Der Fall Nawalny: Sind die deutsch-russischen Beziehungen jetzt endgültig vergiftet?
Dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker folgen Rufe nach neuen Sanktionen und Streit um die Erdgaspipeline Nord Stream 2. Haben jetzt auch die »Russlandversteher« genug?
Es ist unglaublich. Ich habe einen meiner Mörder angerufen und mit ihm gesprochen. Eine der erstaunlichsten Unterhaltungen, die ich je hatte.
Das schreibt der russische Oppositionspolitiker
Das 33-minütige Video mit dem Titel »Ich habe meinen Mörder angerufen, er hat gestanden«, veröffentlicht am 21. Dezember 2020, wurde inzwischen mehr als 23 Millionen Mal angeklickt. Nawalny ist kein Schauspieler, es dürfte aber doch die Rolle seines Lebens gewesen sein: In dem Gespräch gibt er sich als Mitarbeiter des russischen Sicherheitsrates aus, um das Vertrauen des Mannes am Telefon,
Der Stunt klappt, Kudrjawzew erzählt ausführlich. An der Innenseite der blauen Unterhose Nawalnys sei Gift angebracht gewesen. Und ja, die Operation wäre missglückt: Nawalny habe den Anschlag überlebt, weil der Flug, auf dem er sich damals befand, nicht lange genug gedauert habe – der Pilot entschied sich für eine Notlandung.
Das Video machte sofort Schlagzeilen.
All das klingt nach einer guten Storyline für einen neuen Tarantinofilm, der den Titel »Der Staat geht uns an die Wäsche« tragen könnte. Doch leider sprechen wir hier von tatsächlichen Ereignissen. Und diese blieben keine russische Angelegenheit, sondern wirken sich auch auf die Beziehungen zu Deutschland aus.
Die deutsch-russischen Beziehungen: Vergiftet?
Doch beginnen wir von vorne. Am 20. August 2020 war Alexej Nawalny auf einem russischen Inlandsflug zusammengebrochen und nach einer Notlandung zunächst im sibirischen Omsk behandelt worden. 2 Tage später wurde er, in noch kritischem Zustand, zur Behandlung in die Berliner Charité nach Deutschland geflogen.
Mit der Behandlung Nawalnys in der Berliner Charité wurde die Angelegenheit zu einem Zwischenfall in den deutsch-russischen Beziehungen, der in gegenseitigen Beschuldigungen und Sanktionen gipfelte. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte den
Die deutsch-russischen Beziehungen sind nach dem Fall Nawalny mal wieder an einem Tiefpunkt angelangt. Ein Auf und Ab gibt es schon sehr lange, Beziehungen zwischen der germanischen Welt und den Ostslaw:innen
Von »Russlandversteher:innen« und Ignoranz – wie sich an Putin auch in Deutschland die Geister scheiden
In Russland selbst, im Fernsehen und den anderen staatsnahen Medien, die bei der Bevölkerung noch immer populär sind, rief der Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker Nawalny kaum Reaktionen hervor. Das öffentliche Interesse am Giftanschlag auf Nawalny war nicht besonders groß – als sei ein Vorfall wie dieser das Normalste auf der Welt. Das liegt möglicherweise daran, dass nicht alle daran glauben, dass es überhaupt einen Anschlag gab. Laut einer Umfrage
Eine frühere Umfrage des Lewada-Zentrums hatte ergeben, dass die meisten Befragten den Anschlag als eine Provokation der westlichen Sicherheitsdienste oder als eine PR-Kampagne von Nawalny selbst betrachteten. Für sie gab es keine Vergiftung, sondern nur eine Inszenierung.
In Deutschland hat die Vergiftung Nawalnys eine wesentlich größere mediale Resonanz gefunden – und möglicherweise dazu geführt, dass die Deutschen kritischer auf Russland blicken. Bei einer aktuellen
Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel erforscht schon lange die Geschichte der russischen Moderne, des Stalinismus und der russischen Diaspora an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Er erklärt diese kritische Haltung gegenüber Russland als »ideologischen Komplex aus Ignoranz, Sentimentalität, Schuldbewusstsein«. Die Deutschen hätten ein kitschiges und
Abgesehen davon lässt der Fall Nawalny
Ob die »Russlandversteher:innen« ihrem Namen gerecht werden, bezweifelt der Osteuropahistoriker Schlögel. Es ginge in Wirklichkeit um etwas ganz anderes: Wollen wir die Politik Russlands hinnehmen, gar verteidigen, oder aber zurückweisen und Widerstand leisten?
Die Verteidiger:innen Russlands seien häufig Ostdeutsche, erklärt Irina Scherbakowa. Die russische Historikerin, promovierte Germanistin und Bürgerrechtlerin lehrt am Zentrum für Erzählte Geschichte und visuelle Anthropologie der Moskauer Afanassjew-Universität. Sie sagt: »Ostdeutsche haben eine besondere Haltung gegenüber Russland«. Zehntausende DDR-Bürger:innen haben in der Sowjetunion studiert oder gearbeitet, sie kannten sich dort aus und fühlten sich dort manchmal sogar freier als zu Hause in ihrer eingemauerten Republik.
Auch unter den
In ihrem Bemühen, Russland zu verteidigen, versuchen »Russlandversteher:innen« immer wieder, das Handeln von Wladimir Putin zu rechtfertigen. Doch im Jahr 2021 wird das immer schwieriger.
Nord Stream 2 auf dem Prüfstand – hat der Fall Nawalny das Fass zum Überlaufen gebracht?
Ja, Putin hat sich um den Wiederaufbau des Landes ab den 90er-Jahren
Doch dieser Schritt könnte für Putin unbeabsichtigte Konsequenzen haben: Noch nie wurde in Deutschland so heftig über den Bau der Pipeline
Die Entscheidung, das Projekt zu stoppen, müsste sich die bundesdeutsche Außenpolitik jedoch teuer erkaufen, denn das Projekt ist fast fertig. Eine Abkehr von Nord Stream 2 ist eher unwahrscheinlich, denn politische Gründe für einen Stopp der deutsch-russischen Erdgaskooperation hätte es schon früher zur Genüge gegeben: die
Nord Stream 2 ist ein privatwirtschaftliches Projekt, bei dem wir keinen Grund zur Annahme haben, dass es nicht zu Ende gebaut wird. Die Frage ist, wann dies der Fall sein wird. Über die Energiepolitik und Energieversorgung entscheiden die Staaten Europas. Wer ein Ende des Projektes fordert, der muss sich der Konsequenzen bewusst sein: An Nord Stream 2 sind mehr als 100 Unternehmen aus 12 europäischen Ländern beteiligt, etwa die Hälfte davon aus Deutschland.
Doch auch wenn eine völlige Abkehr von Nord Stream 2 unwahrscheinlich ist, nutzt Deutschland diese Drohung doch, um zumindest den Druck auf Russland zu erhöhen und zur Aufklärung im Fall Nawalny
Warum die deutsch-russische Kooperation auch wichtig für das Klima ist
Dass die deutsche Regierung alles dafür getan hat, um das Leben des prominentesten Oppositionspolitikers Russlands zu retten, war nicht nur eine moralisch richtige, sondern auch eine politisch kluge Entscheidung. So konnte Deutschland zeigen, dass es Russland nicht insgesamt feindlich gegenübersteht. Nawalny wird in einer Zukunft nach Putin – und die wird möglicherweise schneller kommen, als manche denken – relevant sein. Putins Handlanger:innen eher nicht. Umso wichtiger ist es, die Kooperation schon jetzt auf unterschiedlichen Ebenen voranzutreiben. Denn ohne Kooperation wird es auch in Zukunft nicht gehen, wenn es um eines der größten Probleme unserer Zeit geht: die Klimakatastrophe.
Bei der Bewältigung kann das flächenmäßig größte Land der Welt als Partner nicht einfach ausgeschlossen werden. Der Klimawandel macht nicht an nationalen Grenzen halt. Tatiana Romanowa ist Expertin für EU-Energiepolitik und Professorin an der Universität Sankt Petersburg. Im Bereich Klima sieht sie großes Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland – besonders im Bereich der »sauberen Energie«. Langfristig könne durch die Pipelines von Nord Stream 2 Wasserstoff statt Erdgas fließen. Romanowa gibt auch zu bedenken, dass das Gas aus Russland heute schon weniger umweltschädlich sei als das durch Fracking gewonnene Flüssiggas aus den USA.
Der Erfolg des von der EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen angestoßenen
Letzterem stehen laut Romanowa momentan US-Sanktionen gegenüber Russland im Weg – sowohl bereits verhängte als auch solche, die in Zukunft dazukommen könnten. Daran werde wohl auch der Amtsantritt von Joe Biden nichts ändern, auch seine Regierung werde Europa voraussichtlich dazu drängen, seine Abhängigkeit von russischen Energieressourcen zu verringern, so Romanowa. Die US-Sanktionen beschränken neben dem Spielraum privatwirtschaftlicher Akteure auch engere Kooperationen zwischen Russland und Deutschland auf dieser Ebene. Doch das deutsch-russische Verhältnis war schon immer mehr als ein Bündel an Wirtschaftsbeziehungen.
»Keine bilaterale Frage zwischen Deutschland und Russland«
»An den Grundkoordinaten der deutschen Politik gegenüber Russland hat sich nichts geändert«, bestätigt Josef Hinterseher vom Auswärtigen Amt. Deutschland hätte weiterhin »ein fundamentales Interesse an einem guten – wenigstens aber vernünftigen – Verhältnis zu Russland, das auf klaren Regeln und gegenseitigem Respekt gründet«. Deutschland habe in den letzten Jahren viel Arbeit in das Verhältnis zu Russland investiert, so zum Beispiel bei der Rückkehr Russlands in die Parlamentarische Versammlung des
Das alles lässt sich nicht so einfach aufgeben, auch wenn das zwischenstaatliche Verhältnis durch eine ganze Reihe von Ereignissen gestört wurde, die im Fall Nawalny gipfelten.
Die vergangenen Jahre haben schließlich auch gezeigt, dass viele globale Probleme und Herausforderungen ohne einen konstruktiven Beitrag Russlands nicht zu lösen sind. Russland sitzt eigentlich immer mit am Tisch, ob es um Krieg und Frieden in Syrien, Bergkarabach oder der Ukraine, um Rüstungskontrolle, Klima oder Terrorismusbekämpfung geht. Man kann Russland kritisch sehen, ignorieren kann man es nicht.
Vielleicht ist an dieser Stelle auch eine Erinnerung angebracht, dass Putin nicht für ganz Russland steht, auch wenn er es selbst so sieht. Aktuelle Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums haben ergeben, dass
Diese Menschen sollten in Europa Ansprechpartner:innen haben, die sich für Russland interessieren und NGOs, Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und Einzelkämpfer:innen unterstützen. Staatlich unterstützte Propaganda hat zu vielen Missverständnissen zwischen Europa, Deutschland und Russland geführt. Deshalb sind Aufklärung und Transparenz so wichtig wie nie zuvor. Russland verstehen zu wollen ist ein hoher Anspruch – es würde schon reichen, wenn sich Deutschland und andere Länder dafür interessieren, was im Land passiert, und wenn dann auch darüber berichtet wird.
Der versuchte Giftmordanschlag auf Nawalny mit einem chemischen Nervenkampfstoff darf deshalb auch nicht als bilaterale Frage zwischen Deutschland und Russland betrachtet werden. Der Fall Nawalny betrifft – als schwerer Bruch des Chemiewaffenübereinkommens, der er ist – die internationale Gemeinschaft als Ganzes.
EU-Sanktionen, die sich gegen einzelne Personen, gegen die Verantwortlichen des Giftanschlags richten, sind eine richtige (und die einzig mögliche) Strategie, um Russland zur Aufklärung zu bewegen. Deutschland und Europa würden damit zeigen: Wir sind nicht gegen Russland, sondern gegen Menschen, die gegen Grundwerte und internationales Recht verstoßen.
Wie geht es weiter mit der »Druschba«?
Seit dem Fall Nawalny sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland angespannt. Aber ein Ende der
Dafür spricht die gesamte Erfahrung
Deutschland kann das gegenwärtige Regime in Russland nicht ändern. Das sollte es auch nicht versuchen. Der Wandel muss von innen kommen. Der Retter Russlands kann nur Russland selbst sein. Ob Nawalny dafür der richtige Mann ist,
Redaktion: Katharina Wiegmann
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily