Wie kurzsichtige Politik und Pharmakonzerne eine endlose Pandemie riskieren
Bei der Bekämpfung von HIV haben die reichen Länder Fehler gemacht, die bis heute Millionen Menschen das Leben kosten. Nun droht sich die Geschichte zu wiederholen – und dieses Mal hätte das auch für uns Konsequenzen.
Das Virus wütet bis heute: 32 Millionen Todesfälle gehen insgesamt auf sein Konto,
So fern die Geschichte des HI-Virus für uns im globalen Norden wirken mag, sie sollte uns aufhorchen lassen – denn Teile der Tragödie könnten sich bei Corona nun wiederholen. Der ugandische Mediziner und AIDS-Forscher Peter Mugyenyi erinnert sich schmerzlich an die Hochzeit der AIDS-Epidemie:
Das war die katastrophalste Notlage, die Afrika und die Welt jemals gesehen hat. Es gab Nonstop-Beerdigungen, jeden Tag. Die Zahl der Waisenkinder explodierte. Die Hinterhöfe der meisten Häuser waren voll mit Gräbern, alle frisch. Ich sah so viele Menschen, die hätten überleben können, ich sah sie schmerzerfüllt sterben.
Zwar unterscheiden sich HIV und Covid-19 aus medizinischer Sicht deutlich; ein Umstand ähnelt denen der AIDS-Pandemie in den 80er- und 90er-Jahren schon jetzt: Die Entwicklung und der Zugang zu lebensrettenden Behandlungsmöglichkeiten ist weltweit extrem ungleich verteilt.
Doch es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Krankheiten: Beim HI-Virus ist der globale Norden mit der zynischen Strategie,
Doch wie im Fall von HIV einfach wegzuschauen wird bei Covid-19 nicht funktionieren.
Wie die Pharmaindustrie jetzt das große Geschäft mit dem Impfstoff wittert – und wie wir doch noch die Kurve kriegen könnten, damit sich die Geschichte nicht wiederholen muss.
25 Impfdosen für die Armen
Die naive Hoffnung, einfach wieder zum Tagesgeschäft übergehen zu können, während die Pandemie in anderen Teilen der Welt nahezu ungehindert weiter grassiert, wird sich kaum erfüllen.
Ein zentraler Grund dafür: die bereits jetzt aufgetretenen, deutlich ansteckenderen Mutationen. Sie zeigen, dass die Coronapandemie erst dann enden kann, wenn sie wirklich überall auf der Welt eingedämmt ist. Andernfalls werden die Fallzahlen immer wieder aus Regionen mit hohen Zahlen in solche mit niedrigeren zurückschwappen.
Sehen die politischen Entscheider:innen das auch so? Zumindest innerhalb der EU hatte es zunächst den Anschein: So versprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai 2020 auf einer globalen Geberkonferenz, mit den gesammelten Milliarden einen Impfstoff als »wahrhaftig einzigartiges, globales, öffentliches Gut« entwickeln zu wollen. Dies sei
Wie es mit diesem Vorhaben gelaufen ist, erklärte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, im Januar 2021 so: Die aktuelle, ungleiche Verteilung der Impfstoffe sei ein »katastrophaler moralischer Fehlschlag«. Bis Mitte Januar 2021 waren weltweit bereits 39 Millionen Impfdosen verabreicht worden –
Das Versprechen der EU-Kommissionspräsidentin von Einheit und Humanität hielt nicht einmal bis zum Ende des Jahres 2020. Anstatt das Wissen über die in Rekordzeit entwickelten und massiv mit Steuergeldern geförderten Impfstoffe mit der Welt zu teilen, verkaufen die Pharmakonzerne vorzugsweise an die Meistbietenden.
Schon bevor die ersten Impfstoffe zugelassen waren, stürzten sich die reichsten Länder wie die USA, Japan, Großbritannien und auch die EU selbst auf die aussichtsreichsten Kandidaten und
»Die reichen Länder der Welt haben sich große Mengen Impfstoff gesichert« kritisierte Cyril Ramaphosa, Präsident Südafrikas und zurzeit Vorsitzender der Afrikanischen Union (AU), im Januar 2021 auf dem
Mit dieser Vorgehensweise untergraben die reichen Länder die Bemühungen der internationalen Impfallianz
Zwar wurden für die Impfallianz COVAX bisher rund 6 Milliarden US-Dollar gesammelt, angesichts der insgesamt 94 Nationen, Stiftungen und Privatspender:innen, die als Geber:innen auftreten, ist diese Summe jedoch überschaubar. Und gewiss nicht ausreichend. Mindestens 2 weitere Milliarden werden noch in diesem Jahr benötigt. Doch selbst wenn das Geld noch zusammenkommt, kaufen konnte COVAX damit bisher nicht viel –
Fraglich ist zudem, ob die Finanzierung in den nächsten Jahren ausreichen wird, wenn die Pandemie in den Geberländern an Aufmerksamkeit verliert.
Wie sich der globale Norden mit seiner Impfstrategie ins eigene Fleisch schneidet
Dabei geht es nicht um milde Gaben. Selbst dann, wenn die humanitären Aspekte ausgeblendet werden, müsste es im ureigenen Interesse der Länder des globalen Nordens sein, die Impfstoffe so schnell wie möglich so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen:
Keine Wirtschaft kann sich vollständig erholen, solange wir keinen weltweit gerechten Zugang zu Impfstoffen, Therapeutika und Diagnostika haben. Der Weg, auf dem wir uns befinden, führt zu weniger Wachstum, mehr Todesfällen und einer längeren wirtschaftlichen Erholung.
Doch
Das erklärt Malte Radde von der international tätigen Studierendeninitiative Universities Allied for Essential Medicines (UAEM): »Um es einfach zu sagen: Am Ende brauchen wir einfach mehr Maschinen, aus denen Impfstoffe herauskommen. Und das geht eben wesentlich leichter, wenn mehr Unternehmen diese herstellen dürfen.«
Das könne aber nur dann gelingen, wenn die »Erfinder« des Impfstoffes die Anleitung für dessen Herstellung nicht geheim halten. Bereits zu Anfang der Pandemie im März 2020 warnte sein Mitstreiter
Im Fall von Corona werden wir es mit einem noch nie da gewesenen Bedarf an Impfstoffen und Medikamenten zu tun haben, da die Mittel ad hoc milliardenfach überall auf der Welt gebraucht werden. Kein einzelnes Unternehmen kann das leisten, selbst wenn es wollte. Zudem wären horrende Preise auf einen Impfstoff oder ein Medikament insbesondere für Länder des globalen Südens fatal und könnten dort eine Behandlung von Patientinnen und Patienten verhindern.
Leider scheint sich genau diese Befürchtung nun zu bewahrheiten, aktuell befinden sich die Patente für alle heute und zeitnah in der EU und Nordamerika zugelassenen Impfstoffe in der Hand von lediglich 5 (westlichen) Unternehmen:
- BioNTech/Pfizer (Deutschland/USA)
- Moderna (USA)
- AstraZeneca (UK/Schweden)
- CureVac (Deutschland – Zulassung mit hoher Wahrscheinlichkeit im zweiten Quartal 2021)
- Johnson & Johnson (USA – Zulassung in der EU beantragt)
Hinzu kommen der russische Impfstoff »Sputnik V« sowie 3 chinesische Impfstoffe, deren Wirkung aufgrund lückenhafter Datenlage in den meisten westlichen Ländern zurzeit noch hinterfragt wird. Für diese gilt das Gleiche: Das Wissen über die Wirkweise ist exklusiv, auch wenn aktuell verstärkt diese Impfstoffe ihren Weg in den globalen Süden finden.
Da bereits vor der Zulassung der ersten Impfstoffe klar war, dass es zumindest im ersten Jahr zu einer erheblichen Knappheit der lebenswichtigen Dosen kommen würde, wurden bereits im vergangenen Jahr Mechanismen vorgeschlagen, um eine gerechte Verteilung sicherzustellen und die Pandemie solidarisch zu überwinden. Zu diesem Zweck wurde unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation der sogenannte
Doch es gibt ein entscheidendes Problem mit dem CTAP: Es steht nichts drin. Kein einziger Eintrag. Malte Radde und die Medizinstudierenden von den Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) haben eine Erklärung dafür: »Wir vertreten die Auffassung, dass es vor allem daran liegt, dass der CTAP eher wie eine nette Bitte an die Konzerne daherkommt, ihr Wissen zu teilen. Für die Unternehmen ist es viel lukrativer, ihre Impfstoffe mit massiven Gewinnen in Europa, den USA oder Kanada zu verkaufen, weil hier so viel wie möglich reserviert und gekauft wird.« Dabei gehe es in dem Projekt nicht darum, das Wissen gratis und ohne Gegenleistung zu teilen. »Der Pool sieht finanzielle Gegenleistungen für diejenigen vor, die etwas hinterlegen. Doch durch die massive Nachfrage der westlichen Länder sind die Profitaussichten wesentlich größer, wenn das Wissen exklusiv bleibt.«
Was sagen Pharmavertreter:innen dazu?
Profit vor Menschenleben?
Der Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbandes (IFPMA), Thomas Cueni, behauptete Ende vergangenen Jahres noch das Gegenteil: »Es geht hier nicht darum, dass zum Schluss eine große Rendite rauskommt«, sagte er im Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk.
Grund zum Zweifel daran gibt zumindest das Geschäftsgebaren von BioNTech/Pfizer:
Allerdings zahlen EU-Mitgliedstaaten aktuell pro Dosis AstraZeneca 1,78 Euro, während Südafrika mit 4,33 Euro mehr als das Doppelte auf den Tisch legen musste.
Eine interessante Argumentation für einen Pharmahersteller: Unabhängig von Corona werden Vertreter:innen der Industrie seit Jahren nicht müde zu erklären, wie hoch die eigenen Forschungs- und Entwicklungskosten sind,
Was Cueni nicht sagt: Die zweifellos außerordentliche Leistung der Impfstoffentwickler:innen wurde nicht durch das Patentrecht ermöglicht, sondern durch umfangreiche staatliche Förderung mit öffentlichen Geldern. Denn private Pharmakonzerne schalten sich bei der Entwicklung neuer Medikamente in der Regel erst ein, wenn neue Wirkprinzipien an staatlich finanzierten Universitäten entdeckt worden sind – wie etwa auch im Fall der
Unterm Strich beträgt der Anteil der Staatsmittel an der globalen Gesundheitsforschung 41%, auf die Pharmaindustrie entfallen 51%, während 8% von privaten Stiftungen stammen.
Zusätzlich haben Staaten die Entwicklung der Impfstoffe durch weitere Milliarden an Fördergeldern zu Beginn der Pandemie entscheidend beschleunigt:
Vor diesem Hintergrund kritisierte die renommierte niederländische Juristin und Medizinaktivistin Ellen ’t Hoen die Haltung der Pharmakonzerne auf das Schärfste:
Diese Innovationen werden zum Privateigentum dieser kommerziellen Organisationen und die Kontrolle darüber, wer Zugang zu der Innovation und dem Wissen, wie man sie herstellt, erhält, bleibt in den Händen der Firma.
Die Pharmakonzerne zeigten laut ’t Hoen zu Beginn der Pandemie kaum Interesse an der Suche nach einem Impfstoff. Erst als Regierungen verbindliche Finanzierungszusagen machten, wurden sie aktiv. Die Bündelung des so entwickelten Know-hows in einem öffentlichen Pool hätte für ’t Hoen die Bedingung sein müssen, um die Gelder fließen zu lassen. Dies wurde jedoch versäumt, sodass die Eigentumsrechte der fertigen Präparate nun exklusiv bei den Konzernen liegen.
Was uns zurück zu der anfangs beschriebenen Analogie führt: Sich darauf zu verlassen, dass die Patentinhaber:innen ihr Wissen teilen werden, wenn die Profite in der westlichen Welt erst einmal gemacht sind, könnte reichlich naiv sein. Der Präzedenzfall »AIDS-Epidemie« liegt gerade einmal 25 Jahre zurück.
Wie Patente töten
Der südafrikanische Richter Edwin Cameron ist heute 67 Jahre alt. Die Tatsache, dass er mit 60 Jahren noch an Radrennen teilnahm, ist beeindruckend. Noch beeindruckender wird sie, wenn man weiß, dass er HIV-positiv ist und Mitte der 90er-Jahre fast an den Folgen der Infektion gestorben wäre. Die damals revolutionäre
Millionen andere hatten dieses Glück nicht: Schätzungen zufolge starben allein in Subsahara-Afrika in den Jahren 1997–2003 bis zu 10 Millionen Frauen, Männer und Kinder an AIDS, während lebensrettende Medikamente in reicheren Teilen der Welt ausreichend vorhanden waren.
Statt auch ärmeren Ländern zu helfen, hatten die Pharmakonzerne den maximalen Preis für ihre AIDS-Medikamente herausgehandelt, den westliche Versicherungskonzerne und Regierungen zu zahlen bereit waren. Das primäre Ziel: Die Profite mit der neuen Behandlung zu maximieren, worauf die gesamte Welt bis zu diesem Zeitpunkt gewartet hatte.
Das änderte sich erst, als der indische Pharmaunternehmer Yusuf Hamied afrikanischen Ländern unter Ausnutzung des damals noch anders gestalteten internationalen Patentrechts ein
Doch mit Brasilien wehrte sich auch ein ganzer Staat gegen die Konzerne und stellte ab Ende der 90er-Jahre in eigenen Fabriken Generika her, die das Land seinen HIV-positiven Bürger:innen im Anschluss kostenlos zur Verfügung stellte. Auf diese Weise konnten die durchschnittlichen Kosten für eine Jahrestherapie von rund 10.000 Dollar auf weniger als 600 Dollar gesenkt werden. Der echte Wettbewerb der Generikahersteller aus Brasilien und Indien am Patentrecht vorbei drückte den Preis im weiteren Verlauf auf weniger als 350 Dollar pro Jahr.
Währenddessen verklagten die Pharmakonzerne Länder wie Südafrika, die die günstigen Generika importieren wollten, mit Verweis auf ihr Patentrecht, sodass das Sterben dort unnötig weiterging. Zu dieser Zeit argumentierten die westlichen Pharmakonzerne auch immer wieder, dass die Generika von minderwertiger Qualität seien und nicht richtig wirken würden;
Es steht bei Weitem zu viel auf dem Spiel, um Profitinteressen zu schützen
Die Erkenntnisse, die aus den Erfahrungen im Kampf gegen HIV aus der jüngeren Geschichte zu ziehen sind, bringt der Epidemiologe und Berater des WHO-Direktors, Bruce Aylward, auf den Punkt:
Wenn wir es jetzt wieder so machen wie Ende der 90er-Jahre bei HIV/AIDS und die ärmeren Länder mit dem Problem alleinlassen, dann wird der Schmerz gigantisch sein. In jeder Hinsicht, auch wirtschaftlich.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch der flammende Appell, den Südafrika und Indien vor der Welthandelsorganisation einbrachten, in einem neuen Licht. Die beiden Länder hatten beantragt, die Patentrechte für Covid-19-Impfstoffe und (ebenfalls elementar wichtig) -Medikamente ausnahmsweise auszusetzen – wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen im Kampf gegen HIV. Die Weltgesundheitsorganisation unterstützt den Antrag.
Die USA, die EU und andere reiche Länder blockieren die Initiative allerdings bisher, freilich ohne dabei groß Aufsehen erregen zu wollen. Anfang Februar sickerte aus Diplomat:innenkreisen durch, dass die informellen Onlinegespräche zu dem Vorstoß ergebnislos geblieben waren. Das Argument des Westens:
Eine Argumentation, die zunächst nur schwer zu widerlegen ist, weil potenzielle Hersteller in jedem Fall Zeit bräuchten, sich zu organisieren. Sie erinnert nichtsdestotrotz unangenehm an die Geschichte der HIV-Medikamente. Erst recht, weil sich gerade die Länder sperren, in denen die Pharmariesen mit ihrem immens wertvollen Wissensschatz ansässig sind.
Auch Malte Radde von UAEM hat daran Zweifel: »Das Argument der Pharmakonzerne war schon immer: ›Es ist äußerst komplex, unser Produkt herzustellen‹. Das war auch schon im Kampf gegen HIV so. Aber in den meisten Fällen, in denen Generikahersteller es dann doch versucht haben, konnten unzählige Menschenleben gerettet werden.« Das sehen nicht nur er und seine Mitstreiter:innen von UAEM so: Die engagierten Medizinstudierenden machen sich zusammen mit weiteren Organisationen, darunter das Aktionsbündnis gegen AIDS, Ärzte ohne Grenzen und World Vision, in einem Positionspapier für das Aussetzen der Patente für neue Impfstoffe und Medikamente stark.
Denn eines muss uns allen klar sein: Der Einsatz, mit dem hier um Profitinteressen gerungen wird, ist hoch, auch für uns selbst. Vielleicht dieses Mal zu hoch. Und die Zeit, die wir haben, ist knapp:
Je länger wir damit warten, allen Ländern Impfstoffe, Tests und Behandlungen zur Verfügung zu stellen, desto schneller wird sich das Virus ausbreiten, desto mehr Varianten können entstehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die heutigen Impfstoffe unwirksam werden, und desto schwieriger wird es für alle Länder, sich zu erholen. Wahrlich, niemand ist sicher, bis alle sicher sind.
Es steht zu viel auf dem Spiel, um die Profite einiger weniger über das Wohl der gesamten Menschheit zu stellen. Denn die Lage ist ernst, höchstwahrscheinlich noch ernster als vor einem Jahr. Die Optionen dafür, wie es anders gehen kann, liegen auf dem Tisch.
Die gemeinnützige Menschenrechtsorganisation medico international fordert in ihrer Petition »Patente töten« die Aufhebung des Patentschutzes auf alle unentbehrlichen Medikamente. Die Petition kann hier gezeichnet werden.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily