So habe ich mich aus dem Würgegriff der digitalen Technik befreit
30 Tage lang habe ich fast alles Digitale aus meinem Leben verbannt. Mein Leben hat sich dabei stärker verändert, als ich es mir hätte vorstellen können …
Ich weiß nicht, warum ich Anfang Dezember ausgerechnet zu diesem Buch griff. Es war wohl ein spontaner Impuls, der mich »Digital Minimalism« von Cal Newport von meiner Wunschliste bestellen und samt einer Handvoll Geschenke von der Buchhandlung nach Hause tragen ließ. Ich fing direkt an zu lesen, daran war nichts Ungewöhnliches. Doch anders als bei so vielen angelesen im Regal landenden Büchern las ich weiter. In einem Rutsch, bis zum Schluss.
Jetzt, einen guten Monat später, weiß ich: Es war ein Glücksgriff. Klänge es nicht so albern, würde ich sagen: »Dieses Buch hat mein Leben verändert.« Wie es das angestellt hat?
Was digitaler Minimalismus wirklich heißt
Cal Newport fasst seine Philosophie des »Digitalen Minimalismus« auf eine kurze Formel:
Eine Philosophie der Technologienutzung, bei der wir unsere Onlinezeit auf eine kleine Anzahl von sorgfältig ausgewählten und optimierten Aktivitäten konzentrieren, die für uns wertvolle Angelegenheiten intensiv unterstützen, und auf alles Übrige freudig verzichten.
Im ersten Teil seines Buches beschreibt der Autor, wie wir in den letzten 15 Jahren Displays, Apps, soziale Medien, Streamingdienste, Messenger, News und so weiter mehr oder weniger unreflektiert in unser Leben haben einfallen lassen. Dabei hielten wir uns oft den positiven Nutzen vor Augen, etwa dass wir mit alten Freunden in Kontakt bleiben könnten und schneller informiert seien. Doch in Wahrheit überlagerten die negativen Effekte der digitalen Welt die positiven um ein Vielfaches. Sie raubten uns jeden Moment der Einsamkeit, der Reflexion und verstopften unser Bewusstsein. Der klare Horizont unseres Lebens verschwindet immer öfter hinter einer Kakophonie an Pushnachrichten. In der Folge fehlt uns die Zeit für echte Begegnungen und Erfahrungen, Angstzustände und psychischer Druck nehmen in der Folge immer mehr zu, zeigt Newport anhand eindrücklicher Zahlen.
Wenn du tiefer in diese Überlegungen einsteigen möchtest, lies einfach in den Buchauszug rein, den wir dazu Anfang des Jahres veröffentlicht haben:
Für mich funktioniert Newports Argumentation auf ganzer Linie. Seine Idee trifft bei mir auf einen wunden Punkt wie ein Dartpfeil ins Bull’s Eye: Ich habe oft das maue Gefühl, wahnsinnig viel an Geräten zu kleben, ohne wirklich etwas zu tun. Gleichzeitig ist immer zu wenig Zeit für anderes, Schönes da: Lesen, Kochen, Wandern. Wenn ich dann zu diesen Dingen komme, mischen sich eine Rastlosigkeit und Ungeduld in den Moment, die es mir erschweren, ihn zu genießen. Als fülle ein konfuser Nebel meinen Kopf.
Newport muss mich also nicht lange überzeugen. Deshalb geht es heute um den zweiten Teil seines Buches, das Umsetzen, das Zur-Tat-Schreiten: Wie schaffe ich es, mich aus den Klauen der Aufmerksamkeitsindustrie zu befreien und mich ihren präzise justierten »Zeit-Diebstahl-Werkzeugen« zu entziehen? Den Gefahren und Aufmerksamkeitsfressern zu entkommen, die hinter jedem Klick und Wisch lauern?
Dafür hat Newport mit Tausenden seiner Studierenden den »Digital Declutter« erprobt, eine Art Digitalentzug, auf den eine wohldurchdachte Neuordnung des digitalen Lebens folgt.
Digital Declutter: 30 Tage analog leben
Die Kernidee von Newport ist ein simpler 3-Schritt:
- Streiche zunächst 30 Tage lang alles Digitale, worauf du irgendwie verzichten kannst, aus deinem Leben.
- Reaktiviere im zweiten Schritt nicht-digitale Aktivitäten, die dir Freude und Zufriedenheit bringen, aufgrund von Zeitmangel aber schon lange unter den Tisch gefallen sind.
- Im dritten Schritt folgt die Neuordnung: Welche digitale Technik willst du wirklich zulassen in deinem Leben? Und wie setzt du sie so schlau und gewinnbringend ein, dass du nicht wieder in alte Muster verfällst und dass die Vorteile die Nachteile tatsächlich überwiegen?
Der Reihe nach. Wie für die meisten Menschen ist es für mich schlicht nicht möglich, ohne Computer zu arbeiten. Und wenn meine Mutter plötzlich 4 Wochen lang nichts mehr von mir hört, wird sie sich gehörige Sorgen machen. Deshalb gilt die Regel: Technologien, deren Wegfall zu ernsthaften Problemen im privaten oder beruflichen Umfeld führen können, dürfen mit klaren Regeln und aufs nötige Maß reduziert weitergenutzt werden.
Konkret lauten meine persönlichen Regeln für den Digitalentzug:
- Weniger Geräte: Als ersten Schritt habe ich für mich die Geräte reduziert, mit denen ich überhaupt hantiere. Das Tablet kommt in den Schrank, der PC wird abgebaut. Smartphone und Laptop genügen völlig, um alle »lebenswichtigen« Dienste zu nutzen.
- Keine sozialen Medien: Hier habe ich leichtes Spiel. Als äußerst sporadischer Nutzer von Twitter und Instagram fällt es mir nicht sonderlich schwer, auf soziale Medien komplett zu verzichten;
- Messenger aufs Minimum reduzieren: Bei den Messengern wird es heikler: Über
- Kein Gaming:
- Kein einsames Streaming: Meine Freundin und ich schauen
- Smartphone in die Schranken weisen: Die Messengerdienste sind bereits reguliert. Doch auch Podcasts und Musik hören, mit Maps navigieren, surfen und shoppen, das Wetter checken sowie jegliche Wissenslücke sofort mit Zement der Marke Wikipedia zuschütten – all das läuft ebenfalls übers Handy. Besonders nervig empfinde ich das immer wieder wie ferngesteuert ablaufende Durchwechseln durch eine Handvoll Newsportale, nur um am Ende doch nicht richtig zu lesen. Ein laut Cal Newport übrigens sehr typisches Verhalten vieler Smartphonenutzer.
Weil es zu viele Funktionen sind, die ich auf dem Handy nutze, kehre ich den Spieß um und
- Den Laptop verdummen: Ein Laptop kann so vieles gleichzeitig. Ich aber nicht. Wenn ich mich frage, was ich als Nächstes tue, starre ich deshalb nicht mehr standardmäßig auf meinen PC, sondern auf ein Blatt Papier, auf dem ein paar Notizen stehen. Habe ich entschieden, was ich tun möchte, ziehe ich den Rechner zielstrebig für exakt diese eine Aufgabe heran. Eine Erweiterung für den Browser, die die üblichen verdächtigen Websites, auf denen ich mich gern verliere, während der Arbeitszeit sperrt, hilft mir, bei der Sache zu bleiben.
Das ist mein Plan. Nachdem die Regeln gesetzt sind, kann es losgehen. Mir ist ein bisschen mulmig, aber es gibt kein Zurück.
Der Anfang: Ich habe mein Leben zurück!
In den ersten Tagen fällt mir vor allem ein stark ausgeprägter Reflex an mir selbst auf: Sobald ich eine Tätigkeit beendet habe und unklar ist, was ich als Nächstes mache, will ich nach einem digitalen Gerät greifen, wie nach einem rettenden Strohhalm – nur geht das eben nicht. Also gewöhne ich mir schleunigst als Ersatzhandlung an, ein Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen. Eine gute Entscheidung, wie sich bald herausstellt.
Das Buch wird für mich in den nächsten Tagen zu einer Art Zigarette werden, die mir in nervösen Momenten Halt gibt. Sobald ich nicht genau weiß, was ich tun soll, bei jedem mich in Versuchung bringenden Gedanken, nur einmal schnell die News oder den Fußball-Ticker zu checken, stecke ich mir eine an. Nehme das Buch, lese 2 Sätze, und schon ist die Versuchung verflogen, sind die Gedanken in frische Bahnen gelenkt. Das funktioniert überraschend gut – und ist auch nicht krebserregend!
Und überhaupt das Lesen: Innerhalb von 4 Wochen verschlinge ich ganze 10 Bücher. Zwar sind einige davon kurze Büchlein und in der freien Zeit zwischen den Jahren habe ich auch besonders viel Zeit fürs Schmökern. Aber dennoch: So
Nach einiger Zeit ändert sich etwas Grundlegendes in mir. Viele Dinge, die ich zuvor als zeitfressenden Ballast empfunden habe, mache ich nun mit einer gewissen Genugtuung und Zufriedenheit: Ich koche aufwendig, spiele geduldig mit meiner Tochter und putze sorgfältig mein Fahrrad. Was soll ich auch sonst tun nach Feierabend? Ich mache all das langsamer und bewusster als vorher. Ich lasse mich gern drauf ein, statt nur möglichst schnell fertig werden zu wollen. Auf Tätigkeiten, für die ich stets glaubte, abends zu müde zu sein, stürze ich mich nun freudig. Eins nach dem anderen statt alles gleichzeitig. Der Nebel in meinem Kopf hat sich gelichtet.
Cal Newport betont in seinem Buch, wie wichtig es in dieser Phase ist, nach neuen, zufriedenstellenden und sinnstiftenden Beschäftigungen Ausschau zu halten. Sie sind schließlich einer der Gründe, warum ich mich überhaupt um einen minimalistischen Umgang mit zeitfressender Elektronik bemühe. Gleichzeitig werden sie es auch sein, die mich später davon abhalten, in alte Muster zurückzufallen.
Ein Schrecken fährt mir in die Knochen, als meine Freundin mir zurückspielt, ich hätte mich seit Langem nicht mehr so entspannt und ausdauernd mit ihr in den Abendstunden unterhalten.
Ein Örtchen, das ich lange nicht einmal aufsuchen konnte, ohne die kurzen Unterhaltungshappen meines Smartphones in der Hosentasche zu wissen, ist jenes der Stille. Dem Zeithorizont weniger Minuten, die ich mich hier für gewöhnlich aufhalte, werden die meisten Bücher nicht gerecht. So freue ich mich, als ich ein gutes Buch finde, das in sehr kurze, abgeschlossene Kapitel unterteilt ist. Wie Twitter, nur schlauer und auf Papier.
In dem Buch geht es um die negativen Effekte des massenhaften Newskonsums – und wie wir diesen zurückschrauben können. Beim Lesen merke ich, dass der Digitale Minimalismus auch dieses Problem für mich gelöst hat. Denn: Ich lese ja keine News mehr auf dem Handy oder auf dem Laptop. Podcasts und Nachrichtensendungen im Fernsehen sind keine Option. Aber auch gedruckte Zeitungen habe ich in der ganzen Zeit kaum in der Hand gehabt, ohne mich bewusst davon abzuschirmen. Das erste Mal seit Langem habe ich für mich umgesetzt, wofür Perspective Daily ja auch steht:
Die nächsten Wochen: Digitaler Minimalismus schwappt ins Analoge
Die neue digitale Ruhe lässt nach einigen Wochen den Wunsch in mir aufkommen, auch in meinem physischen Leben mehr Ruhe und Ordnung zu schaffen. Ich mache mich ans Ausmisten. Ob Keller, Kleiderschrank oder Küchenregale, alles quillt über. Bücher müssen verkauft, Spielsachen weitergereicht und alte Fahrradteile verschenkt werden. So reaktiviere ich kurzerhand den alten Kleinanzeigen-Account und mache mich ans Werk. Fotografieren, beschreiben, verhandeln, verabreden, verkaufen. Unser Küchenfenster zur Straße wird zu einer rege frequentierten Abgabestelle für Gebrauchtwaren. Zu meiner Überraschung erzielen einige meiner Altlasten aus dem Keller noch überraschend gute Preise im Netz. So wird auch aus dem Verhökern schnell ein belohnendes und lohnenswertes Hobby.
»Was machst du eigentlich die ganze Zeit am Handy? Ich dachte du machst Digital Detox?«, höre ich irgendwann von meiner Freundin. Sie hat mich ertappt. Im 15-Minuten-Takt checke ich die Kleinanzeigen-App, um zu sehen, ob es eine neue Anfrage gibt.
Die neue digitale Ruhe lässt den Wunsch in mir aufkeimen, auch in meinem physischen Leben mehr Ruhe und Ordnung zu schaffen.
Ob wieder was verkauft ist. Der orangefarbene Kreis, der mir anzeigt, dass neue Nachrichten im Postfach der App liegen, ist mein neuer digitaler Fixpunkt geworden. Und wenn ich ehrlich bin: Ab und zu schaue ich, wenn ich schon da bin, noch ein paar andere News nach. Und bei den Messengern.
Die motivierende Lektüre des Buches liegt inzwischen immer weiter zurück. Die anfängliche Euphorie darüber, dass ich mein Leben und meine Zeit zurückgewonnen habe, verflüchtigt sich. Und so haben sich ein paar kleine Marotten wieder eingeschlichen. Merkt ja keiner, denke ich mir. Und dabei merke ich nicht, dass ich mich selbst aufs Glatteis geführt habe.
Digitaler Minimalismus ist mehr als Digital Detox
Mittlerweile sind 30 Tage rum. Bis auf kleine Patzer ist mir das digitale Entrümpeln gut gelungen. Wie positiv und erleichternd ich die Effekte empfinde, die das auf mein Leben hat, habe ich ausführlich beschrieben. Doch wie geht es weiter?
Ich möchte Podcasts, Computerspiele und Messenger-Apps nicht ganz aus meinem Leben verbannen. Aber ich weiß auch: Ohne klare Regeln laufe ich Gefahr, es einreißen zu lassen. Dann wird aus einmal News checken schnell 10-mal News checken, aus täglich lesen wieder wöchentlich lesen und aus klarem Blick wieder diesiger Kopf. Das will ich nicht.
Also müssen neue Regeln her:
- Streaming: Ich schaue weiter mit meiner Freundin. Und allein erst mal nur Serien fertig, die ich schon angefangen habe.
- Messenger: Ich schaue einmal am Tag, am Mittag, nach, ob ich Nachrichten erhalten habe. Wenn ich jemandem dringend etwas Kurzes mitteilen will, kann ich es schreiben, solange das Handy im Flur liegen bleibt. Für alles, was länger als 3 Zeilen ist, rufe ich einfach an.
- Geräte: Das Tablet nutzt künftig meine Freundin, die gerade ohnehin ihren Laptop an die Arbeit zurückgeben musste. Den Spiele-PC habe ich dank hoher Chippreise gewinnbringend verkauft.
- Smartphone: Das Smartphone behält seinen Platz im Flur, die meisten Apps bleiben deinstalliert. Was die Podcasts angeht: Aus der langen, langen Liste an Podcasts wähle ich 5 Stück aus, die ich auch wirklich regelmäßig höre.
Aber ich kenne mich und weiß, dass dieses Regelwerk genügend Schlupflöcher und Hintertürchen bietet, durch die schlechte Gewohnheiten wieder einziehen können. Ein komplett wasserdichtes Manifest zu verfassen ist aber ohnehin unmöglich. Wichtiger ist: Mein eigenes Verhalten im Auge zu behalten. Regeln anpassen, nachbessern. Und vor allem: Ehrlich zu mir selbst sein. Ich muss dranbleiben, bis Regeln zu Routinen werden. Bis mir mit der Zeit die Lust auf leere Digitalkalorien vergeht, wie die Vegetarierin mit den Jahren den Appetit auf Fleisch verliert.
Auf manch einen mag der ganze Aufwand manisch und übertrieben wirken. Ein Wahn der Selbstkontrolle. Aber als Gegenwehr gegen all die Aufmerksamkeitsverführungen des Digitalen geht es vielleicht nicht anders.
Oft kommen mir neue Ideen, wie ich es besser machen kann, wenn ich abends im Bett liege. Die notiere ich in einem schönen schwarzen Notizbuch. Das führe ich seit 30 Tagen nämlich auch endlich regelmäßig.
Früher hat mir dafür einfach die Zeit gefehlt.