Was das 9-Euro-Ticket geleistet hat und wie es weitergeht
Fast jede dritte Person in Deutschland hat im Juni ein solches Ticket besessen. Leider endet das Angebot bald. Wir ziehen Bilanz und zeigen, was es hierzulande angestoßen hat und welche Schwachstellen wir im ÖPNV beheben müssen.
»Genieße dein Leben in vollen Zügen«, diesen Satz könnte die Deutsche Bahn momentan als Leitspruch nehmen. Denn dank des 9-Euro-Tickets sind Busse und Bahnen so gut gefüllt wie lange nicht mehr.
Fast jede dritte Person in Deutschland hat im Juni ein 9-Euro-Ticket besessen.
Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, haben die Bahn- und Busunternehmen sogar ihre Reservefahrzeuge herausgeholt und auf die Straße und Schiene gebracht. Das lastet vor allem die Schienenwege weiter aus und in Notfällen fehlen die Reservefahrzeuge, wie Eike Arnold, Pressesprecher vom VDV, bestätigt.
Doch all das hat auch Schattenseiten:
Im Juni erreichten nur 58% der
Trotzdem wird das 9-Euro-Ticket von der Deutschen Bahn, dem VDV, vielen Medien und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) als voller Erfolg gefeiert. Denn das günstige Aktionsticket hat viele Menschen dazu bewegt, die öffentlichen Verkehrsmittel auszuprobieren – sogar die, die sie vorher kaum benutzt haben.
Sozial- und Umweltverbände fordern einen dauerhaft günstigeren und sozialverträglicheren Nahverkehr. Die Deutsche Umwelthilfe schlägt ein deutschlandweites 365-Euro-Klimaticket vor, also rund 30 Euro im Monat. Der VDV hält ein 69-Euro-Monatsticket dagegen. Viele Nutzer:innen des öffentlichen Nahverkehrs –
Die Frage ist: Was soll nach dem 9-Euro-Ticket kommen? Welche Schlüsse können wir aus dem Testballon der ersten 3 Monate ziehen? Und was braucht es wirklich für einen günstigeren und sozialverträglicheren Nahverkehr?
Die erste Zwischenbilanz des 9-Euro-Tickets
Was sind deine Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket?
Das habe ich vergangene Woche die Menschen gefragt, die Perspective Daily auf der Social-Media-Plattform Instagram folgen. Einige haben sich bei uns gemeldet und uns ihre Erfahrungen geschildert. Die Antworten sind sehr unterschiedlich und geben einen Überblick über die verschiedenen Wahrnehmungen und Lebensrealitäten.






Die Antworten decken sich mit den ersten repräsentativen Umfrageergebnissen zum 9-Euro-Ticket vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Deutschen Bahn AG,
- Das deutschlandweite Ticket wird gut angenommen. 70% der Befragten gaben den günstigen Preis als Top-Kaufgrund an, gefolgt vom Verzicht auf Autofahrten (39%), der flexiblen Nutzung am Wohnort (38%) sowie der deutschlandweiten Gültigkeit.
Im Juni wurden die Züge im Nahverkehr durchschnittlich 10–15% stärker genutzt als in der Zeit vor der Coronapandemie, - Viele probieren den ÖPNV aus. Fast jeder fünfte befragte Mensch ist vorher nur selten Zug oder Bus gefahren. Was wiederum dafür sorgte, dass die Verkehrsunternehmen mehr Personal an Zug- und Busbahnhöfen einsetzen mussten, das den Reisenden bei Fragen und zur Orientierung zur Seite stehen kann.
Derzeit sucht die Deutsche Bahn 20.000 neue Mitarbeiter:innen. Nach den jahrelangen Sparrunden muss die Bahn für den Aus- und Aufbau des Netzes nun massiv in die Belegschaft investieren,
2 weitere Trends ordnet der VDV eher skeptisch ein:
- Die Zusatzfahrten sind stark gestiegen: So nutzten viele das Ticket für Ausflüge, um Freund:innen zu besuchen oder in den Urlaub zu fahren. Fast jede vierte Fahrt mit dem 9-Euro-Ticket, einschließlich der Fahrten der Abo-Kund:innen, wäre ohne das Ticket von vornherein gar nicht unternommen worden – weder mit dem Auto noch dem Fahrrad. Das ist laut VDV eine Zusatzbelastung für das System und die Umwelt, dass mehr Bahnen und Busse eingesetzt werden mussten. Wie viele Urlaubsflüge durch das 9-Euro-Ticket jedoch potenziell vermieden worden sind, wurde nicht abgefragt.
- Nicht allzu viele lassen das Auto für den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) stehen. Im Juni wurden nur für 3% der Fahrten das Auto stehen gelassen. Und das, obwohl 39% der Befragten es als Motivation zum Ticketkauf angegeben hatten. Grund dafür sind wahrscheinlich die fehlenden
Dennoch konnte der Navigationssystemhersteller

Das 3-Monats-Angebot verändert also nachweislich unser Fortbewegungsverhalten. Die ersten Daten stützen die Vermutungen, die viele bereits hatten: Günstigere und einfach buchbare Nahverkehrstickets sind ein guter Anfang, da sie mehr Menschen dazu bewegen, vermehrt Bus und Bahn zu nutzen. Sie werden jedoch niemanden für den Bahnverkehr begeistern und lösen nicht das Grundproblem: fehlende Anbindungen und Angebote. Das derzeitige Verkehrssystem ist (noch) nicht dafür ausgelegt, täglich solche Massen zu transportieren oder gar Menschen dazu zu bewegen, von dem Auto auf Bus oder Bahn umzusteigen.
»Der Ticketpreis ist oft nur zweitrangig«, sagt Eike Arnold. »Es gibt viele Menschen, die den öffentlichen Nahverkehr auch mit kostenlosen Tickets nicht benutzen, da sie es nicht können.« Um es in Zahlen zu fassen: Rund 1/3 der Menschen, meist jene, die in deutschen Großstädten und ihren Speckgürteln leben, steht ein sehr guter öffentlicher Nahverkehr zur Verfügung. Für etwa 2/3, also die, die in kleineren Städten, im Umland und im ländlichen Raum wohnen, ist das Angebot deutlich geringer und manchmal nicht ausreichend. Auch dort gibt es ein dichtes Netz an Haltestellen. Doch nur die Hälfte der ländlichen Haltestellen wird mehr als 2-mal pro Stunde angefahren. Das zeigt eine Analyse der Deutsche-Bahn-Tochter ioki
Warum sind die deutschen ÖPNV-Ticketpreise so undurchsichtig?
Es gibt rund 75 Verkehrsverbünde und etwa 450 Unternehmen im öffentlichen Personennahverkehr. Fast jeder Verbund mit einem eigenen Tarifsystem. Wer also in Frankfurt in den Bus steigt, bezahlt einen anderen Preis als in Berlin, Mannheim oder Münster. Darum ist die Idee eines bundesweiten Tickets zum gleichen Preis so verlockend unkompliziert. Dafür müssen allerdings alle Unternehmen und Tarifsysteme in Absprache mit den Kommunen und Ländern unter einen Hut gebracht werden.
Was soll das 9-Euro-Ticket überhaupt leisten?
Die Schwächen des öffentlichen Nahverkehrs sind den Verkehrsunternehmen und der Politik schon vor dem 9-Euro-Ticket bekannt gewesen. Die Ticketaktion war auch offiziell kein Testballon, um zu schauen, wie viele Menschen sich für den öffentlichen Nahverkehr begeistern oder das Auto stehen lassen. Obwohl es in den Medien oft so rüberkommt.
Das 9-Euro-Ticket ist in erster Linie Teil des inflationsbedingten Entlastungspakets der Regierung, genauso wie der Tankrabatt. Dieses Ziel erreicht es. Abo-Kund:innen wurden ihre Tickets automatisch vergünstigt, auch Arbeitgeber:innen konnten den Jobticketzuschuss auf 9 Euro kürzen und Schnäppchenjäger:innen konnten zuschlagen. Doch am wichtigsten: Haushalte mit niedrigen Einkommen, die maximal einen Euro pro Tag für Nahverkehr ausgeben können und normalerweise durchs Raster fallen, wurden entlastet.
Und noch eines hat das Ticket geschafft: Es hat die längst überfällige Debatte um eine zügige,
Der Rest stammt aus Zuschüssen von der öffentlichen Hand, die der Bund den Ländern jährlich für den ÖPNV zur Verfügung stellt. Dazu gehören etwa Erstattungszahlungen für die kostenlose Beförderung schwerbehinderter Personen. Hinzu kommt noch ein Dschungel aus Fördertopfgeldern für Innovationen und Verlustausgleichgelder sowie Mineralölsteuervergütungen für Kraftstoffe. Wofür genau die Gelder schließlich eingesetzt werden, kann jedoch nur schwer nachverfolgt werden. Darum fordert der Bundesgerichtshof aktuell
Der ÖPNV kommt nicht ohne öffentliche Finanzmittel aus
Das machen die Zahlen aus dem Jahr 2018 deutlich, die im August 2021 vom Bundestag veröffentlicht worden sind. Der ÖPNV hat im Jahr 2018 ungefähr 25,5 Milliarden Euro gekostet. 48% stammten aus Fahrgelderlösen, 52% aus Zuschüssen der öffentlichen Hand. Angaben in %.
Wie geht es nun weiter?
Soll das 9-Euro-Ticket verlängert werden? Könnte es durch ein Klimaticket abgelöst werden? Oder sollten wir das Geld nicht lieber in den Ausbau von Angebot und Infrastruktur stecken?
Die öffentliche Debatte dreht sich, wie so oft, ums Geld. Umwelt- und Sozialverbände, Verkehrsunternehmen und die Fahrgäste löchern die Bundesregierung derzeit mit Fragen und Forderungen, wie es nach dem 9-Euro-Ticket weitergehen kann. Das Interesse nach einem unkomplizierten, günstigeren Nahverkehr ist groß. Alle Seiten haben ihre eigenen Vorstellungen:
- Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fordert ein 365-Euro-Klimaticket. Ihr Vorschlag: Ein Jahresticket, das 365 Euro kostet
Konkrete Finanzierungspläne für das Ticket hat die DUH nicht. Als Vorbild nimmt die Umweltorganisation Österreich. Unser Nachbarland hat vergangenes Jahr
Wer nicht durch das ganze Land pendeln muss, kann auch regionale Jahrestickets für einzelne Bundesländer kaufen. Das bekannteste Ticket ist wohl das 365-Euro-Ticket in Wien. Das Klimaticket läuft gut, doch auch Österreich hat mit - Die Arbeit hat ihnen jedoch Greenpeace abgenommen. Sie machen sich für ein Klimaticket wie das 365-Euro-Ticket stark, würden aber auch die Fortführung des 9-Euro-Tickets gutheißen.
Eine andere Art der Finanzierung macht derzeit Spanien vor: Das Land plant, seinen ÖPNV von September bis Ende des Jahres kostenlos anzubieten. Bisher gibt es Rabatt von 50% auf die Tickets des - Der VDV hält ein etwas mehr als doppelt so teures Angebot dagegen: ein
Die Verkehrsunternehmen und -verbünde seien laut Arnold vom VDV bereit, mithilfe von Bund und Ländern ein Klimaticket möglich zu machen. Doch brauchen sie einen klaren Auftrag dafür und die nötige finanzielle Unterstützung. »Es darf nicht wie beim 9-Euro-Ticket ablaufen, von dem die Verkehrsunternehmen durch die Medien erfahren haben. Es wurde nicht mit der Branche abgesprochen, was unüblich ist«, so Arnold.
Und die Bundesregierung?
Die kann sich ein Klimaticket vorstellen, doch frühstens ab 2023. Wie und ob der Bund die Verkehrsunternehmen entlastet, ist noch unklar. Da der ÖPNV auf der Schiene Sache der Bundesländer und auf der Straße Sache der Städte und Kommunen ist. Verkehrsminister Wissing sieht daher die Umsetzung eines Klimatickets
So wie es jetzt aussieht, werden die Ticketpreise ab September wieder zum ursprünglichen Preisniveau zurückkehren und mittelfristig sogar steigen, da die Verkehrsunternehmen die steigenden Strom- und Betriebskosten decken müssen.
Dass ein Klimaticket her muss, scheint jedoch Konsens zu sein. Ebenso positiv ist, dass die Diskussion um die Ticketpreise auch wieder das Licht auf die fehlende Infrastruktur und Angebote wirft. Vielen Umweltorganisationen, dem VDV und auch der Bundesregierung ist klar, dass es sich nicht um eine »Entweder-oder«-Debatte handelt. Wir brauchen beides: Das Geld für bezahlbare, sozialverträgliche Tickets und den Ausbau des ÖPNV. Daran führt kein Weg vorbei, auch wenn wir in den nächsten Jahren lernen müssen, das Leben in vollen Zügen zu genießen – bis es sich bessert.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily