Diese Updates braucht die Demokratie
Raus aus den Hinterzimmern, mehr Macht für die Jugend und gläserne Abgeordnete – eine radikale Anleitung in 5 Schritten.
Klimakatastrophe, soziale Spaltung und jetzt auch noch eine Pandemie samt Wirtschaftskrise – die Welt, in der wir leben, befindet sich in einem anhaltenden Krisenzustand. Nahezu täglich sehen wir uns mit kleineren und größeren Katastrophenmomenten konfrontiert. Das Gegenmittel liegt auf der Hand: Wir müssen handeln. Am besten schnell und konsequent. Doch genau daran scheitert es bislang. Warum eigentlich?
Die Demokratie befindet sich in einer Krise
Wenn Aktivist:innen Forderungen an die Politik richten, lauten die Einwände immer wieder ähnlich: Die Demokratie sei von Natur aus langsamer, als Aktivist:innen sich das wünschen. Sie lebe von Kompromissen. Zu radikaler Veränderung sei sie nicht in der Lage. So sagte Angela Merkel im Herbst 2019 zur Verteidigung des vielfach kritisierten
Diese Einwände sind nicht nur gefährlich, sondern schlicht falsch. Denn dass wir Krisen eskalieren lassen, liegt nicht an »der Politik« oder »der Demokratie«. Das Problem sind verkrustete Strukturen, weswegen politische Prozesse zu intransparent, zu anfällig für Machtspielchen, zu exklusiv, zu langsam sind.
Natürlich können wir die Klimakrise bewältigen, soziale Gerechtigkeit schaffen und unser Wirtschaften nachhaltig gestalten. Doch damit unsere Demokratie dazu in der Lage ist, müssen wir die verkrusteten Strukturen aufbrechen, worin sie gerade nur unzureichend funktioniert. Dazu genügt es nicht, hier und da ein paar Stellschrauben zu drehen und Minimalverbesserungen vorzunehmen. Wir brauchen ein umfangreiches Systemupdate für mehr Transparenz, Repräsentation und politischen Druck von unten.
So könnte das Demokratie-Update in 5 Schritten aussehen, das Wege aus der Krise möglich macht.
1. Lobbyismus: Raus aus den Hinterzimmern!
Politische Entscheidungen, die uns alle betreffen, dürfen nicht länger im Geheimen verhandelt werden. Politik muss raus aus den Hinterzimmern. Wenn sie der Öffentlichkeit und den Parlamenten entzogen und stattdessen in Lobbygesprächen verhandelt wird, drohen massive Vertrauensverluste in die Politik. Leider ist genau das in Deutschland Realität: Wer wann und wie Einfluss auf welche Politiker:innen nimmt, ist nicht nachvollziehbar.
Es fehlen Instrumente für mehr Transparenz – wie beispielsweise ein Lobbyregister. Nachdem sich die Bundesregierung lange dagegen gesperrt hat, haben die Regierungsfraktionen Anfang September den Entwurf für ein solches Register in den Bundestag eingebracht. NGOs wie
Wenn politische Entscheidungsprozesse intransparent verlaufen, hat das fatale Folgen. Es wird nicht klar, welche ideologischen und finanziellen Interessen sich in Entscheidungen niederschlagen. Die Autorinnen Susanne Götze und Annika Joeres fassen das am Beispiel Klimaschutz in ihrem Buch
Die Klimaschmutzlobby hat einen effektiven Klimaschutz in den letzten 30 Jahren blockiert. […] Die maßgeblichen Entscheidungsträger haben ihnen die Türen geöffnet, sie zu Beratern gemacht, zu Experten. […] Aufgrund [von] Intransparenz ist es der Klimaschmutzlobby gelungen, ihre Interessen als die Interessen aller zu verkaufen.
Das klingt schockierend. Aber tatsächlich haben finanzstarke Lobbyverbände und Branchen häufig bessere Zugänge zu wichtigen Politker:innen.
Doch nicht nur die Expert:innen warnen vor den Folgen solcher Ungleichgewichte und unkontrollierter Lobbyarbeit. Auch die Bevölkerung wünscht sich weniger bzw. transparenteren Lobbyeinfluss in der Politik. Laut einer Umfrage der Organisation Abgeordnetenwatch.de halten
Ein Demokratie-Update muss diese Transparenz schaffen. Dazu braucht es in erster Linie ein Lobbyregister, das Einflussnahmen von Interessenvertreter:innen offenlegt. Öffentlich einsehbare Kalender, in denen Treffen von Politiker:innen mit Lobbyverbänden verzeichnet werden, könnten zusätzliche Kontrollmöglichkeiten schaffen. Darüber hinaus können wir die Gefahr finanzieller Einflussnahmen reduzieren – indem wir
So könnten wir als Wähler:innen sichergehen, dass Politiker:innen wirklich nur uns verpflichtet bleiben. Denn dort, wo Grenzen zwischen Politik und lukrativen Jobs in der Privatwirtschaft nahezu fließend verlaufen, droht die parlamentarische Demokratie zu einem Verwaltungsapparat von Macht, Geld und dem Gestaltungswillen einer politischen Elite zu verkommen.
2. Repräsentation: Überaltert, vorwiegend männlich, elitär – ist das schon alles?
Zwar sollen Abgeordnete im Bundestag das ganze Volk vertreten. Aber ein genauerer Blick auf die
In höheren politischen Positionen nimmt die Diversität noch weiter ab. Stattdessen zeigen sich zahlreiche blinde Flecken. Dadurch bleiben viele Perspektiven und Lebensrealitäten bei politischen Entscheidungen außen vor. Eine Politik, die das Beste für alle im Blick hat, kann aber nur dann entstehen, wenn möglichst viele Perspektiven einbezogen werden.
Es braucht andere, neue, vielfältige Menschen in der Politik – mit Visionen, Kampfgeist und Begeisterung.
Aber es kann noch mehr passieren: Parteien könnten sich mithilfe sogenannter »Neuenquoten« dazu verpflichten, bei Wahlen Listenplätze für Menschen zu reservieren, die neu in den Politikbetrieb kommen. So würden sich Parlamente wie der Bundestag diverser zusammensetzen. Zusätzlich können Parteien eine maximale Anzahl von Jahren festlegen, die Politiker:innen bestimmte Ämter ausüben dürfen.
3. Wahlalter: Gebt der Zukunft eine Stimme!
Gesprächsrunden, Talkshoweinladungen und Jugendstudien reichen nicht: Solange junge Menschen keine reale politische Macht haben, wird sich nicht viel verändern.
Doch wir sollten auch der Zukunft eine Stimme geben und das Wahlalter senken. Ein Wahlalter von 16 Jahren auf Landes- und Bundesebene wird
Radikal gedacht wäre selbst ein Wahlrecht ab Geburt möglich. Ab 14 Jahren würden junge Menschen in Wähler:innenverzeichnissen als Wahlberechtigte geführt – und wer davor schon wählen will, kann sich registrieren lassen. Das stößt natürlich auf Gegenwind. Aber die meisten Gegenargumente laufen ins Leere. Einer der populärsten Einwände ist, dass jungen Menschen die nötige Reife fehle, um ihr Wahlrecht verantwortungsbewusst auszuüben. Diese Behauptung ist jedoch weniger ein Argument dagegen, das Wahlalter abzusenken, als eines für frühere politische Bildung und Möglichkeiten für Schüler:innen, jederzeit mitzubestimmen, zum Beispiel im Bildungssystem. Denn das Interesse daran, politisch mitzureden, entsteht nicht über vermeintliche Reifungsprozesse, sondern vor allem über reale Teilhabe. Nur ein Wahlalter ab Geburt gewährt diese Mitsprachemöglichkeiten konsequent und macht sie abhängig von der eigenen Entscheidung des jungen Menschen, teilhaben zu wollen.
4. Rahmenbedingungen: Politik von unten möglich machen!
Um sich außerhalb von Wahlen und Parteien politisch zu beteiligen, gibt es bislang wenige mächtige Instrumente. Die x-te Petition zu unterschreiben fühlt sich nur in seltenen
Statt Pseudopartizipation auszuüben, könnten wir in
Bisherige Experimente, zum Beispiel in Frankreich und Irland, zeigen: Wenn machtpolitische Erwägungen und Lobbyeinflüsse wegfallen und stattdessen repräsentativ ausgewählte Bürger:innen über ihre politische Zukunft beraten, sind die Ergebnisse erstaunlich progressiv. So haben im katholisch geprägten Irland die Bürger:innen auf Vorschlag eines
In Frankreich hat der Bürger:innenrat Convention Citoyenne pour le Climat ebenfalls radikale Vorschläge zur Bewältigung der Klimakrise geliefert, beispielsweise ein Tempolimit von 110 Stundenkilometern auf Autobahnen, ein Verbot von Inlandsflügen ab 2025 sowie eine Klimasteuer für Wohlhabende. Auch in Deutschland finden Bürger:innenräte immer
Wichtig ist, dass Bürger:innenräte auch tatsächlich politisch Einfluss nehmen können und nicht nur ein Instrument politischer Öffentlichkeitsarbeit sind. Wenn das gelingt, können wir Politik »von unten« möglich machen – und damit an den Festen des Status quo rütteln.
5. Zeitenwende: Auf zu einem anderen Politikstil!
Für viele dieser strukturellen Veränderungen fehlen aktuell noch Mehrheiten in den Parlamenten. Aber die Demokratie hängt nicht allein an Strukturen. Sie ist angewiesen auf Menschen, die für Veränderung brennen, die Vertrauen schaffen, die mit ihren Forderungen und Visionen andere Menschen aktivieren und gangbare Wege in die Zukunft zeichnen. Deshalb brauchen wir Politiker:innen, die bereit sind, schon jetzt voranzugehen.
Jede:r einzelne Abgeordnete kann heute schon Veränderungen anstoßen: Politiker:innen können auf Nebentätigkeiten verzichten. Sie können sich dazu verpflichten, Lobbyist:innen großer Konzerne weniger und stattdessen zivilgesellschaftlichen Bewegungen mehr Raum zu geben. Sie können ihren Bürger:innensprechstunden mehr Beachtung zollen – dabei stehen dann aber auch wir Bürger:innen in der Pflicht, diese Gesprächsangebote zu nutzen und für unsere Anliegen wahrzunehmen.
Politiker:innen können weiter offenlegen, aus welchen Gründen sie mit wem sprechen, wie ihre Finanzen aussehen, warum sie wie abstimmen. Sie können Vorbilder für einen anderen Politikstil sein – und damit Beispiele schaffen, wie Politik anders funktionieren könnte. Der fraktionslose Bundestagsabgeordnete Marco Bülow hat einen ersten Vorstoß in diese Richtung gewagt und einen Verhaltenskodex für Bundestagsabgeordnete entwickelt. Darin verpflichtet er sich unter anderem, Einkünfte und Vergünstigungen offenzulegen, alle Treffen mit Interessenvertreter:innen transparent zu machen und auf
Wer ein Demokratie-Update fordert, muss die Machtfrage stellen
Ein Demokratie-Update, das die systemischen Stellschrauben angeht, wird nicht durch einen Klick, eine Abstimmung oder ein paar Briefe an Abgeordnete zustande kommen. Vorschläge zur Veränderung der Demokratie kommen zwar konsensfähig daher, rütteln aber in Wahrheit grundlegend am Status quo. Die Demokratie weiterzuentwickeln heißt, als Bürgerin oder als Bürger die Macht zurückzufordern und Veränderungen selbst in die Hand zu nehmen. Dafür müssen wir ein Gegengewicht zu den großen Budgets und Kontaktlisten der Lobbyverbände aufbauen. Dieses Gegengewicht heißt: politischer Druck. Nur dann, wenn dieser groß genug wird – und zwar bald, noch vor der Bundestagswahl in einem Jahr –, hat das Demokratie-Update eine Chance.
Die gesellschaftlichen Grundlagen dafür sind gelegt. Es rumort. In immer kürzeren Abständen entstehen Bewegungen, die Veränderungen einfordern. Seien es
Gemeinsam können wir es schaffen, bei diesen Themen und bei der Demokratie eine Gegenmacht zu Konzernen, Rechtspopulist:innen und Status-quo-Verteidiger:innen zu bilden. Bist du dabei?
Titelbild: pdaily_