Ich dachte, ich lebe in einer polarisierten Gesellschaft. Lag ich falsch?
Was passiert, wenn ausgeloste Menschen gemeinsam Politik machen? Ich war bei einem Experiment dabei, das mir gezeigt hat: Soziale Medien vermitteln das Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die es so vielleicht gar nicht gibt.
Ein Freitagnachmittag Ende Mai, Regenschauer sind angesagt. In den nächsten Stunden werde ich an 14 Türen klingeln. 14 Türen, hinter denen Menschen wohnen, die sich wahrscheinlich nicht kennen und doch mindestens 2 Dinge gemeinsam haben: Zum einen wohnen sie im gleichen Berliner Wahlkreis. Zum anderen wurden sie für die Teilnahme an einem demokratischen Experiment ausgelost. Mitte Juni sollen rund 40 Menschen aus dem Bezirk Steglitz-Zehlendorf Ideen für die Mobilität der Zukunft erarbeiten,
Vor einem kleinen Kiosk in dem Berliner Randbezirk treffe ich Juliane Baruck und Linus Strothmann, die sich über eine Karte auf Julianes Handy beugen. Viele kleine Punkte mit verschiedenen Adressen sind darauf markiert.
Juliane ist mit dem Rennrad aus Neukölln gekommen, Linus mit dem Auto aus Werder (Havel). Die beiden engagieren sich bei der Organisation
Ich darf Juliane begleiten, die sich schnell noch einen hellen Leinenblazer überwirft, bevor sie ihren Helm wieder aufsetzt und sich auf ihr Rennrad schwingt. Linus wird die etwas weiter entfernten Punkte auf der Karte mit dem Auto ansteuern, Juliane und ich klappern mit dem Rad die näher gelegenen ab.
Um den Wahlkreisrat möglichst vielstimmig zu besetzen, verschickte das ehrenamtlich arbeitende Team von Es geht LOS ein Schreiben an aus dem Melderegister ausgeloste Personen. Einige von ihnen haben sich daraufhin gemeldet und ihre Teilnahme bestätigt oder abgesagt. Wir klingeln heute an den Türen derjenigen, die nicht geantwortet haben. Juliane und Linus wollen herausfinden, warum nicht, und versuchen, die Menschen im persönlichen Gespräch vielleicht doch noch zur Teilnahme zu bewegen.
»Aufsuchendes Losverfahren« heißt dieser Prozess zur Bürger:innenbeteiligung,
Das Team von Es geht LOS will, dass alle Menschen mitmachen, die der Zufall ausgewählt hat – dafür organisieren sie auch Kinderbetreuung, Laptops oder stille Räume für die Videokonferenz mit den anderen Teilnehmenden.
Unser Ansatz ist, dass der Zufall die beste Zusammenstellung ergibt, weil er keinen Bias hat. Wenn wir beispielsweise nach Bildungsstand und Alter auswählen würden, könnten wir 2 Kriterien gerecht werden.
»Je höher die Hürden für jemanden sind mitzumachen, desto wichtiger ist es, dass er oder sie dabei ist.« Denn genau diese Stimmen fehlen im politischen Betrieb normalerweise.
»Ich dachte erst, das sei ein Witz!«
Eine dieser Stimmen gehört Luminita Arza. Sie wohnt seit 7 Jahren in Friedrichshain, im Wahlkreis der Abgeordneten Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen), die sich ebenfalls dazu bereit erklärt hat, in Kooperation mit dem Team von Es geht LOS einen Wahlkreisrat auszurichten.
Luminita ist Schauspielerin und hat dementsprechend unter der Coronakrise gelitten. Beim Interview hält sie ihr wenige Monate altes Baby auf dem Arm. Sie hat gerade genug andere Dinge im Kopf. Aber sie hat auch das Bedürfnis, der Politik mal zu sagen, was in ihr vorgeht – und dann eben doch zugesagt, als Paul Naudascher aus dem Team von Es geht LOS eines Tages bei ihr vor der Tür stand.
Als wir ein paar Tage vor dem Wahlkreisrat sprechen, hat Luminita noch keine genaue Vorstellung davon, wie der Tag mit den anderen Ratsmitgliedern ablaufen wird; doch zu dem Thema, das in Friedrichshain-Kreuzberg recht breit gehalten ist
Der anstehende Wahlkreisrat ist für sie das erste freiwillige Engagement in Sachen Bürger:innenbeteiligung, zumindest in Berlin. Sie ist neugierig auf den Tag und hat sich über die Einladung gefreut, obwohl sie zunächst skeptisch war, als da jemand in ihrem Treppenhaus stand: »Ich dachte ja erst, das sei ein Witz, eine Verarsche. Die Zeugen Jehovas oder so.«
Demokratie ist Arbeit
Genau das denken sich vielleicht auch einige Leute im gutbürgerlichen Steglitz-Zehlendorf, wo Juliane und ich auf unserer Tour nicht besonders viel Glück haben. Viele Menschen, bei denen wir klingeln, sind nicht zu Hause, andere reagieren ablehnend und sind nicht zum Gespräch bereit.
Juliane hatte sich bei Linus noch nach der »besten Klingelansprache« erkundigt, bevor wir losradelten. Damit wird sie sich später ein bisschen schwertun – über den Türlautsprecher spricht sie von »Perspektiven«, die gehört werden müssten, von »Repräsentation« und »Partizipation«. Als ich sie darauf anspreche und frage, ob sie nicht meint, dass diese abstrakte Sprache vielleicht einige Leute abschrecken könnte, ärgert sie sich. Genau das will sie nicht. Juliane erzählt, dass sie sich bei Es geht LOS eigentlich genau dafür zuständig fühle – darauf zu achten, dass alles gut verständlich sei und sich niemand von einer zu akademischen Sprache ausgeschlossen fühle. Sie ist in Cottbus aufgewachsen, in Ostdeutschland also, und kennt das Gefühl, sich in manchen Räumen fremd zu fühlen, die eine bestimmte Sozialisation implizit voraussetzen.
Auch Linus hat heute nicht viel Glück; zwischendurch schickt er eine Nachricht: Auf seiner Tour seien fast alle zu Hause, aber niemand habe sich überzeugen lassen teilzunehmen.
Am nächsten Tag sind Juliane und einige andere noch einmal unterwegs. An diesem Tag scheint nicht nur die Sonne, es läuft auch mit der Überzeugungsarbeit deutlich besser – sodass sich knapp 2 Wochen später, pünktlich um 10 Uhr an einem Samstagmorgen Mitte Juni, tatsächlich rund 30 Menschen zum ersten Wahlkreisrat zusammenfinden. Coronabedingt digital, obwohl das Team von Es geht LOS den Termin einige Male in der Hoffnung verschoben hatte, die Veranstaltung doch noch live im Bundestag stattfinden lassen zu können. Zumindest die Moderation wird nun von dort aus geführt, um wenigstens ein bisschen »offizielle« Atmosphäre zu schaffen und den Teilnehmenden einen Einblick in die Wirkungsstätte ihres Abgeordneten zu geben.
»Es war toll zu sehen, wie motiviert und offen alle waren«
Die ehrenamtlichen Wahlkreisräte haben fast alle ihre Kamera an und gewähren so umgekehrt auch einen kleinen Einblick in ihr Leben. Die Gruppe scheint gut durchmischt, was Alter und Geschlecht angeht. Bei manchen sind im Hintergrund deckenhohe Bücherregale zu sehen; ich entdecke ein Klavier, Kunst, einen üppigen Garten, aber auch spartanisch und studentisch eingerichtete Zimmer. Namen, die spontan auf eine Migrationsgeschichte schließen lassen, lese ich auf den ersten Blick nicht – obwohl Staatsangehörigkeit beim Losverfahren keine Rolle gespielt hat. Angeschrieben wurden ausgeloste Menschen ab 16 Jahren, die im Bezirk gemeldet sind. Das Thema, das der Wahlkreisrat heute diskutiert: »Mobilität der Zukunft im Spannungsfeld Klima, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit«
Die Teilnahme sollte keine Vorbereitung erfordern, trotzdem haben alle im Vorfeld ein Päckchen bekommen, das neben ein bisschen Verpflegung für den Tag – Salzbrezeln, Risotto, Saft – auch eine Broschüre enthielt, worin das Thema Mobilität grob umrissen wird: An welchen Stellschrauben die Bundesregierung in der Verkehrspolitik drehen kann, Informationen zur Mobilität der Menschen in Deutschland insgesamt, zu negativen Effekten und Kosten von bestimmten Verkehrsmitteln
Nach der Begrüßung durch ihren Bundestagsabgeordneten
Was auffällt: Im direkten Austausch fährt sich das Gespräch nicht in den ideologischen Grabenkämpfen fest, die in den Medien so viel Raum einnehmen. Es ist nicht so, dass das Potenzial dafür gar nicht vorhanden wäre. So räumt ein Teilnehmer ein, dass er »einen dieser bösen Diesel« fahre und nichts von Verboten halte, während eine jüngere Frau ihre Ansichten im typischen Duktus der Klimabewegung vorbringt.
Im direkten Austausch fährt sich das Gespräch nicht in ideologischen Grabenkämpfen fest
Aber der Rahmen und die Moderation des Formats bringen offenbar alle in einen konstruktiven Modus. Ziemlich schnell machen sich die Kleingruppen auf die Suche nach konkreten Lösungen. Eine Moderatorin zieht nach dem Vormittag dazu ein erstes Fazit: »Der starke Konflikt ist ausgeblieben. Die eigene Perspektive wurde um die fremde erweitert. Wenn von der eigenen Lebensrealität aus argumentiert wird, können andere das besser nachvollziehen.«
Das Tagesprogramm ist straff und ich hänge nach der Mittagspause ein bisschen durch – trotzdem zeigt die Anzahl der kleinen Quadrate in der Videokonferenz, dass sich niemand still und leise verabschiedet hat. Nun geht es darum, in Kleingruppen Vorschläge zu erarbeiten, die für alle Teilnehmenden konsensfähig sind – und später in der großen Runde dem Abgeordneten präsentiert werden sollen.
Konsensfähig sind: Subventionen für nachhaltige Mobilitätsalternativen, die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und der Bahn, Maßnahmen für fahrradfreundlichere Städte, aber auch »radikalere« Vorschläge wie ein individuelles CO2-Konto für Privatpersonen oder eine Verpflichtung zu nachhaltiger Gestaltung von dienstlicher Mobilität.
Was aus den Vorschlägen wird, bleibt am Ende des Tages unklar. Mit der Teilnahme am Wahlkreisrat verpflichten sich die Abgeordneten zwar zu einem Feedback und einer Stellungnahme nach einigen Monaten, was mit den Ergebnissen geschehen ist; dass CDU-Politiker Heilmann nun zum Lobbyisten für diese Ideen wird, von denen viele doch eher zu den Grünen passen, ist unwahrscheinlich – aber auch gar nicht unbedingt die Erwartungshaltung vieler Teilnehmenden. Andere Perspektiven zu hören und miteinander ins Gespräch zu kommen, das scheint für die meisten im Vordergrund zu stehen.
»Es war toll zu sehen, wie motiviert und offen alle waren«, sagt eine der Teilnehmerinnen in der Abschlussrunde. Ein anderer meint, für ihn sei der Tag ein Anstoß gewesen, mehr über das Thema und konkrete Lösungen nachzudenken. Und schließlich gibt es noch eine nachdenkliche Äußerung von einem schon etwas älteren Mann: »Wie heute Politik gemacht wird, ist eigentlich nicht mehr zeitgemäß. Die Strukturen politischer Parteien sind obsolet.« Es sei wichtig, dass sich in Formaten wie diesem möglichst viele Menschen beteiligen, um Polarisierung vorzubeugen; Entscheidungen müssten von unten nach oben geformt werden.
Das harmonische Gesamtbild, das der Wahlkreisrat im gutbürgerlichen Steglitz-Zehlendorf abgibt, irritiert beinahe ein wenig. Wie sieht es wohl im Wahlkreis 83 aus, in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, der fast schon symbolisch für die Vielfalt der Hauptstadt steht? Hier findet der zweite Wahlkreisrat statt, bei dem ich als stille Beobachterin dabei sein darf.
Wer moderiert eigentlich den öffentlichen Raum?
Luminita Arza ist schon in der Konferenz, als ich mich 10 Minuten vor Beginn einlogge, sie hat die Kamera an, es sind aber auch viele schwarze Quadrate zu sehen. Es ist ein Wahlkreisrat unter erschwerten Bedingungen, an einem der bislang heißesten Tage des Jahres. Trotzdem nehmen die ausgelosten Bürger:innen ihre Aufgabe ernst.
Während ich zuhöre, wie kontrovers über die Nutzung von Grünflächen, das Baukindergeld oder
Auch hier zeigt sich, wie wichtig eine gute Moderation ist, damit nicht permanent aneinander vorbeigeredet wird. Ich frage mich: Wer übernimmt diese Moderation eigentlich im öffentlichen Raum? Wären unsere Debatten konstruktiver, wenn sich Medien dieser Aufgabe bewusster stellen würden, statt verschiedene Gruppen gegeneinander in Stellung zu bringen, nur weil sich Polarisierung als solides Geschäftsmodell erwiesen hat?
Die Ergebnisse, die der Abgeordneten Bayram am Nachmittag von den Moderator:innen der Kleingruppen präsentiert werden, betreffen Themen, die in den von Gentrifizierung betroffenen Bezirken Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg besonders drängend sind.
Es geht um Wohnen als Grundrecht, Schutz vor Spekulant:innen, die soziale Durchmischung der Kieze oder Bedürfnisse von jungen Familien – die nach dem Wunsch der heute tagenden Wahlkreisräte stärker beim Erwerb und Bau von Eigentum unterstützt werden sollten. Die Ideen sind kreativ und konkret: So fordert die Gruppe eine sinnvolle Quote zwischen Bau- und Grünflächen, eine Förderung alternativer und umweltfreundlicher Baustoffe sowie Subventionen für kleinere Kulturinstitutionen. Kunst als systemrelevant zu begreifen, das war auch Luminita Arza wichtig. Doch auch hier stellt sich wieder die Frage: Was bleibt von diesem Tag außer einem guten Gefühl bei denen, die dabei waren? Oder reicht das vielleicht schon?
Ein »unglaubliches Gefühl der Wertschätzung«
Bürger:innenräte werden oft anhand der Ergebnisse beurteilt, die sie liefern, und dann – wie jüngst die französische Bürger:innenversammlung für das Klima –
Diejenigen, die dafür zuständig sind, nämlich die Abgeordneten, sind in diesem Text bisher nur am Rande aufgetreten. Anruf bei Canan Bayram, knapp eine Woche nach der Wahlkreisratpremiere. Sie erzählt, dass es in ihrem Alltag zwar nicht an Kontakt mit den Menschen in ihrem Wahlkreis mangele. »Die Stärke der Beteiligung über das aufsuchende Losverfahren ist aber, dass man an die Menschen herantritt, die nicht sofort ›Hier!‹ rufen, die sich nicht als Experten wahrnehmen, als diejenigen, auf deren Meinung es ankommt.«
Was hat die Abgeordnete von diesem Tag mitgenommen? »Ich fand es spannend, dass manche Teilnehmer gesagt haben: Man ist mit seiner Meinung rein und man ist auch wieder mit seiner Meinung raus. Es gab keinen Konsens, aber es hat trotzdem gutgetan, darüber zu reden.« Es gehöre in einer Demokratie dazu, dass man nicht immer zusammenkomme. Das Diskutieren habe trotzdem einen Wert. »Wenn ich meine Perspektive sehe, sehe ich eine bestimmte Lösung für ein Problem. Wenn ich die Perspektive des anderen in meiner Lösung mitdenken muss, dann verändert sich meine Lösung.«
Die Art und Weise, wie im Wahlkreisrat miteinander diskutiert worden sei, habe einen schönen Gegenpunkt zu Twitter und den sozialen Medien gesetzt, wo nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie gespielt werde, es aber um wenig Inhaltliches ginge, so die Politikerin, die an das Potenzial von Bürger:innenräten glaubt.
Dieses Format ist eine der besten Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Es wird so viel polarisiert, aber teilweise an den Themen vorbei.
Canan Bayram hofft, dazu beizutragen, dass das Format der Wahlkreisräte verstetigt wird. Das wünscht sich auch das Team von Es geht LOS. Juliane Baruck, mit der ich Ende Mai so wenig Glück bei dem Versuch hatte, Menschen von der Teilnahme zu überzeugen, ist nach der ersten Runde erleichtert und zufrieden. »Ich spüre ein unglaubliches Gefühl der Wertschätzung.«
Und Luminita Arza? Sie hätte gerne mehr Zeit zum Diskutieren gehabt, teilweise sei das Thema von der Moderation zu lange erklärt und die Gespräche zu abrupt beendet worden. Sie gehört zu denjenigen, die lieber über konkrete Ideen sprechen, als sich im großen Ganzen zu verlieren. In unserer Nachbesprechung denkt sie noch weiter über alternative Baustoffe und begrünte Dächer nach. Der Tag sei anstrengend gewesen, sagt sie. Trotzdem würde sie jederzeit noch mal teilnehmen. Und sie sagt auch: Wenn niemand vor ihrer Tür aufgetaucht wäre, hätte sie wahrscheinlich nicht mitgemacht.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily