Gut leben, ohne dem Klima zu schaden? So will es dieses Großstadtviertel schaffen
Der Wuppertaler Arbeiterbezirk Arrenberg soll in 10 Jahren klimaneutral sein, ohne großen Verzicht oder Verbote. Entsteht hier ein Vorbild für ganz Deutschland?
Es ist Samstag. Draußen, auf dem Parkplatz eines Wuppertaler Supermarktes, regnet es. Drinnen, im Vorraum, bieten 3 Männer an einem Stand Salate an. Landlust-Magazin-Chic trifft auf Foodtruck-Flair. Deko-Holzkisten stapeln sich auf der Theke. Salate stecken in braunen Papiertüten mit schlichten schwarzen Aufdrucken, »No 1« bis »No 5« ist darauf zu lesen. Die Zahlen kennzeichnen die verschiedenen Gewächse, 1,70–2,20 Euro kostet ein Kopf.
Der Salat ist frei von Pestiziden, kommt aber nicht von einem Ökohof am
Bis 2030 soll das Wuppertaler Arbeiterviertel »Arrenberg« klimaneutral werden.
»200 Stück haben wir beim letzten Mal verkauft. Viele bleiben stehen und fragen, was es mit dem Salat auf sich hat«, sagt Sven Engelhardt vom
Ich bin dorthin gefahren, um herauszufinden, wie der Nachbarschaftsverein die selbst gesetzte Aufgabe stemmen will. 3 große Projekte habe ich herausgegriffen, um nicht den Überblick zu verlieren. Die Arrenberger wollen nämlich neben Salat auch andere Lebensmittel in Kreislaufwirtschaft herstellen, ein gemeinsames, nachhaltigeres Nahwärmenetz aufbauen, statt weiter fossiles Gas zu nutzen, und ein eigenes soziales Netzwerk fürs Quartier schaffen.
Wie organisiert man Klimaneutralität?
Das Viertel Arrenberg liegt mitten in Wuppertal. Es ist eng bebaut mit Mehrfamilienhäusern und alten Fabrikgebäuden mit Backsteinfassaden. Die Wupper und darüber das Gerüst der Schwebebahn durchteilen das Gebiet. Von 500 Gebäuden stammen 341 aus der Zeit vor
Landwirtschaft, Transport und Verkehr schlagen zusammen noch mal mit 30% zu Buche. Zwar ist es beim Essen einfacher, von Einkauf zu Einkauf klimafreundliche Entscheidungen zu treffen, allerdings auch deutlich kleinteiliger als etwa beim Thema Wohnen. Dazu kommt, dass die Lebensmittelwahl oft eine sehr individuelle ist: Nur bio und lokal zu kaufen ist nicht immer einfach und meistens teurer als die weniger klimafreundlichen Alternativen.
Das Arrenberger Klimateam will dennoch alles anpacken, Wohnen, Essen und Mobilität – ohne alteingesessene Bewohner:innen durch zu hohe Mehrkosten zu vertreiben.
Am Anfang stand der Wunsch nach Gemeinschaft
Im Jahr 2008 beginnt die Geschichte von »Aufbruch am Arrenberg«. »Damals ging es darum, das heruntergekommene Wohnviertel wieder angenehmer zu gestalten und attraktiver zu machen«, erzählt Pascal Biesenbach, den ich im Büro des Vereins treffe, mitten im Viertel. Er leitet den Bereich »Klimaprojekte«.
Klimaneutralität habe damals noch niemand im Hinterkopf gehabt, sagt er. Der Verein wurde von 10 Unternehmer:innen aus dem Viertel gegründet. Menschen unterschiedlicher kultureller Hintergründe sollten sich auf Straßenfesten und Flohmärkten begegnen und kennenlernen – jede:r Zweite hier hat eine Migrationsgeschichte. Es schlossen sich Künstler:innen, Kulturvereine und engagierte Anwohner:innen an.
Mit der Zeit entstanden ein Reparaturtreff, eine
Inzwischen ist das Team auf 7 Vollzeitkräfte angewachsen. »Wir hatten erwartet, dass Stromerzeugung oder die Heizfrage viele interessiert, aber am Ende kommen die Menschen am schnellsten beim Thema Essen zusammen.« Pascal Biesenbach zeigt mir die Vereinsküche – selbstgebaut aus altem Verpackungsholz. Hier werden einmal pro Woche Lebensmittel aus dem Foodsharing gekocht und an Besucher verteilt. Der Verein ziele immer noch vor allem darauf ab, Menschen zusammenzubringen, sagt er. »Es gibt einige, die mit den Klimafragen nichts zu tun haben wollen und eher sagen: Macht mal, wenn es mich nichts kostet, stört es mich auch nicht.«
Es ist kaum möglich, alles zu erwähnen, was hier im Viertel stattfindet. Es gibt eine eigene Website,
Die Stadtverwaltung sei am Anfang vom Eifer der Klimaschützer nicht nur begeistert gewesen und habe ab und zu auch mal gebremst. Inzwischen sei das anders, sagt Pascal Biesenbach.
Für mich war Fridays for Future der große Wendepunkt. Seitdem es diese große Aufmerksamkeit für Klimafragen gibt, rennen wir mit unseren Ideen an vielen Ecken offene Türen ein. Jetzt ist vieles plötzlich möglich.
Wärme aus Müll
Weil die Wärmedämmung für viele schwer zu stemmen ist, liegt eine Stellschraube bei der Energie, die am Ende die Häuser heizt. Die Wuppertaler Stadtwerke (WSW) sind da der Ansprechpartner der Arrenberger. Längst ist dem lokalen Versorger klar, dass sich sein Geschäft künftig stark verändert. Und der Arrenberg ist ein praktisches Testfeld. »Wir sehen uns immer mehr als Anbieter, der passgenaue Lösungen für Quartiere ermöglicht. Wir sorgen für die Infrastruktur und die sichere Belieferung mit Energie, darüber hinaus schauen wir, welche konkreten Bedürfnisse es vor Ort gibt«, erklärt Sören Högel, Leiter Digitale Lösungen bei den Wuppertaler Stadtwerken (WSW).
Am Arrenberg ist die zentrale Idee der Anschluss an ein
Um mir zu zeigen, wie die Wärme von der Dampftrasse in die Häuser gelangen könnte, nimmt mich Pascal Biesenbach mit auf eine kleine Tour durch das Viertel. An einer Seitenstraße, die zum Wupperufer führt, bleiben wir stehen. »Da hinten kann ein Wärmetauscher eingebaut werden«, sagt er und zeigt auf eine Mauer am Ufer, hinter der die Dampfleitung liegt. »Der Dampf erhitzt dann Wasser auf 75 Grad Celsius, das über ein Nahwärmenetz direkt in die Häuser und Heizkörper fließt.« So wird aus der Fernwärme aus Dampf ein lokales Nahwärmenetz.
Die bisher vorherrschenden Gas-Etagenheizungen würden dann überflüssig. Damit die Kosten überschaubar bleiben, müssen allerdings genug Vermieter:innen mitmachen, denn nur dann lassen sich die Anschlusskosten finanzieren und verträglich verteilen. In den Häusern selbst müsste bloß ein kleines Übergabegerät eingebaut werden. Auf einen Schlag wäre der Arrenberg einen großen Brocken seines CO2-Abdrucks los. Und für die Dämmung bliebe so etwas mehr Zeit, denn immerhin wird dann ohnehin anfallende Energie zum Heizen genutzt. »Falls irgendwann nicht mehr genug Wärme aus der Müllverbrennung kommt, weil es zu wenig Müll gibt, können wir die Warmwasserleitungen für Wärmepumpen nutzen.«
Die Leitungen werden zunächst in einem kleineren Testgebiet verlegt. Wann es hier losgeht, steht noch nicht fest.
Ein soziales Netzwerk fürs Viertel
Die Energiewende, aber auch andere politische und soziale Fragen rund um das Quartier wolle der Verein jetzt in einem eigenen sozialen Netzwerk in einer App bündeln, erzählt Pascal Biesenbach. Ein weiteres der großen Projekte hier. Ziel ist eine Art 3D-Abbildung der Kommunikationsprozesse der Bewohner:innen, die vielleicht auch Politikverdrossenheit bekämpfen könnte.
Wir gehen weiter und kommen an einem in die Jahre gekommenen Spielplatz vorbei. Wenn mehrere Menschen zum Beispiel eine neue Schaukel für diesen Spielplatz möchten, wird diese Diskussion auf der Karte des Viertels im Netzwerk abgebildet. Lokalpolitiker:innen sollen direkt auf Debatten reagieren und beschlossene Lösungen – wie die angesprochene Schaukel – vor Ort visualisieren und Zieltermine nennen.
Für Hauseigentümer:innen soll das Portal per Knopfdruck einfachen Zugang zu Informationen und zur Beratung in Sachen energetischer Sanierung ihrer Häuser bieten und sie auch in anderen Fragen vernetzen. »Da kann es um gemeinsame Solaranlagen gehen oder zum Beispiel um die Anschaffung eines Elektroautos oder von Lastenrädern für mehrere Häuser«, sagt Pascal
Für die App-Entwicklung haben IT-Kräfte aus dem Viertel eine Firma gegründet. Die App kann bei Erfolg für beliebige Quartiere Wuppertals, die ganze Stadt oder andere Klimaquartiere in Deutschland erweitert werden. Auch in Leipzig und Siegburg bei
Distanzen verkürzen, Kreisläufe schließen
Wir gehen weiter. Nach ein paar Minuten stehen wir vor dem Farmcontainer, aus dem der Salat stammt. Im Wesentlichen ist es ein Schiffscontainer mit Belüftungs- und Bewässerungssystem, in dem seit ein paar Wochen der Arrenberg-Salat wächst. Der Verein möchte vor allem die Funktionsweise testen und optimieren.
Drinnen müssen wir die Straßenschuhe aus- und Hausschuhe anziehen, es läuft der Erntebetrieb. Sven Engelhardt und seine Kollegin Antje Wiegand klicken Bauelemente mit den reifen Salatköpfen aus der Halterung. Engelhardt ist sogenannter Quartiersmeister, er betreut den Container, hält Kontakt zu Anwohner:innen und hilft aus, wo es nötig ist.
»Wir experimentieren gerade noch mit der Anlage. Dieses Mal sind die Salate leider etwas kleiner geraten, wir hatten Probleme mit den Einstellungen der Steuerungsgeräte«, sagt er. Glück für mich, denn ich darf ein paar der frischen Salate mit nach Hause
Im Eingangsbereich stehen Setzlinge in Saatschalen, sie werden von oben beleuchtet. 75% des Containers füllt dann die eigentliche Farm aus. Die Salate wachsen in vertikalen Wandelementen, die von der Decke herunterhängen – seitlich dem Licht entgegen. Gegenüber hängen LED-Paneele, die für optimale Beleuchtung sorgen – Wolken, Regen oder gefräßige Schnecken fallen hier aus. Von oben rinnt das Wasser samt Nährstoffen durch die Steckelemente, unten tropft es in eine Sammelrinne und fließt zurück nach oben. Mit Bauernhofromantik hat das alles nichts zu tun, es wirkt mehr wie in einem Labor. 4 Wochen nach der Saat sind die Salate fertig.
Wir brauchen rund 200 Liter Wasser für die Produktion von 1,5 Tonnen Salat.
3.200 Salate pro Monat bei wenig Wasser- und Platzverbrauch klingt beeindruckend. Ein Problem ist bisher aber noch die Energieversorgung. 147 Kilowattstunden Strom braucht der Container pro
Denn der Container ist ein Zwischenstadium. Auf lange Sicht soll die Essensproduktion am Arrenberg im Sinne eines Kreislaufs funktionieren,
Dann wollen die Arrenberger ihre Produkte nicht mehr nur am Aktionsstand des Supermarktes verkaufen, sondern einen Platz im Regal ergattern, als hyperlokale und saubere Alternative zu anderen, weitgereisten Produkten. Seine Erkenntnisse will der Verein übrigens nicht für sich selbst behalten. Für das kommende Jahr erarbeiten Pascal Biesenbach und seine Kolleg:innen eine Art Leitfaden, der die bisherigen Erfahrungen für interessierte Quartiere in ganz Deutschland
Ich fahre mit vielen neuen Eindrücken wieder weg. Klimawende im Stadtquartier hat hier vor allem mit dem Wunsch nach menschlichem Miteinander zu tun. Digitale Technik hin oder her – vieles ist Handarbeit. Und noch eins ist mir klargeworden: Anfangen kann eigentlich jedes Viertel, egal wie klein der erste Schritt auch sein mag. Auch hier am Arrenberg hat es schließlich einmal mit 10 Menschen begonnen.
Dieser Artikel ist Teil des journalistischen Projekts »Tu, was du für richtig hältst!«, das dir helfen soll, dein Verhalten mit deinen Idealen in Einklang zu bringen. Um mehr darüber zu erfahren und herauszufinden, wie groß die Lücke zwischen deinen Idealen und deinem Verhalten ist, klicke hier! Das Projekt erfolgt in Kooperation mit dem Wuppertal Institut (WI) und wird gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily