Hat Putin mit der Invasion der Ukraine sein eigenes Ende eingeleitet?
Dieser Frage gehen die beiden Autoritarismus-Forscherinnen Andrea Kendall-Taylor und Erica Frantz .
Sie glauben: Putins Herrschaft könnte bedroht sein, wenn die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst und zu Protesten führt. Oder wenn sich die Eliten – Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und dem Sicherheitsapparat – gegen Putin wenden, weil sie ihre Privilegien bedroht sehen. Ein Führungswechsel oder gar Wandel des Systems sei zwar schwer vorherzusagen. Aber er könne schneller kommen, als man meint:
Diktaturen erscheinen stabil. Bis sie es nicht mehr sind.Andrea Kendall-Taylor und Erica Frantz
Mit anderen Worten drückt es die Osteuropahistorikerin Joy Neumeyer aus, und zieht einen historischen Vergleich: Anfang des Jahres 1917 war Lenin noch überzeugt davon, die herbeigesehnte Revolution nicht mehr zu erleben.
Von einer ähnlichen Entwicklung gehen zurzeit gleich mehrere Russlandexpert:innen aus: Sie meinen, dass Putin schon 2023 den Präsidentenpalast verlassen könnte – .
Wie realistisch ist diese Vision?
Um eine Antwort zu finden, habe ich mich mit der russischen Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann getroffen, die im letzten Jahr für ein Stipendium der Robert Bosch Stiftung nach Berlin gekommen ist. Schulmann gehört zu den bekanntesten Stimmen Russlands.
Wir haben darüber gesprochen, was das Ende von Putins Regierung bedeuten würde – für die Zukunft Russlands, den Krieg in der Ukraine und die Beziehungen zu Europa und dem Westen.
Julia Tappeiner:
Seit Anfang des Jahres 2023 zirkuliert in Russland das Gerücht, Putin könnte bald eine zweite Mobilisierungswelle starten, um noch mehr Männer für seinen Krieg zu rekrutieren. Könnte dies zu Protesten führen, die Putins Macht ins Wanken bringen?
Ekaterina Schulmann:
Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns die erste Welle der Mobilisierung ansehen, und welche Lehren das politische System daraus gezogen hat. Die Mobilisierung hat zwar nicht zu weit verbreiteten Protesten geführt. Jedoch haben grob geschätzt für jede mobilisierte Person 3 andere Personen das Land verlassen oder ihren Wohnort in Russland gewechselt. Das war ein Schock für das System, denn damit gingen wichtige Arbeitskräfte verloren, besonders im IT-Bereich. Eine zweite Mobilisierung wird die Regierung deshalb vermeiden wollen wie die Pest. Was nicht heißt, dass sie nicht kommen wird.
Hat die Mobilisierung die Menschen wachgerüttelt?
Ekaterina Schulmann:
Für die Mehrheit der russischen Bevölkerung war der 21. das, was der 24. für die besser Ausgebildeten war. Sie werden sich jetzt fragen: Wie kann das sein? Aber stellen Sie sich vor, Sie schauen nur 15 Minuten am Tag Nachrichten im Fernseher. Dort erzählt jemand etwas über die Ukraine. Aber ähnliche Geschichten erzählen sie dort schon seit 8 Sie hören davon, dass Russland alles tut, um das Volk zu schützen. Offensichtlich läuft also alles gut. Sie bekommen weiterhin ihren Lohn, die ausländischen Sanktionen sorgen Sie daher wenig. Aber dann, im September, klopft es plötzlich an Ihre Tür. Das verändert alles.
Dieser Wandel hat der Regierung Angst gemacht. Das entnehme ich der abrupten Art und Weise, .
Der Enthusiasmus fehlte nicht nur in der Bevölkerung, sondern es gibt Hinweise darauf, dass sogar regionale Behörden die Mobilisierung zum Teil sabotiert haben. Vor allem in den kleineren Orten, wo sich alle Leute kennen. Da ist es klar, dass ein lokaler Bürokrat nicht allzu erpicht darauf ist, den Lehrer seiner Kinder oder den Nachbarsjungen in den sicheren Tod zu schicken.
Heißt das, die Loyalität zu Putin schwächelt, ein Staatsstreich ist möglich?
Ekaterina Schulmann:
Die einzige ehrliche Antwort ist, dass wir es nicht wissen. Statistisch gesehen fallen personalisierte wie Russland eine ist, jedoch häufiger durch Staatsstreiche als durch externen Druck oder durch Proteste der Bevölkerung. Das klingt weniger edel als die Geschichte des mutigen Volkes, das sich gegen seinen Diktator auflehnt.
»Personalisierte Autokratien wie Russland fallen häufiger durch Staatsstreiche als durch externen Druck oder Proteste der Bevölkerung«
Aber die Politikwissenschaft weiß: In personalisierten Autokratien liegt die Macht ausschließlich beim Anführer und seiner engsten Umgebung. Erst wenn seine Umgebung in eine andere Richtung schaut, beginnt die Macht des Anführers zu bröckeln. Und erst dann, wenn die Leute merken, dass sie für ihre Widerrede nicht mehr bestraft werden, folgen Proteste. Nicht immer, aber in den meisten Fällen.
Und das wird Ihrer Meinung nach bald eintreten?
Ekaterina Schulmann:
Ich bin nicht dafür da, Ihnen Prognosen zu verkaufen. Das ist keine Wissenschaft, das ist Astrologie. Ich kann immer nur von möglichen Szenarien sprechen, und davon gibt es immer mehrere.
Ein Szenario, das sich in den USA, Europa und vor allem in der Ukraine viele wünschen, ist die militärische Niederlage Russlands. Würde dies einen Fall Putins nach sich ziehen?
Ekaterina Schulmann:
Nein, nicht zwangsweise. In den 80er-Jahren behielt Saddam Hussein .
»Anstatt über den Mangel an politischen Parteien in Russland zu heulen, müssen wir auf dem aufbauen, was wir haben«
Die politische Opposition hat es in Russland gerade schwer: Politiker:innen sind entweder im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Gibt es eine politische Alternative, die an die Stelle Putins treten könnte?
Ekaterina Schulmann:
Wir Russ:innen hatten lange Zeit keine echten Wahlen und wissen daher auch nicht wirklich etwas mit politischen Parteien anzufangen. Wir sind nicht gut darin, politische Strukturen aufzubauen. In 2 Arten von Opposition sind wir aber gut: .
Deshalb hatten wir selbst zu Sowjetzeiten und haben wir auch jetzt noch so brillante Anwält:innen, aber sehr schlechte Richter:innen. nicht nur als Unternehmen, sondern auch als soziale Organisationen, in denen die Leute über ihre Beschwerden mit der Bürokratie schreiben – in der Hoffnung, ihre Probleme öffentlich zu machen und sie dadurch gelöst zu bekommen. Auch wenn man den Staatsapparat nicht wirklich beeinflussen kann, so kann man zumindest darüber sprechen und eine Art Druck erzeugen. Politiker:innen finden weniger Gehör als Menschenrechtsaktivist:innen oder Journalist:innen.
Ein alternatives System aufzubauen für die Zeit, nachdem Putin die Bühne verlassen hat, ist also nur schwer möglich?
Ekaterina Schulmann:
Nur, wenn Sie denken, dass allein Parteien politische Akteure sein können. Aber warum sehen Sie das so? Es kann doch jede Art von Organisation Menschen vereinen und zum Handeln bewegen, und damit ein politischer Akteur sein. Egal ob es nun ein Youtube-Kanal ist, eine gemeinnützige Organisation oder eine Autorin.
Aber um eine Demokratie aufzubauen, braucht es nun mal staatliche Institutionen. Medien und Nichtregierungsorganisationen können keine Regierung führen.
Ekaterina Schulmann:
Das stimmt. Aber anstatt über den Mangel an politischen Parteien in Russland zu heulen, müssen wir auf dem aufbauen, was wir haben, und unsere Stärken ausnutzen. Es ist verschwenderisch, immer so zu tun, als wäre man jemand, der man nicht ist. Und in Russland machen wir uns allzu oft Illusionen.
Welche zum Beispiel?
Ekaterina Schulmann:
Zum Beispiel hören wir in der Öffentlichkeit immer wieder von den traditionellen russischen Werten, . Aber schauen Sie sich die Zahl der Scheidungen in Russland an, die Zahl der Wer bringt hier also wem Familienwerte bei? Und das ist nur ein Beispiel.
Es ist verschwenderisch, immer so zu tun, als wäre man jemand, der man nicht ist
Schauen Sie sich an, was dieses Kriegsjahr gezeigt hat. Russland ist nicht gut in Kriegsführung oder der militärischen Informationsbeschaffung. Auch da haben wir uns Illusionen gemacht.
Worin sind wir stattdessen gut? Die Finanz- und Wirtschaftsbehörden haben sich als sehr effizient erwiesen. Auch das Bankwesen und die Privatwirtschaft. Überraschenderweise sind wir besser im Dienstleistungssektor als in der Produktion. Auch das entspricht nicht dem Selbstbild, das wir als Nation von uns haben. Wir müssen also herausfinden, wer wir sind, worin wir gut sind, und darauf aufbauen.
Kann es eine zukünftige russische Regierung geben, die es vermag, Beziehungen zur Ukraine wiederherzustellen?
Ekaterina Schulmann:
Wir befinden uns jetzt auf dem Höhepunkt eines aktiven militärischen Konflikts. Alles, was kein militärischer Konflikt ist, scheint daher unmöglich und kaum vorstellbar. Aus emotionaler Sicht ist das verständlich. Doch wir sollten niemals nie sagen. Wir wissen aus der politischen Geschichte, dass benachbarte Nationen gegeneinander in den Krieg gezogen sind und sich gegenseitig getötet haben. Die gesamte Geschichte Europas ist mit Blut geschrieben. Das hinterlässt sicherlich Spuren. Aber irgendwann neigen diese Spuren dazu, zu verblassen.
Ist es möglich, zu vergeben, wenn Unverzeihliches passiert ist? Dieser Frage sind Katharina Wiegmann und ich in einer Artikelreihe nachgegangen. Manche Antworten fand ich in Bosnien. Dort habe ich mit Menschen gesprochen, die schreckliche Kriegsverbrechen erlebt und sich trotzdem mit ihren Täter:innen versöhnt haben:
»Wenn diese 3 Merkmale bestehen bleiben, nachdem Putin gegangen ist, bleibt das Regime dasselbe«
Kommen wir zu Ihrer Vision von einer Ära nach Putin: Welche Reformen müssen angegangen werden, um aus Russland ein demokratisches politisches System zu machen, das einen legitimen Platz in der multilateralen Weltordnung findet?
Ekaterina Schulmann:
Dafür müssen wir verstehen, welche Merkmale des aktuellen Regimes Putin zugeschrieben werden können und welche dem System dahinter. Mit anderen Worten: Ist Putin weg, welche Elemente verschwinden mit ihm, welche bleiben? Ich glaube, dass 3 bleiben: Die sogenannte »Closed-Access-Society«, also eine Gesellschaft, in der die Elite vom Volk getrennt wird und Menschen bewusst entpolitisiert werden. Die Informationsautokratie. Und der Vorrang der Bürokratie gegenüber der Politik.
Können Sie diese 3 Merkmale näher beschreiben?
Ekaterina Schulmann:
Wir sind eine ressourcenbasierte Wirtschaft. Die Eliten besitzen diese Ressourcen und verteilen sie so, wie sie es für richtig erachten. Als Gegenleistung für ihren Anteil an diesen Ressourcen mischt sich die Bevölkerung nicht in die Politik ein. Und die Machtmaschine mischt sich nicht in das Privatleben der Menschen ein.
Das zweite Merkmal, das der Informationsautokratie, beschreibt den fortwährenden Versuch des Regimes, die Öffentlichkeit zu kontrollieren. Dieses Regime basiert zu 80% auf Propaganda, zu 20% auf Gewalt. Zwar ist es damit nie ganz erfolgreich, wegen des Internets und weil das Land zu groß ist. Doch es besitzt ein Monopol auf Fernsehkanäle und nutzt dies als Lebensader. Das Monopol auf Fernsehkanäle ist das wichtigste Element nach der Nuklearmacht, wenn nicht sogar gleich wichtig.
Das dritte Merkmal ist, dass gewählten Amtsträger:innen weniger vertraut wird als Bürokrat:innen, dass das Wahlsystem und die Parteipolitik weniger wichtig sind als die Bürokratie. Wenn diese 3 Merkmale bestehen bleiben, nachdem Putin gegangen ist, haben wir zwar einen Führungswechsel, aber keinen Systemwechsel. Das Regime bleibt dann dasselbe. Aber ich vermute, Sie interessiert nicht, ob der Regimetyp fortbestehen wird, sondern ob dieser Regimetyp unbedingt mit seinem Nachbarn in den Krieg zieht.
Wird er?
Ekaterina Schulmann:
Ich denke, ein Führungswechsel in Russland würde das Ende des Krieges bedeuten. Denn in meinen Augen ist dieser Krieg ein persönliches Projekt des Präsidenten, .
Sie haben vorhin von Szenarien für die Zukunft gesprochen. Wie sieht ein geordneter Übergang in Russland aus, sollte der Präsidentensitz überraschend von Putin geräumt werden?
Ekaterina Schulmann:
Der Premierminister wird amtierender Präsident. Nach seiner verfassungsmäßigen Pflicht muss er innerhalb von 90 Tagen das Datum der nächsten Präsidentschaftswahlen bekannt geben. In diesen Tagen werden sich die Eliten auf den Kandidaten für diese Wahlen einigen müssen. Dabei wird jemand aus dem Fenster fallen, jemand anderes hat vielleicht einen Herzinfarkt. Die Übrigen kommen zu einer Einigung.
»Ein Führungswechsel in Russland würde das Ende des Krieges bedeuten«
Die Person tritt bei den Wahlen an, und die Bevölkerung ist zu müde, um sich um irgendetwas zu kümmern. Sie stimmt deshalb für ihn oder – weniger wahrscheinlich – für sie. Der zukünftige Präsident wird sagen: »Wir ehren die Erinnerung an unseren geliebten Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch. Hoch leben die Helden der militärischen Spezialoperation. Jetzt müssen wir schauen, wie wir als Nächstes leben werden.« Es gibt keine großen Reformen, alle sind enttäuscht. Aber der Übergang ist schnell, ohne Drama und Blutvergießen.
Die Westmächte werden sagen: »Wir müssen uns irgendwie mit Russland einigen, also lasst es uns versuchen. Auch mit einem Präsidenten, der ehemals den blutigen Tyrannen Putin unterstützt hat.« Wie gesagt, ich mache hier keine Prognosen, ich beschreibe nur mögliche Szenarien.
Was ist mit dem extremen Szenario eines Bürgerkriegs?
Ekaterina Schulmann:
Ein landesweiter Bürgerkrieg ist nicht sehr wahrscheinlich. In einigen Regionen wie ist Blutvergießen möglich. Aber nicht im ganzen Land. Welche gesellschaftlichen Gruppen sollten denn gegeneinander kämpfen? Das ist nicht das Bauernreich von 1917, mit einem Durchschnittsalter von 17 Jahren und einem hohen Russland ist heute eine urbanisierte, alternde Gesellschaft, in der der Frauenanteil Unter den jungen Männern, die wir hatten, haben wir viele aus dem Land getrieben oder zum Sterben an die Front geschickt.
Und was ist mit dem hoffnungsvollen Szenario – einem demokratischen Übergang?
Ekaterina Schulmann:
Kommen wir zurück zu unserem ursprünglichen Szenario mit dem Präsidenten, der von der Elite bestimmt wurde. Jeder Nachfolger Putins wird – zumindest anfänglich – schwächer sein als sein Vorgänger. Er wird nicht über dieselbe Erfahrung und die moralische Autorität verfügen, die Elite wird nicht so große Angst vor ihm haben.
Die Massen werden verstehen, dass sich dort oben irgendetwas abgeschwächt hat. Und das könnte eine aufgestaute Energie freisetzen, falls diese vorhanden ist.
Eine Repolitisierung von entpolitisierten Gesellschaften kann sehr schnell passieren, das haben wir zum Ende der 80er-Jahre gesehen. Die sowjetische Gesellschaft war sehr passiv und trank viel. Doch dann kam die Und plötzlich gab es Wahlen, die alle interessierten.
Das Fernsehen strahlte Sitzungen des Parlaments aus, die vor Kurzem noch allen egal waren – plötzlich wurden sie wie Blockbuster verfolgt. Meine Mutter hat meine Schulfeier der 8. Klasse verpasst, weil sie nicht aufhören konnte, zu schauen. Ich verüble es ihr nicht, an ihrer Stelle hätte ich es genauso getan. Und die ganzen Massenproteste und Kundgebungen, Hunderttausende Menschen auf der Straße: Diese passiven, alkoholisierten und heuchlerischen Sowjetbürger:innen wurden plötzlich politisch aktiv. Daher ist dieses Szenario nicht unmöglich. Russland überrascht immer alle. Inklusive der Russ:innen selbst.
Solch ein Übergang wird chaotisch sein. Demokratie ist immer chaotisch. Aber das Land wird nicht zusammenbrechen wie nach der Perestroika. Der Wirtschaft geht es heute viel besser als in der Sowjetunion.
Wie stabil wird das System sein, das einem solchen Szenario folgt?
Ekaterina Schulmann:
Dass ein Nachfolger eines autoritären Systems anfänglich eine Liberalisierungskampagne einleitet, ist normal. Er entlässt politische Gefangene, stuft extremere Gesetze, die in den späten Stunden des letzten Führers verabschiedet wurden, herab. Treffen diese kleinen Schritte allerdings auf eine starke Forderung der Gesellschaft nach Liberalisierung, dann verstärken sich diese beiden Kräfte gegenseitig und es kommt zu einem Aufwärtstrend Richtung Demokratie.
Es gibt einen bekannten Artikel des Politikwissenschaftlers Daniel Treisman: Darin analysiert er alle Demokratisierungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert und findet heraus, dass in mehr als 2/3 der Fälle Demokratisierungen nicht beabsichtigt waren. Sie geschahen aus Versehen, etwa weil ein Herrscher sein Regime stärken wollte und die Dinge daraufhin außer Kontrolle gerieten.
»Isolation führt zu aggressiverer Politik«
Das Ende der Sowjetunion wurde von vielen Russ:innen als Niederlage gesehen. Das schürte Gefühle von verletztem Stolz, der den Nationalismus stärkte und Putins Weg zur Macht ebnete. Wenn es zu einer Niederlage Russlands im Krieg kommt, welche Konsequenzen wird das für den Nationalismus in der Bevölkerung haben? Könnte es dann zu einem Putin 2.0 kommen?
Ekaterina Schulmann:
Ich würde einem Teil Ihrer Aussage zustimmen, aber nicht dem anderen. Das Gefühl der Niederlage und Enttäuschung nach dem Fall der Sowjetunion ist mehr ein Propagandakonzept als eine soziale Realität. Es hat den Aufstieg Putins nicht ermöglicht, im Gegenteil: Putin ist auf den Schultern eines demokratischen Übergangs aufgestiegen und hat von der Eingliederung Russlands in die internationalen Märkte profitiert. Dann begann seine Propaganda, diese sowjetische Nostalgie in die Köpfe der Menschen einzupflanzen.
Was aber passieren kann: Russland wird den Krieg verlieren. Daraus wird es geschwächt, ärmer und international isolierter hervorgehen. Das bedeutet, dass die Generation, die zwischen 2004 und 2016 geboren wurde, höchstwahrscheinlich in den nächsten 10, 15 Jahren in einem Umfeld von nationaler Niederlage, Armut, Isolation, Enttäuschung und Schande aufwachsen wird. Das ist die Sache, die mir Sorgen macht. Denn dieses Umfeld kann Rachegefühle und nationalistische Anführer hervorrufen.
Wie kann das verhindert werden?
Ekaterina Schulmann:
Dafür müssen wir ein Umfeld meiden, das solche Gefühle nährt. Es ist nie gesund, eine Nation auf dem aufzubauen. Daher wird es die Aufgabe der intellektuellen Klasse sein, der Nation ein gesünderes Selbstverständnis zu bieten.
Was kann der Westen oder die internationale Gemeinschaft dafür tun?
Ekaterina Schulmann:
Russland nicht zu sehr in die Isolation drängen. Denn Isolation führt zu aggressiverer Politik und möglicherweise zu bewaffneten Konflikten.
Ist Europa mit dem Versuch, Russland zu integrieren, nicht schon einmal gescheitert?
Ekaterina Schulmann:
Es ist eine natürliche Reaktion, sich von einem gefährlichen Nachbarn isolieren zu wollen. Und natürlich können westliche Politiker:innen endlose Beispiele für erfolglose Versuche nennen, mit Russland zu verhandeln.
Aber was uns in diese Situation gebracht hat, war nicht die Integration Russlands, sondern der Mangel an Integration. Sollten wir also in Zukunft mit einem neuen Zeitfenster gesegnet werden, müssen wir dieses nutzen, um Russland möglichst stark in ein vernünftiges System der internationalen Normen einzubetten. Schauen Sie sich einige Mitglieder der Europäischen Union an. Ich denke, wenn Ungarn kein Mitglied wäre, wäre es absolut in der Lage, sich zu einer Diktatur zu entwickeln und in einen Krieg mit seinen Nachbarn zu ziehen, um – .
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.