Ich gestehe: Ich mag Hochzeiten. Als wir ungefähr Anfang 30 waren, ging es in meinem Uni-Freundeskreis los – die Einladungen flatterten ins Haus. In dieser Zeit lebten wir alle schon in unterschiedlichen Städten, zum Teil sogar in unterschiedlichen Ländern. Für die Hochzeiten machten sich alle auf den Weg. Mir war es nie wichtig, einmal zu heiraten. Der Institution Ehe kann ich wenig abgewinnen. Trotzdem rührten mich die Zeremonien, die Reden, die feierliche Stimmung. Ich gehörte immer zu den Ersten, die eine Träne verdrückten.
Und doch war da immer noch ein anderes Gefühl. Vielleicht nicht unbedingt ein Unbehagen, aber eine innere Dissonanz, gemischt mit Verwunderung, dass so viele Menschen diesen Schritt wie selbstverständlich in ihre Lebensplanung integrieren. Denn damit folgen sie einem vorgegebenen romantischen Skript, wie es Emilia Roig in ihrem aktuellen Buch »Das Ende der Ehe« formuliert.
Emilia Roig ist Politikwissenschaftlerin, Bestseller-Autorin und Aktivistin für
Sie meint: Die Ehe sei tief im Patriarchat verwurzelt. Sie zementiere männliche Dominanz und dränge auch heute noch Frauen in Rollen, die sie benachteiligten. Deshalb fordert Roig nichts anderes als das Ende der Ehe – und eine Revolution der Liebe. Ich habe mit ihr darüber gesprochen, wie genau diese aussehen soll, warum der Staat am konventionellen Modell festhält und was Roig in ihrer eigenen Ehe gelernt hat.
Katharina Wiegmann:
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihre Hochzeit einer der schönsten Tage Ihres Lebens war. Warum haben Sie trotzdem ein Problem mit der Ehe?
Emilia Roig:
Die Feier ist etwas komplett anderes als die Institution Ehe und der Lebensstil, der danach kommt. Eine Hochzeitsfeier ist schön, es wird getanzt, vielleicht ist das Wetter sonnig und alle Menschen, die man liebt, sind da.
Trotzdem hatte ich persönlich schnell ein Problem mit der Ehe, weil ich bemerkt habe, dass es gar nicht möglich war, diese feministisch zu gestalten. Ich wurde in eine Rolle gedrängt, die mir nicht passte. Ich hatte konstant das Gefühl, ausgebeutet zu werden, weil ich den
.
Wenn ich dafür bezahlt worden wäre, hätte ich damit wahrscheinlich kein Problem gehabt, weil mir diese Arbeit damals Spaß gemacht hat. Aber die Tatsache, dass es eine unausgesprochene Regel war, dass ich das übernehme und dafür keine Anerkennung bekomme, keine Bezahlung, fand ich unerträglich, um ehrlich zu sein.
Welche Funktion erfüllt die Ehe in der Gesellschaft?
Emilia Roig:
Zum einen hält sie die kapitalistische Wirtschaft aufrecht. Durch die Ehe wird die Mehrheit der Care-Arbeit – Kindererziehung, Putzen, Haushaltsführung etc. – von Frauen
. Ohne diese Arbeit könnte der Kapitalismus gar nicht aufrechterhalten werden. Es gehört zum kapitalistischen System, dass diese reproduktive Arbeit geleistet wird. Das tun vorwiegend Frauen, unbezahlt.
Die sogenannte produktive Arbeit wird dagegen überwiegend von Männern verrichtet. Das ändert sich gerade: Die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wächst ständig – ohne dass sie dafür die gleiche Entlohnung erhalten. Und trotzdem gibt es keine neue Aufteilung der reproduktiven Arbeit. Dabei spielt die Ehe eine unerlässliche Rolle in der Gesellschaft.
Und zum anderen?
Emilia Roig:
Die andere Funktion der Ehe ist etwas schwieriger zu betrachten. In allen Sphären der Gesellschaft herrscht männliche Dominanz, sei es in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur. Männer haben mehr finanzielle Macht und sie haben mehr politische Macht.
Diese männliche Dominanz findet sich auch in den kleinen Einheiten von Ehe und Kernfamilie: Die Ehe ist eine Institution, die tief im Patriarchat verwurzelt ist. Und das Patriarchat behält die Kontrolle, wenn unsere intimen Beziehungen so organisiert sind, dass ein Mann in der Beziehung mit einer Frau über finanzielle Macht verfügt.
Im Kapitalismus zählt im Grunde nur die finanzielle Macht. In Zeiten, in denen Feminismus stark unterdrückt oder kaum vorhanden war,
Da war es überhaupt kein Problem, zu sagen: Frauen sind unterlegen und sie brauchen die Obhut des Mannes.
Mit der Ehe übergibt der Staat die patriarchale Autorität an einzelne Männer in kleinen patriarchalen Einheiten – in der Kernfamilie.
Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten sich in der Ehe in eine Rolle gedrängt gefühlt, die Sie nicht haben wollten. Hat diese Rolle neben der unbezahlten Care-Arbeit noch andere Aspekte enthalten?
Emilia Roig:
Generell ist es eine Rolle der Minderwertigkeit. Das ist eher implizit. Und ich würde sagen, das findet sich in ganz vielen heterosexuellen Beziehungen wieder: die implizite Erwartung, dass die Frau sich kleiner macht als ihr Mann, dass sie nicht so glänzt wie er, dass sie nicht so klug ist wie er, weniger Platz einnimmt, dass sie weniger redet, dass ihre Bedürfnisse im Hintergrund bleiben. Das passiert meist unbewusst. Viele Menschen merken nicht einmal, dass sie in diese Rollen eingebettet sind, bis sie das nicht mehr sind. Ich habe mich da auch angepasst, unbewusst und intuitiv, weil es das ist, was von uns erwartet wird – dass wir uns anpassen, ohne dass es ein Thema ist, ohne dass es überhaupt angesprochen wird. Als Frau hat man sich so zu verhalten.
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind wahrscheinlich mehr Menschen verheiratet als nicht verheiratet. Gleichzeitig würde ich schon behaupten, dass viele der verheirateten Menschen ein feministisches Bewusstsein haben. Warum wird überhaupt noch so viel geheiratet, wenn mit der Ehe so viele problematische Aspekte einhergehen?
Emilia Roig:
Ein wichtiger Grund ist, dass es finanziell für viele Paare Sinn ergibt, zu heiraten. Zumindest dann, wenn eine Person zu Hause die Mehrheit der Care-Arbeit übernimmt – in 90% der Fälle sind das die Frauen – und die andere mehr Geld verdient. Für dieses Modell gibt es einen finanziellen Anreiz durch das Ehegattensplitting.
Aber es gibt auch einen Diskurs und eine Kultur, in der Heiraten immer noch als wichtiger Meilenstein im Leben betrachtet und inszeniert wird. Ab einem bestimmten Alter heiraten einfach alle.
Eine Hochzeit ist immer noch der einzige Weg, den viele Menschen finden, um ihre Liebe zu bekunden. Man liebt sich, und na ja, was macht man dann? Man heiratet. Das ist ein Skript, dem viele folgen.
Im Buch beschreiben Sie das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Eheschließung etwas Bedeutsames für die Gesellschaft getan hätten.
Emilia Roig:
Ich hatte das Gefühl, ich tue etwas Wichtiges, ja. Und dass ich dafür Anerkennung bekomme. Alle Leute kommen und feiern, weil ich diesen Schritt gehe. Bei einer Dissertation oder einer wichtigen Reise, die ich für mich unternehme, ist das normalerweise nicht der Fall. Es gibt nichts, was wir derart feiern wie die Ehe.
Es gibt diese Annahme: Wenn du heiratest, hast du eine wichtige Etappe genommen und bist im Erwachsenenleben angekommen – du lebst so, wie sich das gehört.
Ist es nicht Privatsache, ob sich Menschen für einen Trauschein entscheiden oder nicht?
Emilia Roig:
Nein. Ist es privat, wenn der Staat sich einmischt? Es gibt einen enormen Druck, zu heiraten. Es gibt finanzielle Anreize, die deutlich machen: Es gibt eine Belohnung für diejenigen, die diesen Weg gehen. Wir können nicht sagen, dass wir komplett losgelöst sind von jeglichen gesellschaftlichen Erwartungen und Mustern. Wir sind nicht komplett frei, Ja oder Nein zu sagen.
Klar, es gibt Leute, die Nein sagen. Aber die Frage wird sich immer wieder stellen. Wenn sich Menschen dazu entscheiden, nicht zu heiraten, ist damit nicht alles vom Tisch. Es werden immer wieder Fragen kommen: Und jetzt? Immer noch nicht, sicher? Und warum nicht? Jetzt hat sich die Situation doch verändert!
Es ist wie beim Kinderkriegen. Wenn eine Person, vor allem eine Frau, sich entscheidet, keine Kinder zu haben, dann wird ein Nein nicht als Antwort angenommen, sondern sie wird diese Entscheidung immer wieder rechtfertigen müssen.
Umgekehrt ist das nicht so, weil die Entscheidung für die Ehe und für Kinder die Norm ist. Wenn man die Norm reproduziert, ist man in einer Art von Richtigkeit. Und deshalb gibt es diese Freiheit der Entscheidung nur bedingt.
Scheidungskinder werden oft bemitleidet, auch deshalb ist der Druck häufig groß, »wegen der Kinder« eine Ehe weiterzuführen, selbst dann, wenn die Beziehung schon längst nicht mehr funktioniert … Warum ist das so?
Emilia Roig:
Weil die Ehe eine wichtige Funktion in der kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft erfüllt. Deshalb muss es eine implizite Propaganda für die Ehe, für die Kernfamilie geben, damit Menschen nach wie vor daran glauben und sich damit identifizieren.
Deshalb gibt es diesen latenten Druck und diese Erzählungen über Gesundheit, über Ausgeglichenheit, über Glück, die eng mit dem Konzept der Ehe verbunden sind. Deshalb mussten sogenannte Scheidungskinder stigmatisiert werden. Der Begriff stammt aus den 90er-Jahren, als Ehescheidungen zunahmen. Er sollte zeigen, dass Eltern dem Kind etwas Schlimmes antun, wenn sie sich scheiden lassen.
Es gibt viele Studien darüber, wie traumatisiert Scheidungskinder sind, aber keine darüber, wie traumatisiert Kinder in Kernfamilien sein können. Wenn zum Beispiel ein Elternteil gewaltvoll ist, was laut Statistik sehr oft vorkommt. Oder welche Spuren es im Erwachsenenleben hinterlässt, zum Beispiel in den späteren Beziehungen, wenn Kinder mit traditionell patriarchalen Elternteilen aufwachsen.
Klar, Kinder von geschiedenen Eltern können traumatisiert sein, sie können verletzt sein, sie können Schmerzen empfinden, natürlich. Aber Kinder sind nicht davon abgeschirmt, wenn die Eltern zusammenbleiben. Das ist ein kompletter Trugschluss. Diese Erzählung ist manipulativ.
Seit 2017 gibt es in Deutschland die
. Haben sich mit der Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare nicht die größten Probleme erledigt?
Emilia Roig:
Ganz und gar nicht. Die Ehe wurde ja nicht reformiert. Es wurde nur der Zugang für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet, die bereit sind, sich an Heteronormativität anzupassen und beispielsweise durch das Ehegattensplitting ebenfalls reguliert zu werden, indem sie nun entscheiden müssen, wer mehr zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert.
Die »Ehe für alle« hat auch nicht zu einer kompletten Gleichheit geführt. Lesbische Paare, oder sagen wir Familien und Paare ohne
werden nicht automatisch als Elternteile anerkannt. Die »Ehe für alle« war keine revolutionäre Reform, sondern lediglich eine Öffnung für Menschen, die sich der Heteronormativität unterwerfen wollen, denn das müssen sie, wenn sie heiraten.
Sie fordern nichts weniger als eine
. Braucht es die wirklich? Oder können wir die Ehe nicht einfach besser machen, indem wir sie Schritt für Schritt reformieren?
Emilia Roig:
Reform klingt für mich in diesem Fall nach Angst. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor Veränderung. In der Zeit der Sklaverei war zunächst auch nicht von einer Abschaffung die Rede, sondern von einer Reform. Die Sklaverei müsse lediglich humaner gestaltet werden. Heute betrachten wir das als absolut absurd. Sklaverei an sich kann nicht humaner gemacht werden, weil sie auf Hierarchisierung und Entmenschlichung von
beruht.
Genauso kann die Ehe nicht feministisch gemacht werden, weil sie auf einem patriarchalen Machtverhältnis beruht. Sie beruht auf patriarchaler Unterdrückung. Warum also eine Reform? Was haben wir zu verlieren? Warum haben wir so Angst, uns von der Ehe zu trennen? Was ist das Problem daran, sie abzuschaffen und etwas Neues entstehen zu lassen? Die Natur mag keine Leere, es wird sowieso etwas entstehen – in diesem Fall neue Organisationsprinzipien. Es werden neue Regeln entstehen, neue Konstellationen.
Was kommt nach der Ehe? Wie können wir in Zukunft liebevoll zusammenleben und Verantwortung füreinander übernehmen?
Emilia Roig:
Ich glaube, das tun wir schon längst. Fürsorge, Liebe und Zuneigung gehören zu unserer wahren Essenz als Menschen, als Lebewesen. Aber wir werden in bestimmte Modelle gezwängt, um all das auszuleben: Zuneigung und Liebe passieren mit einer romantischen Partnerin oder einem romantischen Partner. Und sie passieren in einer Kernfamilie oder einer erweiterten Familie, je nachdem. In Deutschland sind diese erweiterten Familien sehr klein, in anderen Teilen der Welt wird Familie, Abstammung und Verwandtschaft viel flexibler, viel expansiver gelebt und interpretiert. Im Grunde müssten wir die Liebe erweitern.
Was würde das bedeuten?
Emilia Roig:
Würden wir die Zuneigung, die Fürsorge, das Engagement, das Vertrauen, das Versprechen auf mehrere Menschen erweitern, bräuchten wir viel
. Die Lohnarbeit würde an Stellenwert verlieren. Das muss ohnehin dringend passieren, vor allem, wenn wir die Klimakrise lösen wollen. Es würde Raum geben für eine viel breitere Veränderung, für einen großen Paradigmenwechsel. Wir brauchen nichts weniger als das. Kleine Schritte reichen in unserer jetzigen Krisensituation nicht mehr aus.
Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung wird das Vorhaben einer sogenannten
in Ergänzung zur klassischen Ehe genannt. Was denken Sie darüber?
Emilia Roig:
Verantwortungsgemeinschaft finde ich als Wording schon einmal super. Gemeinschaft – das ist die Richtung, in die wir gehen müssen. Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist das geplante Vorhaben noch weit von einer Gleichstellung mit der Ehe entfernt. Trotzdem geht es in die richtige Richtung, genauso wie
Wer muss sich in erster Linie auf den Weg machen – und wer steht noch im Weg?
Emilia Roig:
Im Moment wehren sich vor allem Männer gegen Veränderung, weil sie die Macht haben und davon profitieren. Ich scheue mich nicht davor, diese Kategorien und die
, und beschreibe das Patriarchat nicht als abstrakte und entpersonifizierte Entität, die in der Luft schwebt.
Es gibt Männer, die für Veränderungen sind, patriarchatskritische und feministische Männer. Diese Männer müssen lauter werden. Aber es gibt diese implizite Erwartung an Männer als Gruppe, dass sie sich untereinander solidarisch verhalten, selbst dann, wenn sie mit den herrschenden Zuständen nicht einverstanden sind. Deshalb bleiben viele einfach ruhig. Aber Männer müssen und können ihre Macht nutzen, indem sie sich positionieren.
Haben Männer etwas zu gewinnen, wenn wir die Ehe abschaffen?
Emilia Roig:
Sie verlieren eine Machtposition, aber sie haben auch etwas zu gewinnen: mehr Verbindung zu sich selbst und zu anderen. Und etwas, was sie intuitiv nicht anspricht, weil es in der Gesellschaft als minderwertig dargestellt wird – nämlich die Möglichkeit, Fürsorge auszuleben und sich dadurch anders zu betrachten.