolumnist:in Hengameh Yaghoobifarah. Dass Seehofer ihre Person öffentlich anprangerte, bedeutete eine enorme Eskalation der Situation. Seehofer machte Hengameh Yaghoobifarah damit, das muss so drastisch formuliert werden, zur Zielscheibe für rechte Hetze.
Es war kein Zufall, dass Seehofer ausgerechnet in der Bild-Zeitung mit einer Strafanzeige drohte:
Ezra Klein schreibt in seinem Buch: »Du kannst die Medien dominieren, wenn du Granaten in unsere tiefsten sozialen Trennlinien schmeißt.« Was Seehofer in diesem Fall gelang: eine Debatte über Polizeigewalt mithilfe der Bild-Zeitung in eine Debatte über Gewalt gegen Polizisten umzuframen, die nun einer ganz anderen Gruppe von Menschen auch noch Anlass gab, sich zu empören. Während es zunächst Schwarze Menschen,
Das alte Mantra der Lokalberichterstattung lautet: ›If it bleeds, it leads‹ (›Wenn Blut fließt, kommt es auf die Titelseite‹). Für politische Berichterstattung gilt inzwischen: Es kommt auf die Titelseite, wenn es genug Menschen empört. Und Empörung ist fundamental mit unserer Identität verknüpft – wir sind empört, wenn Mitglieder anderer Gruppen unsere Gruppe bedrohen und unsere Werte verletzen. Polarisierte Medien betonen nicht die Gemeinsamkeiten, sie instrumentalisieren Unterschiede. Sie fokussieren nicht auf das Gute der anderen Seite, sie lassen dich mit dem Schlimmsten rechnen.
Innenminister Horst Seehofer und der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt sind konservative ältere weiße Männer aus Bayern bzw. Duisburg. Taz-Kolumnist:in Yaghoobifarah lebt in Berlin, arbeitet zu Feminismus, Queerness sowie Antirassismus und definiert sich als
Es ist wichtig, diese Tatsachen, diese Identitäten der Beteiligten zu benennen – denn auch in Deutschland wird Identitätspolitik zunehmend sichtbar, aber oft noch nicht richtig verstanden.
Was bedeutet das alles? Droht uns in Deutschland eine ähnliche Entwicklung wie in den USA, die schlimmstenfalls in der Wahl eines deutschen Trump zum Bundeskanzler gipfelt? Die gute Nachricht vorweg: Wir können einiges dafür tun, damit es nicht soweit kommt.
Doch zunächst muss ein Missverständnis ausgeräumt werden.
Mit Polarisierung leben lernen: »Identity mindfulness«
Identitätspolitik wurde schon immer betrieben. Neu ist nur, dass sich immer mehr Gruppen Gehör verschaffen, die früher an den Rand gedrängt wurden. Deshalb sei Polarisierung an sich auch nicht das Problem, meint Klein,
Wenn sie nicht verschwindet, müssen wir also lernen, damit zu leben. Das politische System der USA müsse dahingehend reformiert werden, dass es Polarisierung aushalte, führt Klein aus.
In Deutschland haben wir in dieser Hinsicht einen großen Vorteil: ein Verhältniswahlrecht, das den Einzug mehrerer Parteien ins Parlament begünstigt, die dann Koalitionen miteinander eingehen müssen, um regieren zu können. Es ist ein System, das die Präferenzen der Wähler:innen im Parlament möglichst genau abbilden will; die Mehrheitswahl, wie sie in den USA stattfindet,
Im Großen und Ganzen beruht unser System also mehr auf Konsens als auf Konfrontation. Doch darauf sollten wir uns nicht ausruhen: Der viel diskutierte Niedergang der Volksparteien, der schnelle Aufstieg der AfD und der Popularitätszuwachs der Grünen in den vergangenen Jahren zeigen, dass etwas in Bewegung geraten ist
Doch es gibt Ideen und Experimente, die das Potenzial haben, zerstörerische Polarisierungsdynamiken zu bremsen: Dazu gehören
Klein hat noch einen Gedanken, der auch in Deutschland hilfreich sein könnte: Er plädiert für die Wiederentdeckung des Lokalen. Viele von uns sind erstaunlich gut darüber informiert, was auf nationaler oder internationaler Ebene vor sich geht. Es ist zu vermuten, dass selbst in Berlin mehr Menschen über Inhalte aktueller Trump-Tweets als über die Initiativen der Lokalpolitiker:innen in ihrem Bezirk Bescheid wissen. Auch das polarisiert.
Du willst wissen, wie du die Politik vor deiner Haustür verändern kannst? David Ehl und Stefan Boes haben eine Anleitung für dich:
Wo es weniger um Symbolpolitik und mehr um konkrete Lösungen geht, verlaufen Diskussionen oft konstruktiver.
Und noch eine Empfehlung Kleins können wir uns zu Herzen nehmen: Identity Mindfulness – mehr Achtsamkeit im Umgang mit unseren mannigfaltigen Identitäten, die normalerweise nicht bewusst aktiviert oder deaktiviert werden. Sie sind einfach da.
›Republikanerin‹ ist eine Identität, ebenso wie ›Demokratin‹. Aber auch ›fair gesinnt‹, ›christlich‹, ›neugierig‹ oder ›New Yorkerin‹. Die Identität als Person, die sich für Arme, Tiere oder Kinder einsetzt, kann genauso stark sein wie die Mitgliedschaft in einer politischen Partei.
In einem polarisierten Umfeld werden politische Identitäten allerdings konstant aktiviert und verstärkt. Wenn wir uns aber dessen bewusst sind, dass wir alle Identitätspolitik betreiben, können wir darauf achten, dass auch mal andere Identitäten zum Zuge kommen. Lesen wir beispielsweise einen Zeitungsartikel, der unseren Puls in die Höhe schnellen lässt, schlägt Ezra Klein einige Fragen vor, die wir uns selbst stellen können: Welche meiner Identitäten springt gerade darauf an? Warum fühle ich mich in die Defensive getrieben? Wie fühle ich mich, wenn ich auf eine Identität reduziert werde?
Manchmal lohnt es sich, wütend zu sein. Manchmal lohnt es sich nicht. Wenn wir uns nicht die Zeit dafür nehmen, diese Unterscheidungen zu treffen, verlieren wir die Kontrolle über unser Verhältnis zur Politik und werden unwissentlich von anderen instrumentalisiert.
Es gehe darum, sich dessen bewusst zu werden, auf welche Art und Weise manche Politiker:innen und Medien versuchen, uns zu manipulieren. Wenn wir das schaffen, haben wir gute Chancen, dass uns ein deutscher Trump erst mal erspart bleibt.
Anmerkung der Redaktion: Im Oktober 2020 ist Ezra Kleins Buch unter dem Titel »Der tiefe Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika« in deutscher Übersetzung bei Hoffmann und Campe erschienen.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily