Vegane Wurst: Gesunde Alternative oder schädliche »Chemiekeule«?
Im Kühlschrank unseres Autors lebten echter Schinken und Veggiesalami in friedlicher Koexistenz. Doch als sein Nachwuchs zur fleischfreien Alternative greifen will, kommt die Unsicherheit: Was ist dran am Mythos vom ungesunden Ersatzprodukt?
Ein ganz normaler Sonntagmorgen. Nachdem uns unser 3-Jähriger zur Unzeit mit einem »Ich bin jetzt fertig mit Schlafen!« aus dem Reich der Träume gerissen hat, sitzt die Familie an einem reich gedeckten Frühstückstisch. Duftendes Rührei, Frischkäse, Erdnussbutter, mein spanischer Lieblingsschinken und noch viele Leckereien mehr konkurrieren um den knappen Platz auf der Tafel.
Nachdem die kleine Raupe Nimmersatt einen Teil seines Toasts (und weite Teile seines Schlafanzugs) mit der Erdnussbutter bedacht hat, richtet sich sein Blick auf meinen Teller: »Ich will aber auch Wurst essen, Papa!«
Mehr oder weniger bereitwillig teile ich die letzte Scheibe in der Mitte durch und reiche sie herüber. Kaum hineingestopft, ertönt aus dem vollen Mund ein »Lecker!«, direkt gefolgt von einem »Noch mehr!«.
Meine Frau greift schon zu der Salami, als mir unwillkürlich ein »Warte mal!« entfährt. »Ob das wirklich gut für ihn ist?« Sie verdreht die Augen: »Du gibst ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, etwas von deinem übersalzten Schinken, aber eine vegetarische Alternative soll jetzt schlecht für ihn sein, oder was?«
Touché. Denn um ehrlich zu sein, hatte ich genauso wenig Ahnung von den Inhaltsstoffen meines Schinkens wie von denen der vegetarischen Salami auf Weizenbasis. Weil der morgendliche Aufschnitt in meiner Kindheit und Jugend so fest zum Frühstück gehört hatte wie Brot und Butter, hielt ich Wurst aus Fleisch wohl unterbewusst für
Außerdem greife ich inzwischen selbst wöchentlich zu Fleischersatzprodukten, wenn auch mehr in Form von veganen Produkten, die Aussehen und Geschmack von Hähnchenbrust oder Burgerpatty imitieren – und das meiner Meinung nach inzwischen ziemlich erfolgreich.
Aber was essen wir da überhaupt genau, wenn wir zu solchen Produkten greifen? Und wie wirken sich die Ersatzprodukte auf unseren Körper aus?
Die Zutatenliste der Salami warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Höchste Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen! Begleite mich auf eine Reise, die dein Bild von Fleischersatzprodukten wahrscheinlich nachhaltig verändern wird.
Warum Fleischersatzprodukte auf dem Vormarsch sind
Meine erste Recherche im Netz zum Thema liefert wenig Handfestes. Zahllose Artikel fluten meinen Bildschirm: ein Wust aus Unternehmens-PR, Influencer-Marketing und »Gesünder leben«-Blogs. Unabhängigkeit und wissenschaftliche Herangehensweise: oftmals Fehlanzeige.
Ziemlich unbefriedigend, wenn man bedenkt, dass Fleischersatzprodukte in ganz Europa auf dem Vormarsch sind und auf Abertausenden Frühstückstischen landen. Eine Befragung aus dem Jahr 2023 von über 7.500 Menschen aus 10 europäischen Staaten hat ergeben, dass gut die Hälfte von ihnen (51%) ihren Fleischkonsum nach eigenen Angaben in den letzten
Ihre Hauptmotivation: die eigene Gesundheit (47%), gefolgt von mehr Tierwohl (29%) und Umweltschutz (26%). Eine wachsende Zahl greift dazu auf Ersatzprodukte zurück. Bei der gleichen Befragung
Ein Trend, den auch die Lebensmittelindustrie erkannt hat. So ist die Produktion von Fleischersatzprodukten bei deutschen Herstellern
Dass es für Tiere und Klima besser ist, möglichst wenig oder
Wie vegetarische und vegane Alternativen hergestellt werden und was drin ist
Um meine Recherche zum Thema auf eine fundierte Grundlage zu stellen, habe ich mir Unterstützung von Iris Laqua von der Verbraucherzentrale Niedersachsen geholt. Die Ernährungsexpertin ist der Meinung, dass es der falsche Ansatz sei, zu Ersatzprodukten zu greifen, wenn man sich gesünder ernähren wolle: »Eine Ernährung mit möglichst vielen unverarbeiteten Lebensmitteln ist verarbeiteten Produkten immer vorzuziehen. Trotzdem können Fleischersatzprodukte eine gute Alternative sein, wenn man seinen Fleischkonsum aus ethischen und Klimaschutzgründen reduzieren möchte.«
In dem breiter werdenden Angebot seien inzwischen viele gute Ersatzprodukte zu finden. Diese bauen auf pflanzlichem Eiweiß auf, daher bilden meist proteinreiche Hülsenfrüchte wie Soja oder Erbsen die Grundlage. Aber auch Weizen kommt mitunter zum Einsatz, seltener auch Hühnereiweiß und Milch, womit die Alternativen dann nur noch vegetarisch und nicht mehr vegan sind.
Vereinfacht gesagt werden diese Grundstoffe zerkleinert sowie entfettet und das reine Protein wird extrahiert. Das so entstehende Konzentrat wird dann anschließend mit Wasser und Ölen zu einer Masse verarbeitet und im letzten Schritt in nahezu jede beliebige Form gebracht.
Je nach Produkt wird die Masse mit natürlichen Färbemitteln, Gewürzen und Konservierungsstoffen angereichert – fleischliche Produkte übrigens auch. Im Falle einer Wurst ist das vegane Pendant in der Zusammensetzung bis auf das verwendete Protein recht ähnlich.
Allgemein können wir zudem festhalten: Sowohl klassische als auch vegane Würste enthalten in der Regel mehr Zusatzstoffe als ein tierisches Steak oder ein Hähnchenbrustersatz, um zum Beispiel eine weichere Konsistenz zu erreichen.
Wer also Zusatzstoffe in einem Ersatzprodukt verteufelt und stattdessen lieber zum »klassischen« Aufschnitt greift, ist gehörig auf dem Holzweg – so wie ich es übrigens auch bis zu dieser Recherche war.
Egal ob die Wurst aus Fleisch oder Gemüse gemacht wird: Beides sind hochverarbeitete Lebensmittel, denen Salz, Aromen und weitere Zusatzstoffe hinzugefügt werden.
Bleibt die Frage: Sind die Zusatzstoffe immer gefährlich, wie es oft im Netz zu lesen ist?
Zusatzstoffe – Fluch oder Segen?
Nachdem wir grob wissen, wie Fleischersatzprodukte hergestellt werden, ist es Zeit, einen genaueren Blick auf die berüchtigten Zusatzstoffe zu werfen.
Egal ob als E-Nummer wie zum Beispiel E 220 (Schwefeldioxid: schützt Lebensmittel vor dem Verderb, etwa durch Hefen), E 579 (Eisengluconat: färbt zum Beispiel grüne Oliven schwarz) oder in der ausgeschriebenen Form (Citronensäure: E-Nummer 330. Antioxidationsmittel): Durch die kryptisch benannten Inhaltsstoffe ist Verwirrung und Unsicherheit vorprogrammiert. An der Frage, welche Zusatzstoffe für unsere Gesundheit bedenklich sind, scheiden sich teilweise die Geister.
Um sich einer Antwort anzunähern, müssen wir zunächst verstehen, warum Zusatzstoffe überhaupt verwendet werden. Sowohl in herkömmlichen Fleischwaren als auch in Veggie-Alternativen dienen unterschiedliche Zusatzstoffe dazu, die Haltbarkeit zu verlängern, die Konsistenz zu verbessern (Fachleute sprechen von »Textur«) und den Geschmack zu intensivieren.
Es ist aber nicht so, dass Hersteller in ihre Produkte einfach reinmischen können, was sie für richtig halten. Zusatzstoffe sind in der EU im Vergleich zu den meisten anderen Erdteilen streng reguliert.
Für die Zusatzstoffe, die sich potenziell gefährlich auf unsere Gesundheit auswirken könnten, gibt es Grenzwerte von der EU. Und die werden in den allermeisten Fällen auch eingehalten.
Laut EU-einheitlichem Gesetz werden nur Zusatzstoffe zugelassen, die unbedenklich sind. Doch trotz aller von Unternehmen und staatlichen Akteuren beauftragten Institute bleibt immer eine gewisse Restunsicherheit: So gelten zwar über die Hälfte der zugelassenen Zusatzstoffe als unbedenklich, für den Rest gibt es bestimmte Grenzwerte, deren Einhaltung regelmäßig überprüft wird. Es ist also nicht zwangsläufig ein No-Go, wenn
Einige Expert:innen argumentieren, dass viele Zusatzstoffe in den von der EU zugelassenen Mengen eine wichtige Rolle bei der Lebensmittelproduktion spielen. Auf der anderen Seite gibt es kritische Stimmen, die vor langfristigen Auswirkungen warnen, die bisher aber mangels Langzeitstudien nicht zweifelsfrei abgeschätzt werden können.
Welche Zusatzstoffe wirklich umstritten sind
Wer verarbeitete Produkte konsumieren und dabei auf Nummer sicher gehen will, muss daher selbst einen genauen Blick auf die aufgedruckte Zutatenliste werfen und im Einzelfall entscheiden. Dabei helfen Plattformen wie
Wer dafür keine Zeit hat, kann sich zumindest mit den strittigsten Zusatzstoffen vertraut machen. Zu diesen zählt aktuell besonders
Auch Phosphate gelten als umstritten. Sie stecken in vielen Lebensmitteln, von Bratwurst über Cola bis hin zu Schmelzkäse – und eben auch in einigen Ersatzprodukten. Die Stoffe dieser Gruppe sind die Allzweckwaffe der Lebensmittelindustrie, sie können konservieren, verdicken und färben.
Phosphate verändern die Innenwände der Gefäße, und steigern damit das Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Außerdem erhöht sich die Gefahr, an Osteoporose zu erkranken. Vor diesem Hintergrund bewertete
Die Nährstofffrage
Auf unserer Reise durch die Welt der Fleischersatzprodukte werfen wir zum Abschluss einen genaueren Blick auf die entscheidende Frage: Liefern diese alternativen Produkte ausreichend Nährstoffe, um zu einer gesunden Ernährung beizutragen?
Ernährungsphysiologisch betrachtet, schneiden die fleischlosen Alternativen in einigen Punkten besser ab als Fleisch und Fleischprodukte. Vor allem für Fleisch- und Wursterzeugnisse können sie somit durchaus eine gesundheitlich günstigere Alternative sein – vor allem wenn es darum geht, das Risiko für Zivilisationskrankheiten wie starkes Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren.
Iris Laqua erklärt, warum: »In der Regel sind die veganen Produkte kalorienärmer. Das kommt daher, dass zumeist der Fettgehalt geringer ist, gerade gesättigte Fettsäuren sind meist weniger enthalten. Aber es gibt auch Ausnahmen: Kokosfett und Palmfett weisen ebenfalls hohe Mengen an gesättigten Fettsäuren auf.«
Allgemeinhin kommen gesättigte Fettsäuren aber hauptsächlich in tierischen Produkten vor und werden insbesondere hinsichtlich Gefäßablagerungen und der damit verbundenen Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen kritisch gesehen.
Eine von der
Die Ersatzprodukte punkten also damit, was nicht drin ist. Doch was ist mit den Nährstoffen, die wir eigentlich in einem Lebensmittel haben wollen, wie etwa Proteinen?
»Wenn es uns wichtig ist, dass wir Proteine aufnehmen und diese vom Körper gut verarbeitet werden, dann müssen wir solche nehmen, die denen in unserem Körper ähnlich sind«, erklärt Iris Laqua. Solche seien vor allem in tierischen Produkten wie Eiern oder Milch enthalten. Aber auch eine bestimmte Kombination aus pflanzlichen Produkten wie Bohnen und Mais, Soja und Reis könne unseren Bedarf an essenziellen Aminosäuren decken – also denjenigen Baustoffen, aus welchen Proteine bestünden und die der Körper nicht selbst herstellen könne.
»Wer sich vegetarisch oder vegan ernährt, ist schlecht beraten, seinen Proteinbedarf über hochverarbeitete Ersatzprodukte zu decken, dafür gibt es genügend andere, unverarbeitete Lebensmittel«, sagt Iris Laqua. Sprich: Lieber zum
Hinzu kommt, dass es Hinweise darauf gibt, dass einige Nährstoffe wie Eisen, Kalzium und Zink, die in den pflanzlichen Grundstoffen für Ersatzprodukte enthalten sind, nach der Verarbeitung nicht mehr von unserem Körper aufgenommen werden können.
Wo Ersatzprodukte punkten
Was bleibt also am Ende des Familienfrühstücks? Wirken sich Fleischersatzprodukte unter dem Strich eher positiv oder negativ auf unsere Gesundheit aus?
Die kurze Antwort lautet: Es ist kompliziert – doch die Vorteile im Vergleich zu klassischen Wurstwaren überwiegen.
Die lange Antwort: Fleischersatzprodukte für den Frühstückstisch sind ebenso wie Aufschnitt und Co. hochverarbeitete Lebensmittel, denen verschiedene Zusatzstoffe zugesetzt werden, um sie in Form zu bringen. Dabei haben die fleischlosen Alternativen häufig einen bemerkenswerten Vorteil: Sie reduzieren durch ihren oft geringeren Anteil an gesättigten Fettsäuren das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und weitere Erkrankungen.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die häufigste Todesursache in Europa, werden erwiesenermaßen ebenso durch übermäßigen Fleischkonsum begünstigt wie Darmkrebs. Wenn Fleischersatzprodukte also dazu dienen, den Fleischkonsum bei Menschen zu reduzieren, die nicht gänzlich verzichten wollen, hat das auch günstige Auswirkungen auf die Gesundheit.
Die Dosis macht das Gift
Trotzdem wäre es falsch, Fleischersatzprodukte pauschal als gesund zu bezeichnen oder diese so zu bewerben – ebenso wie sie in Stammtischmanier als »Chemiebomben« zu verteufeln. Am Ende bleibt es an den Verbraucher:innen hängen, die Zusammensetzung der Produkte im Einzelnen zu prüfen: »Wir können es nicht pauschalisieren, man muss immer individuell schauen, wie ein Produkt zusammengesetzt ist und in welchen Mengen es konsumiert wird. Da führt kein Weg daran vorbei, hinten auf die Zutatenliste zu gucken«, betont Iris Laqua.
Wer sich das Leben vereinfachen und nicht jedes Mal eine eigene Recherchereise im Supermarkt anstellen will (oder kann), dem sei ein alter Trick ans Herz gelegt: Je kürzer die Zutatenliste eines verarbeiteten Produktes ist, desto besser. Ist dort hingegen ein ganzer Roman aus kryptischen Begriffen und E-Nummern zu lesen, im Zweifel lieber Finger weg. Denn:
Was immer die Botschaft sein sollte: Dass wir uns so wenig wie möglich von hochverarbeiteten Lebensmitteln ernähren sollten. Essen kann man sie ab und an, das ist nicht die Frage, aber es sollte so wenig wie nur möglich sein. Natürlich kann man auch mal eine Tiefkühlpizza essen, nur eben nicht jeden Tag.
In diesem Sinne: Bon Appetit!
Nicht zu vergessen: In welchen Bereichen Ersatzprodukte unschlagbar sind
In diesem Text geht es um die gesundheitlichen Aspekte von Fleischersatzprodukten. Dennoch mögen am Ende nochmals 2 Punkte nachdrücklich unterstrichen sein, bei denen die Fleischalternativen ohne jeden Zweifel die Nase vorn haben: Nämlich in Sachen Tierwohl und Klimabilanz.
Fakt ist: Wenn du auf individueller Ebene direkt etwas im Kampf gegen die Klimakrise beitragen willst, ist es der wahrscheinlich effektivste Weg, den Konsum tierischer Lebensmittel zu reduzieren. In der Vergangenheit haben wir diverse Artikel zum Thema veröffentlicht, die du ganz unten verlinkt findest.
Einen guten Einstieg bietet dieser PD-Classic:
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily