So wenig braucht es, damit uns die Anderen egal sind
Ja, auch dir! Wer die Anderen sind, entscheidest du in Sekundenschnelle. Und behältst dein Mitgefühl häufig für dich – oder richtest sogar großen Schaden an.
Zugunglück in Indien, 143 Passagiere sterben. Darunter ein deutsches Ehepaar, das anlässlich seiner Silberhochzeit eine Rundreise durch Asien gemacht hat. Die Story bestimmt die Schlagzeilen. Die trauernden Kinder des Ehepaars erzählen vor laufender Kamera vom Lebenstraum der Eltern, durch Indien zu reisen.
Die übrigen 141 Toten in Indien ohne Namen und Gesicht – und ohne deutschen Pass – sind lediglich eine Statistik. Ihre Geschichte interessiert uns nicht, wir fühlen nicht mit den Hinterbliebenen.
Flugzeugabsturz in Thailand, 98 Tote, darunter kein Deutscher. Das Unglück ist deutschen Medien nur eine kurze Meldung wert, während es in Großbritannien die Titelseiten bestimmt: Zu den Toten gehört eine englische Schulklasse mit 17 Schülern und 2 Lehrern.
»Wenn ich die Masse anschaue, werde ich niemals handeln. Wenn ich den einen anschaue, schon.« – Mutter Teresa
Es ist gut, dass wir Diese Studie zeigt, wie die Herkunft eines Flugzeugs die mediale Aufmerksamkeit bestimmt (englisch, 2017)exemplarischen Geschichten zeigen, dass Empathie häufig an nationalen Grenzen Halt macht: »Die Anderen« sind uns egal. Generell fällt es uns leichter, Wissenschaftsjournalist Michael Gross zur Frage, warum uns humanitäre Krisen häufig nicht empathisch werden lassen (englisch, 2017)Mitgefühl und Betroffenheit für einzelne Personen statt für Gruppen zu fühlen. Vor allem, wenn die Betroffenen »so sind wie wir«.
empfinden können. Doch die beiden zwar fiktiven, aber dennochIn Sekundenschnelle entscheidet unser Gehirn, wer unser Mitgefühl verdient und wer nicht. Wenn manche Politiker zunehmend in die Kerbe des Nationalismus schlagen und damit definieren,
lohnt es sich, den Sinn und Unsinn unserer empathischen Automatismen zu überdenken.Nationalismus beginnt beim Fußball
Auschnitt der Amstantrittsrede Donald Trumps (englisch, 2017)Von diesem Tag an wird eine neue Vision unser Land regieren. Von diesem Tag an wird es nur noch heißen ›Amerika zuerst‹.
Solche Aussagen machen eines klar: Sie ziehen eine klare Linie, die im konkreten Fall ein paar Tausend Kilometer lang ist und mit einer Betonmauer gezogen wird und im allgemeinen Fall zwischen Hier schreibt Han Langeslag über Autoritarismus und das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheitder sogenannten »In-Group« (»meine Gruppe«) und der »Out-Group« (»die Anderen«) verläuft. Alle, die zur In-Group gehören, sind klar definiert. Sie müssen sich ihre Zugehörigkeit nicht verdienen, sondern erhalten sie automatisch, weil sie amerikanisch, deutsch, französisch oder niederländisch sind. Mitgefühl und Empathie aller Zugehörigen ist ihnen gewiss. Die Zugehörigkeit bestimmt auch, wem wir helfen und wem nicht.
Wie stark dieser Effekt ist, lässt sich anschaulich an einem sehr ausgeprägten Gruppenphänomen zeigen: Fußball.
Studie mit britischen Fußball-Fans zur Hilfsbereitschaft (englisch, 2005)Bei einer Studie in Großbritannien wurde eine Gruppe leidenschaftlicher Manchester-United-Fans rekrutiert. Bei Ankunft im Labor wird ihnen mitgeteilt, dass es sich hier um ein Experiment mit Manchester-United-Fans handele. Auf dem Weg zum »eigentlichen« Raum des Geschehens begegnet ihnen jemand im Trikot des Erzrivalen Liverpool. Der stolpert und verletzt sein rechtes Bein. Reicht der Manchester-Fan seinem Rivalen eine helfende Hand?
Nein, in den meisten Fällen nicht. Trägt der stolpernde Statist der Wissenschaftler jedoch ein Manchester-Trikot, hilft ihm bald jemand auf.
Klar, Fußballfans – egal ob Liverpool, BVB, Schalke oder Bayern München – definieren sich darüber, zu einer Gruppe zu gehören. Wie schnell wir Gruppen formen, dabei willkürlich Menschen bevorzugen und andere vernachlässigen, hat allerdings nicht zwangsläufig etwas mit deren Trikotfarbe zu tun.
Gruppen funktionieren bereits über scheinbar belanglose Ähnlichkeiten, wie etwa einen farbigen Punkt hinter deinem Namen. Erste Studie zur minimalen Gruppenbildung und Geldverteilung (englisch, 1997)Geben Wissenschaftler Versuchsteilnehmern eine Liste mit willkürlichen Namen, auf der jeder Eintrag entweder mit einem blauen oder einem roten Punkt markiert ist,
Ist eine Gruppe einmal gebildet,
- Wertigkeit: Die eigene Gruppe wird im Vergleich zu anderen Gruppen als höherwertig angesehen.
- Identifikation: Studie zur Gruppenidentifikation (englisch, 1994)Je stärker sich Teilnehmer mit der eigenen Gruppe identifizieren, desto stärker wird die eigene Gruppe bevorzugt.
- Verteidigung: Wenn Gruppenmitglieder das Gefühl haben, dass In unserem vorherigen Text geht es um die Voreingenommenheit, die unsere eigenen Überzeugungen mit sich bringtdie Werte der eigenen Gruppe hinterfragt werden, betonen sie die Besonderheit der eigenen Gruppe und die Schwäche anderer.
- Schadenfreude: Scheitert eine andere Gruppe, kommt es zur Schadenfreude auf Gruppenebene. Die ist besonders stark, wenn es um einen Bereich geht, der relevant für die eigene Gruppe ist, und Studie zur Wahrnehmung von Schadenfreude, wenn die andere Gruppe leidet (englisch, 2003)wenn unklar ist, ob die eigene Gruppe in dem Bereich überlegen ist.
Empathie ist der Klebstoff menschlichen Zusammenlebens …
Sobald wir Ähnlichkeiten mit anderen definiert haben, fällt es uns leichter, Empathie für sie zu empfinden: Sie sind nicht mehr »die Anderen«, sondern Teil der »In-Group«. Empathie ist also der Klebstoff menschlichen Zusammenlebens.
Wie schnell die Gruppenbildung vonstatten geht, zeigen die erwähnten Verhaltensexperimente. Wie schnell unser Gehirn uns signalisiert »Du gehörst (nicht) dazu«, haben Neurowissenschaftler ebenfalls bereits erforscht. Zum Beispiel, indem sie schauen, wann und wie unser Gehirn auf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe reagiert.
Das Gehirn signalisiert, wer dazugehört und wer nicht

Bist du hellhäutig und schaust Bilder von dunkelhäutigen Menschen an, Review-Studie zur Wahrnehmung unterschiedlicher ethnischer Gruppe (englisch, 2012)ist das für dunkelhäutige Menschen genauso. Das Ganze lässt sich anhand von und passiert wahnsinnig schnell: Bereits nach etwas mehr als einer Zehntelsekunde unterscheidet unser Gehirn zwischen unterschiedlichen Hautfarben des Gegenübers. erfolgt Inwieweit dabei Grenzen verschwimmen können, schreibt Gastautorin Jolinde Hütchker hierdie Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Diese Kategorisierung unseres Gegenübers erfolgt, bevor wir anfangen, darüber nachzudenken, in wessen Augen wir gerade schauen.
als wenn du in ein hellhäutiges Gesicht siehst. UmgekehrtKategorisiert wird auch bei der Frage: Wem reichen wir die Hand und wem nicht? Zurück zu Fußballfans und Empathie. Diese Studie zeigt: Das Gehirn von Fußball-Fans reagiert anders auf gegnerische Fans als auf eigene (englisch, 2010)Neurowissenschaftlerin Tania Singer und ihr Team wollten wissen, was das Gehirn deutscher Fußballfans macht, wenn ein Anhänger des gegnerischen Vereins leidet. Sieht ein BVB-Fan zu, wie einen schmerzhaften elektrischen Schock bekommt, steigt die Aktivität im Das ist die Gehirnregion, die normalerweise aktiv ist, wenn wir belohnt werden und uns gut
… und Empathie ist gleichzeitig auch Treibstoff gesellschaftlicher Konflikte.
Hat der Dortmund-Fan die Möglichkeit, das Leid des Gegenübers zu mindern, indem er selbst einen halb so starken Elektroschock verabreicht bekommt, überrascht seine Wahl kaum: Handelt es sich dabei um einen weiteren Dortmund-Fan, willigt er eher ein, als wenn er dem Schalke-Fan mit dem schmerzverzerrten Gesicht Übersichtsstudie zur Empathie-Wahrnehmung zwischen Gruppen (englisch, 2011)für Gruppen anderer Art, die miteinander im Wettbewerb stehen.
Beim tatenlosen Betrachter des verhassten Gegners zeigt sich: Das gleiche Muster von Gehirnaktivität offenbaren Studien auch»Im Laufe der Geschichte unserer Spezies wurde der Konflikt zwischen Gruppen durch die Kategorisierung unseres sozialen Umfelds in ›wir‹ vs. ›die anderen‹ bestimmt.« – Robert Kurzban, amerikanischer Psychologe
Unser Verhalten und unser Gehirn bestätigen also, dass unsere Empathie vor allem der eigenen Gruppe gilt – gegenüber der »Out-Group« bringen wir im Durchschnitt weniger Mitgefühl auf.
Empathie ist nicht nur Klebstoff menschlichen Zusammenlebens, sondern gleichzeitig auch Treibstoff gesellschaftlicher Konflikte – nämlich immer, wenn die »Out-Group« ins Spiel kommt. Egal wie gern einige Politiker in lautstarken Reden die eigene Gruppe abgrenzen, in der Realität sind wir niemals nur Mitglied einer Gruppe.
Wie viele Gruppen bist du?
Hier fordern Juliane Metzker und Maren Urner die Männerperspektive für FrauenbewegungenMann oder Frau. Hellhäutig oder dunkelhäutig. Europäer oder Asiate. Alt oder jung. Dortmund-Fan oder Schalke-Fan. Radfahrer oder Autofahrer. Wie vielen Gruppen wir angehören, zeigt dieses dänische Werbevideo eindrücklich (englisch untertitelt)Einsam oder nicht.
Die Liste ließe sich fast beliebig fortführen und macht deutlich: Wir gehören vielen Gruppen an, je nach Situation ist die eine wichtiger als die andere. Sobald wir das Licht der Welt erblicken, gruppieren wir Menschen und entscheiden, wem wir vertrauen oder nicht.
Was sorgt dafür, dass wir unser soziales Umfeld gruppieren – und die eigenen Gruppen gegenüber den anderen bevorzugen? Das, was wir kennen. So bevorzugen Babys Muttersprachler. Studie zur Sprach-Vorliebe von Babys (englisch, 2007)Sie nehmen ein Spielzeug lieber von jemandem an, wenn derjenige die vertraute Sprache der Eltern spricht.
Siehst du dich als Erstes als Deutscher, Schweizer, Österreicher, Europäer oder Weltbürger?
Die eigene Sprache ist stärker als das Aussehen: Im Alter von 5 Jahren bevorzugen Kinder Freunde, die die gleiche Sprache sprechen – Diese Studie zeigt, dass Sprache wichtiger ist als die Ethnie (englisch, 2009)es ist egal, welche Hautfarbe diese haben.
Solche Faktoren werden wichtig, wenn es zum Streit oder zum Konflikt kommt. Das ist evolutionär ein altes Prinzip, das bereits Einzeller zeigen: So zeigen Amöben soziales Verhalten, indem sie mit verwandten Amöben migrieren und ihre
Auch wir Menschen entscheiden über die Verteilung von Ressourcen anhand von Gruppenzugehörigkeiten.Wenn beispielsweise Politiker und Fußballfans die Welt in »Heimische« und »Fremde«, in »Freunde« und »Gegner« aufteilen, unterschlagen sie einen wichtigen Aspekt von Gruppen: Die Grenzen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern flexibel.

Gruppengrenzen verstehen und verschieben
Gruppenzugehörigkeiten – und damit So sehr beeinflusst unsere Identität unser Weltbildunsere eigene Identität – sind alles andere als statisch. Wie schnell wir von einer zur anderen Gruppe wechseln und damit auch bestimmen, wie weit unsere Empathie reicht, bestimmt unser Gehirn, beziehungsweise die Gruppen-Merkmale, die wir gerade im Kopf haben.
Das zeigen eindrücklich die Ergebnisse des zweiten Teils der Studie mit den Manchester-Fans. Bekommen sie zu Beginn gesagt, dass in der Studie britische Fußballfans erforscht werden sollen, reichen sie den verletzten Liverpool-Fans viel öfter eine helfende Hand. Die Erklärung hinter dem veränderten Verhalten: Jetzt sehen sich die Manchester-Fans in erster Linie als Fußballfans – eine Gruppe, zu der auch Liverpool-Fans gehören.
»Eine gesunde Demokratie funktioniert nur, wenn die Definition von Identität ständig hinterfragt wird.« – Stephen Reicher, britischer Sozialpsychologe
Das gleiche Prinzip wenden wir auch bei der nationalen Identität an: Wer in der »In-Group« ist, hängt davon ab, ob wir Nationalität über die ethnische oder die bürgerliche Identität bestimmen. Sehen wir ein asiatisch
Wie fließend die Einteilung ethnischer Kategorien ist, wird sich in Zukunft noch stärker zeigen. Ist ein Mädchen mit deutsch-koreanischen Eltern Europäerin oder Asiatin? Und Wie schwierig die Sache mit der »Rasse« ist, zeigt dieser vox.com-Artikel (englisch, 2016)welcher ethnischen Gruppe gehören ihre Kinder an, die sie mit einem Afrikaner zeugt, dessen Eltern aus den USA und Griechenland kommen …?
Wenn westliche Politiker über Migration sprechen, betonen sie häufig, dass zunehmende Migration zu zunehmenden Spannungen führt, weil sich die einheimische Bevölkerung in ihrer Identität bedroht fühle. Ist das wirklich so?
Tatsächlich Meta-Studie und Buchkapitel über 500 Einzelstudien weltweit zu Gruppendynamiken (englisch, 2016)zeigen Studien weltweit, dass, sobald Kontakt zwischen verschiedenen Gruppen entsteht, Hier schreibt Juliane Metzker über Stereotype und wie wir sie aufbrechen könnenÄngste abgebaut und Gruppen auf praktischem Wege neu definiert werden. Das erklärt, warum nationalistische Parteien in Städten im Mittel weniger Chancen haben als auf dem Land – wo der Kontakt zum »Fremden« geringer ist. Dabei ist es wichtig, die Möglichkeiten für positive Begegnungen zu erhöhen, in denen Hilfsbereitschaft gezeigt werden kann und geteilte Erfahrungen das Gemeinsame betonen – genau wie bei den Fußballfans.
Ist die Rede von der einen deutschen, amerikanischen, französischen, Hier schreibt Han Langeslag über die niederländischen Wahlen im März 2017niederländischen oder schottischen Identität, macht der Redner mindestens 2 gefährliche Fehler. Erstens zieht der Sprecher eine klare Grenze, die es meist nicht gibt – die Zuhörer ordnen zu und sortieren aus, ohne darüber nachzudenken. Zweitens ist jede Aussage, die gruppiert, Nährboden für das beschriebene Gruppenverhalten. Und bestimmt damit automatisch, wie weit unsere Empathie reicht.
Wie können wir die Klebstoff-Funktion der Empathie nutzen? Indem wir nicht an alteingesessenen Zugehörigkeiten und Identitäten festhalten, sondern Hier schreibt David Ehl über ein mögliches Ziel für ein vereintes Deutschlandüber gemeinsame Ziele für die Zukunft sprechen – egal ob als Mutter, als Radfahrer, als Besucher, als Pfadfinder, als Bürger eines Landes oder als Politiker.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Kritischen Denken!
Mit Illustrationen von Robin Schüttert für Perspective Daily