Neoliberale Politik hat die Demokratie unterwandert. Wie es jetzt anders werden kann
Seit dem Ende der 70er-Jahre wurde aus neoliberaler Theorie politische Praxis – mit fatalen Folgen für Mensch und Planet. Wie wir den Kurs heute ändern können, erfährst du im dritten und letzten Teil unserer kleinen Geschichte des Neoliberalismus.
Dieser Artikel ist Teil 3 der Reihe zur Geschichte des Neoliberalismus. Falls du die vorherigen Teile noch nicht gelesen hast, findest du Teil 1 hier (Klick!) und Teil 2 hier (Klick!).
Die 70er-Jahre: Über 40 Jahre hatte es gedauert, bis aus Friedrich Hayeks Theorie eines neuen Liberalismus (Teil 1, Akt 1–3) eine mächtige Ideologie geworden ist, die sich in der westlichen Welt als Gegenmodell zum kommunistischen System der Sowjetunion etabliert hat: der Neoliberalismus.
Eine maßgebliche Rolle dafür hatte die Mont-Pèlerin-Gesellschaft (MPG) gespielt (Teil 1 und 2, Akt 4–5), eine Gruppe aus Intellektuellen und Geschäftsleuten, die in den 50er- und 60er-Jahren einen zunehmend einflussreichen Hegemonieapparat aus Thinktanks, privat finanzierten Universitäten und Verbänden aufgebaut hatte, um ihre Interessen durchzusetzen (Teil 2, Akt 6–7).
Doch wie wird aus Ideen konkrete neoliberale Politik? Und welche Folgen hatte das für die Menschen überall auf der Welt?
Noam Chomsky, einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit, traf folgende Einschätzung:
Die gemeine Bevölkerung weiß nicht, was passiert. Und sie weiß nicht einmal, dass sie es nicht weiß.
Spätestens jetzt, im Jahr 2020, angesichts der weltweiten Pandemie, ist es an der Zeit, diese Lücke zu schließen.
Denn nur wenn wir das Bild im Ganzen erkennen und aus der Vergangenheit lernen, können wir in unserer Gegenwart mitgestalten, wie unsere Zukunft aussehen soll.
Noch einmal zur Erinnerung: Die ersten 7 Akte liest du in Teil 1 und 2 der Artikelreihe!
Achter Akt: Die neoliberale Schocktherapie – Chile als Experimentierlabor
Nur eine Krise bewirke wirklichen Wandel, dessen war sich das Gründungsmitglied und Aushängeschild der MPG, Milton Friedman, sicher.
Er sollte recht behalten:
Auf beiden Seiten des Atlantiks scheint »das Alte« nicht mehr zu funktionieren, etwas Neues muss her, etwas, was in den Jahrzehnten zuvor noch undenkbar war. Und das internationale Netzwerk aus Sympathisanten der neoliberalen Ideen steht bereit, ihre Theorie zur politischen Praxis zu machen.
Doch für radikale neue Ideen brauchen die neoliberalen Vorkämpfer:innen einen Testlauf. Und ein Land in den Anden Südamerikas soll – unfreiwillig – zum Labor werden.
In den Morgenstunden des 11. September 1973 wird der Präsident Chiles, Salvador Allende, durch einen Anruf geweckt: Das Militär unter der Führung des Generals Augusto Pinochet hat sich gegen den demokratisch gewählten Allende erhoben und fordert seinen Rücktritt. Er lehnt ab. Wenig später bombardieren Kampfjets den Präsidentenpalast La Moneda, Soldaten stürmen das Gebäude. Allende weist seine Vertrauten an, zu kapitulieren.
Er selbst begeht noch am selben Tag vor Ort Suizid.
Dies sind meine letzten Worte und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird, ich bin sicher, dass es wenigstens ein symbolisches Zeichen ist gegen den Betrug, die Feigheit und den Verrat.
Betrogen wird Allende nicht nur durch die Militärs, sondern auch durch den US-Geheimdienst CIA, der bereits 1970 versucht hat, die Wahl des Sozialisten Allende
Doch das ist nicht alles: Nachdem die Militärdiktatur aufgebaut ist, entwickelt sich Chile zu einer Art Experimentierlabor für die neoliberale Ideologie. Es dauert nicht lange, bis eine Gruppe von US-Ökonom:innen die Politik des Landes mitbestimmt. Ihr »Handwerk« hatten sie an der Universität von Chicago gelernt, an der das MPG-Gründungsmitglied Milton Friedman die Chicagoer Schule lehrte.
Was folgt, ist die gesamte Palette marktliberaler Reformen, die nun erstmals in der Praxis getestet werden: Staatseigentum wird im Eiltempo an private Investor:innen verkauft, Steuern werden gesenkt, Gewerkschaften verboten, Löhne gesenkt, öffentliche Ausgaben für Bildung und Infrastruktur zusammengestrichen, der Finanzsektor wird dereguliert.
Und die Schocktherapie zeigt Wirkung, es scheint zumindest ökonomisch bergauf zu gehen, sogar vom »Wunder von Chile« und dem »südamerikanischen Tiger« ist die Rede.
Der »Vater« des Neoliberalismus, Friedrich Hayek, zeigt sich trotz allen Unrechts zufrieden –
Meine persönliche Präferenz tendiert eher zu einer liberalen Diktatur als zu einer demokratischen Regierung, die frei von Liberalismus ist.
Dass es lediglich 6 Jahre dauert, bis der Finanzsektor Chiles 1982 crasht,
Die neoliberale Zwangsbehandlung hat sich in Chile als sehr effektiv erwiesen – und zwar darin,
Neunter Akt: Das Diktat der leeren Kassen stürzt die Demokratie
Im Gegensatz zu Südamerika gibt es in den USA und Europa Ende der 70er-Jahre keine politischen Umstürze und Diktaturen – doch darauf sind die Verfechter:innen des Neoliberalismus inzwischen auch nicht mehr angewiesen.
Stattdessen hat der von den Mitgliedern der Mont-Pèlerin-Gesellschaft mitgeschaffene neoliberale Hegemonieapparat (Teil 2, Akt 7) dafür gesorgt, dass sich ihre Ideologie in den Köpfen vieler politischer Entscheidungsträger:innen festgesetzt hatte. In der westlichen Welt sollten bald keine Diktatoren regieren, sondern das Geld, das in den Kassen der Gemeinwesen fehlte – und schon bald immer stärker in den Taschen von einer immer kleineren Zahl an Superreichen verschwinden sollte.
Doch der Reihe nach: Nachdem die Folgen der Ölpreiskrise die westlichen Volkswirtschaften nachhaltig ins Straucheln gebracht haben, reagieren
Die Inhalte lassen sich – etwas überspitzt – auf ein einfaches Mantra herunterbrechen:
Privatisierung, Steuersenkungen, Sozialstaatsabbau!
Doch nicht nur die USA und Großbritannien setzen voll auf dieses Konzept, auch Deutschland entfernt sich in dieser Zeit still und heimlich vom vermeintlichen Sonderweg: Hier plädiert der »Vater der Wirtschaftsweisen« und allzeit einflussreiche Ökonom Herbert Giersch für ebendiesen Weg. Giersch sitzt der MPG 1986–1988 vor. 1982 markiert
Der Staat entzieht sich also selbst seine Einkommensgrundlage – und hungert sich so auf Dauer von ganz allein aus, ganz ohne Diktator.
Es ist diese grundlegende Logik des Diktats der leeren Kassen, durch die die marktliberalen Kräfte – in der Regel solche Menschen, die ohnehin schon reich waren und nun noch viel reicher sind – ihre Hegemonie um den ganzen Erdball herum immer weiter ausweiten. Bis heute.
Ob staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit oder ein faires Sozialsystem: Fortan kann die Antwort immer und überall lauten: »Dafür ist kein Geld da.« Doch das Geld war niemals weg, es wandert jetzt nur in die Taschen anderer.
Und zwar gegen alle Widerstände. Denn nicht überall bitten die politischen Entscheider:innen die neoliberalen Reformen wie in den USA, Großbritannien oder auch Deutschland freiwillig herein.
Besonders in den 90er-Jahren sollte für diese Fälle eine weitere Strategie zum Zuge kommen.
Zehnter Akt: Neoliberalismus durch die Hintertür – Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank
[Der Zerfall der Sowjetunion] markierte die philosophische Überlegenheit der freien Märkte und des Privatunternehmertums über die zentralisierte, kollektive Planwirtschaft.
Mit dem Ende des Kalten Krieges durch den Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 scheint es vielen so weit zu sein: Das
Mit dem Zusammenbruch des Systemkonkurrenten auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs hat die neoliberale Ideologie nun freie Bahn, um ihre Prinzipien auch in der übrigen Welt zu verbreiten. Wie das vor sich ging, legt ein Mann offen, der zu Beginn des neuen Jahrtausends in Washington, D.C. öffentlichkeitswirksam gefeuert wird. Diesem Mann »war kein ruhiger Ruhestand vergönnt: Er wurde regelrecht exkommuniziert, allein dafür, dass er leisen Dissens gegenüber der Globalisierung im Weltbank-Stil geäußert hat«, kommentiert »The Guardian«.
Sein Name: Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank. Doch Stiglitz lässt sich nicht mundtot machen. Im Gegenteil: Stattdessen
Unterstützung brauchen inzwischen in erster Linie die Länder, die aus der Konkursmasse der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen waren. Aber auch schon zuvor waren bereits Länder wie die Volksrepublik China und viele andere Länder des globalen Südens »unterstützt« worden.
Die gängige Strategie von Weltbank und IWF für Staaten in finanziellen Schwierigkeiten sieht laut Stiglitz 4 Punkte vor, von deren Einhaltung
- Privatisieren: Ob Eisenbahn, Energieversorger oder Telekommunikation – Staatseigentum ist schnellstmöglich zu verkaufen. Ob die Deals fadenscheinig sind, ist zweitrangig. Dabei bereichern sich politische Entscheider:innen nicht selten auch persönlich, wie Stiglitz berichtet: »Du konntest sehen, wie sich ihre Augen mit der Aussicht auf eine Provision weiteten, wenn sie den Verkaufspreis um ein paar Milliarden drückten.« Die US-Regierung weiß laut Stiglitz von solchen Deals, zumindest bei der größten Privatisierungswelle, dem großen Ausverkauf von Russland im Jahr 1995. Dass sich in diesem Prozess einige wenige Oligarchen nahezu die gesamte Industrie Russlands unter den Nagel reißen, interessiert nicht.
- Kapitalmärkte entfesseln: Ziel ist es hier, ausländisches Kapital in Form von Investitionen zu ermöglichen – zumindest in der Theorie. In der Praxis, etwa in Brasilien und Indonesien, führt dies nur dazu, dass Geld aus den betreffenden Ländern herausgeschafft wird. Geld, das aus dem Ausland hereinkommt, fließt hingegen meist in Immobilien und Staatsanleihen. Kommt es dann zu Unruhen an den internationalen Kapitalmärkten, wird dieses Geld von den internationalen Investor:innen von einem Tag auf den anderen abgezogen. Mit schweren Folgen für die Volkswirtschaften: leere Kassen.
An diesem Punkt drängt der IWF laut Stiglitz auf den nächsten Schritt: - »Marktübliche Preise« erzwingen: Einfacher gesagt: Das Ziel ist, die Preise für Nahrung, Wasser und Gas zu erhöhen. Wie in Indonesien im Jahr 1998, als die US-Regierung und der IWF Milliarden an Hilfszahlungen für Nahrung und Treibstoff für die Armen zurückhalten,
Stiglitz beschreibt diese Vorgehensweise so:[Wenn ein Land] am Boden liegt, quetscht [der IWF] den letzten Tropfen Blut aus ihm heraus. Sie erhöhen den Druck, bis der ganze Kessel explodiert.
Mit fatalen Folgen für die betroffenen Länder: Die Unruhen verschrecken die Investoren, die IWF und die Weltbank erst hereingelassen hatten, noch mehr Geld fließt ab, Regierungen gehen bankrott – die Kassen sind endgültig leer. - Spielregeln diktieren: Zuletzt geht es darum, »Freihandel« und entsprechende Abkommen durchzusetzen. Diese funktionieren dann häufig eher als Einbahnstraße: Während die USA und westeuropäische Länder
Darüber, wie sich die jeweiligen Länder ohne den Einfluss von IWF und Weltbank entwickelt hätten, kann nur spekuliert werden. Stiglitz beschreibt das so:
Es ist ein wenig wie im Mittelalter. Wenn der Patient stirbt, werden sie sagen: Wir haben den Aderlass zu früh gestoppt, er hatte noch immer etwas Blut in sich.
Klar ist hingegen, dass hier internationale Organisationen ohne demokratische Legitimierung in die elementarsten Geschicke von Ländern auf der ganzen Welt eingreifen – ungeachtet lokaler Proteste und zweifelhafter Ergebnisse.
Anfang der 2000er-Jahre kommt sogar ein neuer Begriff für die so vorangetriebene »Globalisierung im Weltbank-Stil« auf, die im Geiste neoliberaler Reformen die ganze Welt in zahllose Verlierer und sehr wenige Gewinner aufteilt:
Ob durch die Zusammenarbeit mit Diktator:innen, intellektuelle Hegemonie in Politik(beratung) und Medien oder mittels Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank: Es hat keine 80 Jahre (in 10 Akten) gedauert, bis aus der Idee Friedrich Hayeks eine weltweit dominante Ideologie mit Absolutheitsanspruch geworden ist.
In der Zwischenzeit hat die Mont-Pèlerin-Gesellschaft, die maßgeblich an der Entwicklung der neoliberalen Idee beteiligt war, an Einfluss eingebüßt.
Sie tagt indes noch immer regelmäßig alle 2 Jahre – das nächste Treffen am 1. September 2020 in Oslo
Das spielt jedoch keine besonders große Rolle mehr. Denn inzwischen bestimmen mehr und mehr
Wie Michael Wohlgemuth, deutscher Ökonom und MPG-Mitglied, schon 2004 sagte:
Die Mont-Pèlerin-Society ist heute kein intimer Kreis vereinsamter Denker mehr. Sie ist ein Netzwerk liberaler Thinktanks, Bürger und Akademiker aus aller Welt.
Epilog: Hegemonie einer fatalen Ideologie – und jetzt?
Angesichts der spätestens seit der Jahrtausendwende immer offensichtlicher gewordenen Folgen des marktradikalen Kapitalismus für unsere Umwelt und Milliarden von Menschen kann die Antwort auf die Frage, wie es weitergeht, wohl nur lauten: so nicht.
Es wäre am Ende dieser kleinen (!) Geschichte des Neoliberalismus natürlich äußerst verlockend, die eine Antwort darauf geben zu können, wie die Hegemonie dieser fatalen Ideologie zu brechen ist.
Doch klar ist, dass der Markt, der als universelles Ordnungsprinzip in alle Bereiche unseres Lebens vorgedrungen ist, nicht erst seit der Coronakrise regelmäßig versagt. Ebenso klar ist, dass die Freiheit, die Hayek, Friedman und ihre Mitstreiter:innen propagierten, keine universelle ist, sondern eine exklusive Freiheit der Reichen und Mächtigen.
Das riesige Heer aus Verlierern dieses Systems auf der anderen Seite wendet sich nach den versäumten Reformen infolge der letzten großen Krise im Jahr 2008 in ihrer Frustration mehr und mehr den Trumps, Brexiter:innen und zahlreichen anderen Populist:innen zu, die einmal mehr einfache Lösungen versprechen. Ironischerweise scheint es so, als würden die Ideen Friedrich Hayeks (Akt 1–2), mit denen er Totalitarismus und Faschismus begegnen wollte, uns nun eben an den Rand davon führen – zumindest wenn man den Blick über den Atlantik in die USA richtet. Die Parallelen zu den 20er- und 30er-Jahren sind schwer zu verkennen.
Der britische Journalist und Aktivist George Monbiot beschreibt es so: Bereits der große Crash im Jahr 2008 markierte das Ende der neoliberalen Hegemonie. Doch was dann? Politische Alternativen lagen bereit, es mangelte jedoch an einem schlüssigen Narrativ, um die Menschen von der Möglichkeit einer anderen Welt zu überzeugen. Stattdessen spielten die Reichen und Mächtigen dieser Welt sie gegeneinander aus – mit Erfolg.
So hatte das Alte Bestand, die Krise als Chance für echten Wandel wurde vertan – und alles blieb, wie es war.
Die gute Nachricht: Das einzige, woran es uns jetzt fehlt, ist eine mutige, konstruktive Vision, wie es anders gehen kann.
Das Video ist leider nur auf Englisch verfügbar, englische Untertitel lassen sich unten rechts im Bild dazuschalten.
Auch der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman ist
Nur eine Krise […] produziert echten Wandel. Wenn diese Krise auftritt, hängen die getroffenen Maßnahmen ab von den Ideen, die gerade so herumliegen.
Unsere Frage muss also lauten: Welche Ideen wollen wir heute, im Jahr 2020, angesichts einer globalen Pandemie unterstützen und vorantreiben?
Wenn wir etwas aus der Geschichte des Neoliberalismus lernen können, dann ist es, dass es Entschlossenheit, Ausdauer und Idealismus braucht, um tiefgreifende Veränderungen durchzusetzen.
Daher hier zum Abschluss eine kleine Auswahl von Ideen, die so herumliegen, um den Post-Neoliberalismus zu gestalten:
Vor dem Hintergrund des erfolgreichen politischen Programms in den 30er-Jahren in den USA fordern viele Menschen einen »Green New Deal«. Hier erfährst du alles über die Ideen dahinter:
Hier stellen 3 Autorinnen ihre Ideen aus der Postwachstumsbewegung vor:
Unser Gastautor Houssam Hamade zeigt die Potenziale einer Planwirtschaft, die in der Sowjetunion noch zum Scheitern verurteilt war, aber heute durch »Big Data« durchaus realistisch ist:
Passend dazu überlegt meine Kollegin Katharina Wiegmann hier, wie wir die Macht der Megakonzerne jetzt noch brechen können:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily