Lockdown 2: »Ich habe gelernt, mit der Zukunftsangst umzugehen«
Wenn es etwas gibt, was du dir 2020 noch anhören solltest, dann ist es die Musik der Sängerin Bernadette La Hengst. Sie macht Pop gegen rechts und singt über all das, was uns gerade umtreibt – bedingungsloses Grundeinkommen, Klimawandel, Systemrelevanz und Impfgegner:innen.
18. Dezember 2020
– 20 Minuten
Jasper Kettner
Hallo, ich bin Katie Gallus und das ist »zeigen was geht«. Denn: Kritisieren kann jede:r, aber wer hat die Lösung? Wir treffen Menschen, die etwas bewegen möchten.
Heute spreche ich mit der »Agitations-Chanteuse« Bernadette La Hengst über die Kunst in Pandemiezeiten und darüber, warum sie auch gegen Coronaleugner:innen musikalisch Front macht.
Vor 30 Jahren ging es mit ihrer Musikkarriere in einer Frauenpunkband politisch los. Heute ist sie Solokünstlerin und komponiert Musik für Theaterprojekte. Gesellschaftskritische Themen bringt sie mit den Menschen auf die Bühne, die sie auch angehen: Im Theater Freiburg sang sie mit einem »Bettlerchor«, der aus ehemaligen Obdachlosen bestand, für soziale Gerechtigkeit. Im Theaterstück »Mehrheitsgesellschaft« trafen Senior:innen mit Fluchtgeschichte auf geflüchtete Jugendliche aus dem Irak, Syrien und Nigeria. Im Jahr 2018 sang sie auf der Bühne vor über 200.000 Menschen bei der großen »Unteilbar«-Demo.
Das Besondere: Ich spreche mit meinen Gästen nicht in einem Studio, sondern gehe mit ihnen zu Orten, die sie umtreiben. Deshalb treffe ich Bernadette in Berlin, im Haus der Statistik. Wer schon einmal auf dem Alexanderplatz stand, kennt den länglichen Gebäudekomplex mit den ausgeschlagenen Fenstern, das in der DDR als Statistikamt gebaut wurde. Hier probt auch Bernadettes »Chor der Statistik«, dem sich jede:r anschließen kann.
Podcast im Hinterhof kann losgehen: Katie moderiert, Juliane nimmt auf und derjenige, den du nicht siehst, aber hörst – Benjamin Moraru –, knipst fleißig Fotos.Das Haus der Statistik erhebt sich gleich neben dem Alexanderplatz. 1970 fertiggestellt, war es das Statistikamt der DDR. Seit 2008 stand es leer, bis eine Kunst- und Kulturinitiative dem klobigen Bau wieder Leben einhauchte. Auf dem Dach prangt jetzt der Schriftzug: Allesandersplatz.Im Haus der Statistik wurden auf den bis zu 10 Stockwerken die Fenster ausgeschlagen, damit herunterfallendes Glas keine Passant:innen verletzt.Mood 2020? Warum diese Skelettattrappe über den Hinterhof wacht, haben wir nicht herausgefunden.
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Weil einige von euch lieber lesen als hören, bereiten wir den Podcast hier als bereinigtes Transkript auf. Heute lohnt sich das Zuhören aber doppelt und 3-fach, denn Bernadette La Hengst singt für uns. Auch Katie und Produzentin Juliane müssen am Ende musikalisch abliefern (und ihr auch). Übrigens: Diesen und andere Perspective-Daily-Podcasts kannst du auch in deinem Lieblingswebplayer bei Spotify, iTunes und vielen anderen Kanälen abonnieren.
Bernadette La Hengst stimmt uns im Podcast mit ihrem Lied »Grundeinkommen Liebe« ein: »Armut macht das Leben süß, süß-sauer wie ein Abschiedskuss und bitter wie Medizin. Die Krise hat mich in der Hand und fuhr mich beinahe an die Wand, nur fehlte mir das Benzin«»Mein Portemonnaie ist immer leer, doch irgendwo krieg ich immer was zu essen her, ich bin ein Meister der Improvisation … Die Liebe ist wie freie Kunst, ich glaub nicht ans Geld, ich glaub an uns und unsere kreative Depression. Ich habe nie das, was ich brauch jenseits von diesem Geldkreislauf, mein Leben ist ein Skigebiet. Im Slalom fahr ich durch die Welt, ich suche Liebe auch ohne Geld und singe dir dieses Lied«
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Katie Gallus:
Bernadette, wie geht’s dir in diesen Zeiten der Pandemie?
Bernadette La Hengst:
Der zweite Lockdown fühlt sich nicht ganz so schlimm an wie der erste, muss ich sagen. Ich habe mich an verschiedenste Dinge gewöhnt, die ich tun kann. Ich bin nicht untätig. Ich denke mir viele Videoformate und neue Sachen aus. Aber auch die Zeit dazwischen finde ich total wichtig.
Zwischen der vielen Arbeit habe ich viel Freizeit zur Verfügung. Ich wohne mit meiner Tochter zusammen und wir verbringen viel gemeinsame Zeit mit Filmegucken, Bücherlesen, Joggen, Yoga oder Tischtennis. Es ist besser, nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, was man sonst tun könnte, sondern den Moment der Entschleunigung tatsächlich wahrzunehmen. Auch wenn es schwerfällt.
Das wollte ich gerade nachfragen. Fällt dir das leicht, runterzukommen, runterzufahren und diese Stille zu genießen?
Bernadette La Hengst:
Beim ersten Lockdown fiel es mir sehr schwer, mit meiner Zukunftsangst umzugehen. Was, wenn keine Aufträge mehr kommen oder die ganzen Coronahilfen ausgeschöpft sind? Ich kann jetzt gerade ein bisschen besser damit umgehen. Und das finde ich positiv. Ich schaue jetzt anders in die Zukunft, in der ich nicht die ganze Zeit unterwegs bin. Ich habe gerade meine Steuererklärung 2019 gemacht. Da habe ich diesen riesigen Stapel an Zugtickets gesehen. Letztes Jahr war ich ständig mit der Bahn unterwegs, weil ich die meisten Projekte in anderen Städten gemacht habe. Das fällt jetzt gerade weg. Und das kann auch von Vorteil sein – also zu Hause statt weg zu sein.
Wir sind hier gerade an einem besonderen Ort. Früher war es die Zentralverwaltung für Statistik der DDR, heute heißt es Haus der Statistik. Warum wolltest du uns hier treffen?
Bernadette La Hengst:
Weil das für mich ein ganz wichtiger Ort ist. Seit anderthalb Jahren probe ich hier mit meinem »Chor der Statistik«, der im Auftrag von Raumlabor Berlin gegründet wurde – die wiederum ein Teil der Initiative Haus der Statistik sind. Es ist einer der letzten Freiräume in Berlin, mitten im Zentrum neben dem Alexanderplatz.
Es wurde zum »Allesandersplatz« umgedeutet, was in großen Leuchtbuchstaben auf dem Dach steht. Jetzt wird hier ausprobiert, wie man anders leben und arbeiten könnte.
Wir, diese Initiative, sind verschiedenste Künstler:innen, kollektive und soziale Netzwerke, die sich den Ort geschnappt haben und ihn beleben, um auszuprobieren, wie das in Zukunft aussehen könnte.
»Wir können nicht alle ständig unter uns bleiben«
Klingt wie ein spannender Ort. Es ist wie ein Ökosystem für Kunst und Kultur und das Kreativsein. Was ist für dich das Spannende daran?
Bernadette La Hengst:
Dass es unkommerziell ist und wir hier wirklich experimentieren können. Es sind keine Kulturorte, die ein Publikum brauchen, damit sie sich selbst tragen können. Hier gibt es Ateliers, eine Fahrradwerkstatt, Umsonstläden, Tauschgeschäfte oder kleine Ausstellungen von Künstler:innen, die sonst keine Galerien finden.
Wir gehen nachher noch zum leeren Autoscooter im Hof. Da fanden im Sommer viele Theaterstücke, Tanzvorführungen und Performances statt. Anfang der 90er war das in einer Stadt wie Berlin normal. Hier fühle ich mich ein bisschen zurückgebeamt in diese Zeit, in der es noch Freiräume, Leerräume gab, die einfach von Künstler:innen besetzt wurden, die damit nicht in erster Linie kommerziellem Erfolg nachgelaufen sind. Das war gut für die ganze Stadt.
Katie Gallus: Bernadette, du wirst in manchen Interviews als »Agitations-Chanteuse« vorgestellt. Was versteckt sich hinter dem Titel?Bernadette La Hengst: Ehrlich gesagt hab’ ich mir den Ausdruck selbst ausgedacht, weil ich immer wieder auf der Suche danach war, was ich überhaupt bin. Eigentlich bin ich Popmusikerin, aber mit Pop verbindet man natürlich erst mal Mainstreampop ohne allzu tiefe Botschaft. Beim Chanson hingegen sind die Texte wichtig. Und »Agitation«, weil ich schon seit vielen Jahren politische Aktivistin in verschiedenen Bereichen bin. Das miteinander zu verbinden passt, glaube ich, ganz gut.Katie Gallus: Wie verbindest du deine politischen Interessen und deinen Aktivismus mit dem, was du als Kreative umsetzen möchtest?Bernadette La Hengst: Die Welt kann, sie muss in meine Kunst einfließen, sonst wäre das für mich kein künstlerischer Umgang mit dem Leben. Wenn ich nur über meine kleinen Geschichten erzählen würde, wäre mir das zu langweilig. Ich finde Inspiration in der Welt, in der Migration und in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Menschen.Bernadette La Hengst: Das findet sich auch hier im Haus der Statistik wieder: Die Diversität der Stadtgesellschaft – oder Dorfgesellschaft – ist hier ganz gut abgebildet. Wir können nicht alle ständig unter uns bleiben. Das macht eine Stadt unlebendig. Wenn die Armen aus der Innenstadt vertrieben werden, genau wie Menschen mit Migrationshintergrund, bleiben alle unter sich. Und das ist für ein Zusammenleben auf Dauer nicht gut.
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Wo findest du als Kreative mehr Inspiration: Im Schönen, im Miteinander und in den Fragen, die sich daraus ergeben, oder mehr in der Krise, den Brüchen und den Reibungen?
Bernadette La Hengst:
Ganz klar in den Brüchen und in dem, was nicht funktioniert. Auf der anderen Seite bin ich niemand, der sich einfach nur über Dinge beschwert, sondern ich mache viel partizipative Kunst und musiziere mit anderen zusammen. Ich versuche Selbstermächtigung zu lehren, was nicht immer so einfach ist.
Mit größeren Gruppen, wie dem Chor der Statistik oder Theaterprojekten mit vielen Leuten unterschiedlicher Hintergründe, verbringe ich längere Zeit und versuche herauszufinden: Was sind deren Geschichten und was verbindet sie mit meiner Weltanschauung? Wie kann ich das in einem Lied formulieren? Im Chor ist das Liederschreiben ein demokratischer Prozess. Denn jede:r kann eine Textzeile beisteuern, die später alle mitsingen.
Das ist auch etwas, Außer, es geht um Sexismus, Rassismus und Homophobie.
Wie kann Kunst in diesen Zeiten auch Türen öffnen auf einem politischen Parkett?
Bernadette La Hengst:
Jetzt gerade ist das natürlich sehr schwierig, weil alle Häuser geschlossen sind. Das ist eines der großen Probleme, gegen die sich viele Künstler:innen jetzt wenden: Dass die U-Bahnen, die Bahnen und bis vor Kurzem die Kaufhäuser immer noch voll waren, die Theater mit den besten Hygienekonzepten aber schon lange komplett geschlossen sind. Ich glaube oder ich hoffe, dass sie im Januar wieder geöffnet werden, weil das einfach Orte der Auseinandersetzung sind.
Das bedingungslose Grundeinsingen
Vermisst du das gerade, mit Menschen in einem Raum zu stehen und einfach Musik zu machen?
Bernadette La Hengst:
Ja, das vermisse ich sehr. Aber ich habe mit meinem Freund eine Band gestartet und wir gehen jetzt ab und zu in den Proberaum. Ich suche mir so meine Lücken dazwischen.
Mit dem Chor der Statistik proben wir jetzt einmal die Woche online auf der Videokonferenzplattform Jitsi. Ich singe zu Hause und die anderen singen bei sich zu Hause mit. Wir versuchen kreativ mit dieser Distanz umzugehen, die keine soziale Distanz, sondern nur eine körperliche ist.
Machst du auch etwas, um andere Künstler:innen zu unterstützen?
Bernadette La Hengst:
Ich versuche in den Aufträgen andere Musiker:innen, Videograf:innen usw. einzubinden, die momentan nicht so viele Aufträge bekommen. Das ist im Moment alles, was ich tun kann.
Ortswechsel: Im Hinterhof des Hauses der Statistik thront ein Autoscooter, wie es ihn zuhauf auf Jahrmärkten gibt. Die Boxautos sind verschwunden.Auf dem Weg dahin durfte sich Juliane im Rückwärtslaufen testen, während Katie und Bernadette weiterplaudern.
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Dieser leere Autoscooter ist der Ort für den Chor der Statistik. Statistik – da habe ich gleich wieder Nummern und Zahlen im Kopf. Singt ihr über Mathematik? Wie habt ihr euch gefunden?
Bernadette La Hengst:
Wir haben mit dem Chor bei der Eröffnung der »Berlin Art Week« angefangen. Und da hatte ich die Idee, ihn den Chor der Statistik zu nennen. In einem Lied »We are the brain«, das ich geschrieben habe, bezeichnet sich der Chor als Rechenzentrum der Stadt. Darin kommt die Zeile vor: »Wir sammeln Menschen anstatt Daten«
Wir sind quasi die diverse Stadtgesellschaft, die sich sonst vielleicht in Statistiken abbilden würde. Das war der Anspruch oder die Idee des Chors. Wir singen Lieder über die Zukunft der Stadt und des Hauses der Statistik. Eins heißt »Die Häuser denen, die drin wohnen«. Das ist eine alte Parole von Hausbesetzer:innen aus den 70er-Jahren, die wir mit neuem Inhalt gefüllt haben. Oder Lieder von mir, die es schon gab: »Wem gehört die Parkbank, wem gehört die Bank, wem gehört der Park, in dem ich ein Zuhause fand«
Was war das letzte Lied, das ihr hier im Autoscooter mit dem Chor gesungen oder performt habt?
Bernadette La Hengst:
Das war ein Lied über das Ich bezeichne mich selbst als die bedingungslose Chorleiterin des bedingungslosen Grundeinsingens. Das war eine Idee für ein Theaterstück, das ich vor 6 Jahren in den Sophiensälen aufgeführt habe.
Da hatte ich auch einen gegründet und wir haben behauptet, dass dieser Chor aus 15 Leuten seit 5 Jahren ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten hat. Und jetzt feiern wir das Jubiläum. Wir haben das so glaubhaft durch die Geschichten der Chormitglieder verkörpert, dass die Leute aus dem Publikum nachher zu uns gekommen sind und gesagt haben: »Und wieso kann ich da nicht mitmachen? Wer hat das bezahlt?«
Diesen Chor habe ich dann in verschiedenen Städten gegründet. Dadurch wurde mir klar, dass auch ein Chor eine Art von Bedingungslosigkeit haben muss, um wirklich offen zu sein. Bei mir im Chor können alle mitsingen, auch ohne Notenkenntnisse. Die einzige Bedingung ist die Lust am Singen.
Es ist wieder wie in der Gesellschaft: Die schwächeren Sänger:innen werden von den stärkeren mitgetragen, und dann gibt es ein großes Bild oder einen großen Klang.
Du bist nicht nur Solokünstlerin, sondern setzt dich auch dafür ein, dass es viele Chöre geben kann und dass sie gesehen werden. Warum ist dir das Chorsingen so wichtig?
Bernadette La Hengst:
Weil da ein ganz anderes Gemeinschaftsgefühl herrscht als in einer kleinen Band, in der jede:r nur sein Instrument hören will. Die Tradition der Chöre ist ein bisschen eingeschränkt im Repertoire. Viele Chöre singen Coverversionen – das Beste aus den 60ern, 70ern, 80ern bis zu den 2000ern. Da ist immer so ein gewisser Rückblick, eine melancholische Sentimentalität drin.
Das kann auch schön sein. Aber ich möchte gern politische Chöre, die ihre Stimme erheben, die etwas singen, was mit ihrem Leben zu tun hat, und Forderungen stellen. Das macht meine Chöre aus. Da ist ein politischer Anspruch dahinter.
Der Chor der Statistik probt momentan nicht im Autoscooter, obwohl der Mindestabstand dort auch eingehalten werden könnte, sondern online. Eine Anwesenheitspflicht gibt es nicht. Jede:r kann mitmachen.Als es noch Publikum gab …Der erste Auftritt des Chors bei der Berlin Art Week 2019.
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Würdest du sagen, in einem Chor gibt es viel mehr Potenzial, um Themen kreativ umzusetzen?
Bernadette La Hengst:
Jein. Es besteht auch die Gefahr, dass man im Chor alles gleich macht, weil es einen Chorleiter oder eine Chorleiterin gibt, die entscheiden, was gesungen wird. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Die große Homogenität und die große Masse eines Chores können auch dazu führen, dass alle nicht mehr ins Denken kommen, sondern nur noch dem:der Chorleiter:in folgen.
Ich versuche das immer wieder aufzubrechen, indem ich die Leute befrage und auch mal Texte von ihnen reinbringe. Wobei es schon eine echte Herausforderung ist, mit 30 Leuten über einen Text zu diskutieren.
Schult dich das heute, nach 30 Jahren im Business, noch immer in Kritikfähigkeit?
Bernadette La Hengst:
Ja, wahrscheinlich. Ich glaube, wenn man nicht mehr kritikfähig ist, hat man sich gemütlich eingerichtet in einer Nische – und Nischen sind nicht so gut für die Kunst. Oder sagen wir so: Nischen sind gut, wenn man eine gefunden hat, aus der man auch wieder ausbrechen kann.
Ist dieses Chorprojekt für dich auch immer wieder eine neue Herausforderung, um über deinen eigenen Tellerrand zu blicken?
Bernadette La Hengst:
Ja, das kann ich so unterschreiben. Wenn ich Lieder schreibe, ist es nicht so, dass ich weiß, dass es klappen wird. Das Scheitern ist systemimmanent. Es ist immer da. Obwohl ich mir schon in der Vergangenheit selbst bewiesen habe, dass es funktioniert, denke ich jedes Mal wieder: »Hä, wie soll das gehen? Wie soll ich jetzt ein Lied schreiben? Wo soll denn jetzt die Idee herkommen?«
Aber die Auseinandersetzung mit anderen Ideen und einen besonderen eigenen Standpunkt zu finden – ich glaube, das ist immer wieder die Herausforderung, die mich weitermachen lässt.
Die kreativen Freiräume sind weg
Die wirklichen Räume, in denen wir uns reiben, streiten, die Begegnungsräume – die Theater, Konzertsäle – sind weg. Wie geht es weiter? Können wir nach dieser Pandemie, wenn die Räume sich wieder öffnen, überhaupt in so einem Raum streiten? Oder streiten wir in Zukunft nur noch digital?
Bernadette La Hengst:
Das hoffe ich nicht. Mir gibt es nicht so viel Befriedigung, im digitalen Raum zu streiten. Ich brauche schon das Gegenüber direkt vor mir. Ich brauche auch Schweiß und Hitze und Bewegung und physische Energie, die nicht nur ich gebe, sondern vom Publikum zurückkommt.
Wir müssen uns die öffentlichen Räume zurückholen – auf eine andere Art und Weise als nur mit Fressbuden und Kommerzialisierung. Ich glaube auch an die Kraft der ländlichen Räume. Viele meiner Projekte finden auf dem Land statt. Dort merke ich, wie viel Freiraum, wie viel günstiger Wohnraum da ist.
Katie Gallus: Was ist ohne Kunst- und Kulturräume der Klebstoff zwischen uns Menschen?Bernadette La Hengst: Na ja, die Kunst ist nicht ganz weg. Ich glaube, es ist alles immer noch aushaltbar. Die Kunst verschwindet nicht so einfach. Man muss aber auch dafür sorgen, dass die Künstler:innen nicht verschwinden. Es braucht mehr, als sich von einer Soforthilfe zur nächsten zu hangeln und ständig dem Staat beweisen zu müssen, dass das, was man macht – die Kunst und auch die eigene Existenz –, systemrelevant ist.Bernadette La Hengst: Ich glaube immer noch an so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, womit wir alle, nicht nur die Künstler:innen, eine andere Ausgangssituation hätten, um nächstes Jahr mit einer anderen Zuversicht, mit anderen Hoffnungen neu zu starten. Damit würde unsere Arbeit wertgeschätzt werden.
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Gab es denn deiner Meinung nach vor der Coronapandemie genug Wertschätzung für die Kunst, für Künstler:innen?
Bernadette La Hengst:
Ich glaube, dass es vorher schon viel zu wenig Wertschätzung gab. Musiker:innen verdienen kaum noch an verkauften Platten, weil Musik nur noch gestreamt wird. Wir alle haben deshalb auf Livekonzerte gesetzt, um davon zu leben. Die fallen jetzt auch noch weg.
Besuch beim Organisationsteam des Haus der Statistik
Lass uns weiter zur Werkstatt laufen, bevor die Stimmbänder einfrieren, oder? Dort erfahren wir mehr über das Haus der Statistik.
Ortswechsel: In der Werkstatt
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Quelle:
Haus der Statistik
Wir sind im Warmen. Bei mir ist Kim Gundlach, die in der Schaltzentrale für die kreative Nutzung des Hauses der Statistik sitzt. Was ist deine Aufgabe hier?
Kim Gundlach:
Wir bezeichnen uns selbst als Botschafter:innen. Die meisten von uns sind seit 2018 hier. Das war auch das Jahr, in dem die Werkstatt hier vor Ort eröffnet wurde. Wir sind dafür zuständig, dass der laufende Planungsprozess, der im Rahmen des Modellprojekts stattfindet, an die Stadtgesellschaft vermittelt wird. Ein weiterer Punkt sind die Pioniernutzungen, die hier stattfinden.
Stichwort »Botschafter:innenrolle«: Welche Botschaften wollt ihr mit diesem Projekt übersenden? Und was ist die Pioniernutzung?
Kim Gundlach:
Als Botschafter:innen versuchen wir zusammen mit der Nachbarschaft und der Stadtgesellschaft herauszufinden, was hier eigentlich entstehen soll. Die Grundsätze des Projekts sind nach wie vor, dass es ein solidarisches und gemeinwohlorientiertes Quartier für die Nachbarschaft und die Stadtgesellschaft werden soll.
Zu den Pionier:innen: Die Bestandsgebäude werden in den nächsten Jahren saniert. Für uns war von Anfang an wichtig, dass diese Gebäude, die so lange leer standen, jetzt der Stadt zurückgegeben bzw. mit Menschen aus der Stadt zusammen gestaltet und aktiviert werden. Seit Sommer 2019 gibt es in ausgewählten Bereichen im Erdgeschoss sogenannte Pioniernutzungen. Das sind Projekte, Initiativen, Vereine aus Berlin, die hier aktiv werden.
Kim Gundlach ist eine von vielen, die sich um die Wiederbelebung des Hauses der Statistik kümmert.
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Quelle:
Andrei-Beniamin Moraru
Wenn ich an Stadtplanung denke, funktioniert die eher top-down als bottom-up. Von daher ist es spannend, wie sich neue Ökosysteme und kreative Räume gründen können. Ihr steht abseits vom Alexanderplatz, wo der Kapitalismus bis vor Kurzem noch boomte. Und ihr könntet hier mit euren Hygienekonzepten auch was Schönes gestalten, aber dürft nicht. Macht euch das wütend?
Kim Gundlach:
Es ist mehr als schade. Wir sind auf jeden Fall der Meinung, dass es nicht nachvollziehbar ist, warum zum Beispiel Läden so geöffnet waren, dass sich dort trotzdem große Menschenmassen zusammenfanden, um zu konsumieren, und warum im Kulturbereich so viel schließen musste, obwohl es gute Hygienekonzepte gibt.
Tausend Dank für deine Zeit und ich freue mich auf ganz viele spannende Projekte, wenn nach dem Lockdown wieder mehr Besucher erlaubt sind.
Kim Gundlach:
Danke euch auch für das Gespräch. Schön, dass ihr hier wart.
Ortswechsel: In einem der vielen Ausstellungsräume
Wenn wir über Wertschätzung sprechen, muss ich mir auch an die eigene Nase fassen. Wann war ich das letzte Mal im Theater? Das ist schon eine Weile her und momentan ist ja alles dicht.
Bernadette La Hengst:
Ja, aber es gibt mittlerweile auch Theaterfilme oder Livestreams. Ich gucke jetzt gezielt, was mich interessiert in den Theatern – also in den Sophiensälen oder anderen Berliner Theatern. Da suche ich mir gezielt Stücke raus und habe auch schon Tickets gekauft.
Ich selbst als Künstlerin habe das Gefühl, dass alle genug haben von diesen Onlinestreamformaten. Aber ich versuche mich da reinzudenken. Ich hatte selbst vor Kurzem 2 Livestreams. Einen, für den das Publikum bezahlen musste, in einem Hamburger Club. Da gingen dann tatsächlich nur 44 Tickets weg. Das hat mich auch sehr gewundert. 4 Tage später hatte ich ein Live-on-air-Konzert im Deutschlandfunk Kultur. Das war umsonst und viel mehr Leute haben sich das angehört.
Ich kann das auch verstehen. Nicht alle haben viel Geld. Aber es ist schon wichtig, ab und an etwas für die Kunst auszugeben.
Glaubst du, die Menschen wertschätzen Kunst und Kultur mehr – jetzt, da sie nicht mehr so zugänglich ist?
Bernadette La Hengst:
Ich befürchte, dass sich die Leute ganz schnell daran gewöhnen, dass Kunst umsonst ist. Beim Streamen von Musik bezahlt man zumindest einen monatlichen Beitrag. Das könnte ich mir auch für Konzerte vorstellen: Einen Monatsbeitrag oder einen Jahresbeitrag zu bezahlen und dafür in bestimmten Clubs Konzerte oder Theaterstücke anschauen zu können.
Kommen wir zu deinem Verein, Die Vielen. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Bernadette La Hengst:
Die Vielen haben sich vor mittlerweile 3 Jahren aus einer kleinen Gruppe von Aktiven in der Berliner Kulturlandschaft gegründet, hauptsächlich Theatern.
Das war zu der Zeit, als die AfD stärker wurde und in den Landesparlamenten dauernd Anfragen stellte: Warum wird dieses Stück gefördert? Darunter waren Stücke, die Menschen mit Migrationshintergrund betrafen oder sich kritisch mit Pegida auseinandersetzten. Dann begannen die von der sogenannten Identitären Bewegung, Theaterstücke zu stürmen und ihre Parolen auszurollen und das dann ins Internet zu stellen.
Wir wollten uns vernetzen und uns solidarisieren. Daraufhin schlossen sich Theaterhäuser und Kulturinstitutionen gegen Angriffe auf die Kunstfreiheit zusammen und gingen mit einer großen Gruppe von Menschen auf die Straße.
Wir haben seitdem viele Demos organisiert, mit unseren silbernen Rettungsdecken, die wir als Erkennungszeichen zu Fahnen umfunktioniert haben. Ich habe auch ein Lied geschrieben, das »Wir sind Die Vielen« heißt.
Es ist nicht nur eine finanzielle Gefahr, sondern auch rechtes Gedankengut, das die Kunst stören will. Was macht euch dagegen stark?
Bernadette La Hengst:
Natürlich empfinden die ganzen Coronaleugner:innen und Verschwörungsleute auch eine Art der Gemeinschaft, dieses Gefühl von »Wir gegen den Rest der Welt«. Nur basiert das auf einem inhumanen Menschenbild. Es sind viele Rassist:innen und Nazis, die versuchen, diese Bewegung mit antisemitischen und rassistischen Parolen einzunehmen.
Wir schöpfen aber genauso Kraft daraus, dass wir nicht allein für ein offenes Weltbild und offene Grenzen stehen; wir stehen dafür, dass Europa das Asylrecht auch im Lockdown nicht vergisst, und für Werte, für die die Kunst eigentlich sowieso einstehen sollte: Diversität und eine interkulturelle Gesellschaft.
Unser Slogan ist: Solidarität statt Privilegien. Es ist wichtig, die eigenen Privilegien zu erkennen. In diesem Lockdown spreche ich deshalb nicht nur für mich, sondern auch für andere Künstler:innen und Theater. Wir müssen andere mitdenken. Deshalb hoffe ich, dass sich jetzt für die Kulturlandschaft neue Wege öffnen: Ich wünsche mir eine Art Gewerkschaft der Kultur. Und dass sich daraus entwickelt, dass wir, dass Kunst und Kultur tatsächlich mehr Relevanz oder sogar Systemrelevanz bekommen.
Oft scheitert es an der Kommunikation. Wie ist es bei euch in der Kreativ- und Kulturwirtschaft?
Bernadette La Hengst:
Das ist total schwer. Ich bin eigentlich auch keine Gläubigerin von Gewerkschaften. Die Vielen sind für mich eine schöne Form des gemeinsamen Aktivismus. Die Basis des Ganzen sind Selbstorganisation und Selbstermächtigung. Das ist wesentlich besser als ein durch und durch strukturiertes, straffes Gewerkschaftsgebilde.
Ich möchte noch mal kurz über die Coronademos mit dir sprechen. Wie treibt dich das momentan um, wenn du Coronaleugner:innen auf der Straße hörst und siehst, was machst du dagegen?
Bernadette La Hengst:
Ich war im August auf der großen Demo der Coronaleugner:innen. Der Platz, auf dem sich die Gegendemonstration traf, war aber relativ klein und abseits. Wir wurden quasi gar nicht wahrgenommen. Ich bin dann mit meinem Fahrrad und mit einem Schild an der Hauptdemo entlanggefahren und habe versucht, mit Leuten zu diskutieren. Aber die Diskussion war nicht möglich.
Viele wollten einfach nicht sehen, dass sie mit Nazis und marschieren.
Was macht man aber mit den Leuten, die tatsächlich verurteilte Neonazis sind? Wieso lässt man die überhaupt auf der Straße reden? Wieso wird das nicht sofort von der Polizei verboten? Und wieder die Frage: Wieso müssen die Theater dichtmachen, wenn 2.000 Menschen auf der Straße ohne Abstand und ohne Maske demonstrieren dürfen? Da wird einfach mit zweierlei Maß gemessen. Das ist mir absolut unverständlich und muss hart verurteilt werden
Singen gegen den Klimawandel
In deinem Lied »I’m an Island« geht es um den Klimaschutz, bei dem das Tempo auch nicht ist, wie es sein sollte.
Bernadette La Hengst:
Es ist wahnsinnig frustrierend. Was soll ich sagen? Ich war sehr froh, dass die Fridays-for-Future-Bewegung entstanden ist. »I’m an Island« habe ich mit 200 Kindern und Jugendlichen aus Bonn gesungen, bei der Eröffnung der UN-Klimakonferenz. Für den Videodreh haben wir eine Art Klimademo organisiert, also einen kleinen Vorläufer der Fridays-for-Future-Demos.
Ich habe gehofft, dass sich dadurch tatsächlich etwas beschleunigen würde bei der Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaabkommens. Aber das ist leider immer noch nicht abzusehen. Natürlich ist die Lobby der Wirtschaft noch stärker als die Lobby der Klimaaktivist:innen.
Du warst viel unterwegs in den letzten 30 Jahren. Zum Beispiel in Beirut, Madrid und Casablanca. Dort hast du zusammen mit Fremden Liebeslieder geschrieben. Warum gerade Liebeslieder?
Bernadette La Hengst:
Ich glaube, es ist einfacher, ein Liebeslied zu schreiben, als ein Lied über eine Utopie. Sie sind wie ein Türöffner.
In Madrid habe ich ein schönes Lied mit einer 14- oder 15-jährigen jungen Sängerin geschrieben. Die kam mit ihrer Ukulele an meinen Bus, in dem ich mein kleines Studio und davor ein kleines Café eröffnet hatte – um die Leute mit Tee und Keksen anzulocken. Dieses Mädchen kam also mit ihrer Freundin, ihrer Partnerin, in die sie verliebt war, und erzählte mir die Geschichte, wie die beiden sich kennengelernt haben. Das war total emotional und wahnsinnig berührend. Sie sang so unglaublich schön und kam auch noch ein paar Tage wieder. Wir haben das Lied dann im Bus aufgenommen.
Danke für deine Zeit und die Führung im Haus der Statistik. Und eine letzte Frage: Was nimmst du dir für 2021 vor? Was möchtest du gern sehen?
Bernadette La Hengst:
Volle Konzerte und dass alles, was ich beantragt habe, umgesetzt werden kann.
Zum krönenden Abschluss bringt Bernadette La Hengst Katie, Juliane und euch einen Kanon bei. Höre den Podcast, um das Lied »Senkung der Arbeitsmoral« mitzusingen. Achtung, Ohrwurm!
Katie Gallus ist Geographin und Moderatorin mit Leidenschaft für Zukunftsthemen, den schwäbischen Familienbauernhof und hat stets Fernweh. Neben ihrer Tätigkeit als freie Journalistin unter anderem bei der Deutschen Welle, SWR (ARD) und beim ZDF arbeitete sie für die Vereinten Nationen in New York City, recherchierte im georgischen Kaukasus, Ägypten, Kirgistan und Brasilien, lebte in Zentralkamerun und arbeitete in Sierra Leone mit Filmemachern. Katie ist eine gefragte Moderatorin zu digitalen Ideen und Globalisierung, der Entwicklungszusammenarbeit sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen.
von
Juliane Metzker
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.