Die Politik muss zuallererst das Individuum glücklich machen
Denn nur emotional stabile Menschen sind in der Lage, die Probleme der Zukunft anzugehen. »Gesellschaft des Zuhörens« heißt diese politische Vision zweier skandinavischer Philosophen.
Warum schafft es »die Politik« nicht, glaubwürdige Antworten auf die drängendsten Fragen der postmodernen Welt zu entwickeln? Etwa darauf, wie wir uns klimafreundlicher fortbewegen und ernähren können, wie wir mit kultureller Vielfalt umgehen oder wie Menschen jenseits der Arbeit Sinn finden?
Dieses Rätsel beschäftigt die beiden skandinavischen Philosophen Daniel P. Görtz und Emil Ejner Friis. Sie schauten auf die Regierungen europäischer Länder und fanden nur die immer gleichen, veralteten Rezepte:
Mitte-links und Mitte-rechts konkurrieren darum, wer am besten darin sei, ›mehr Jobs zu schaffen‹ und ›Unternehmen zu halten‹, damit sie ›Sozialleistungen finanzieren‹ und ›in Bildung investieren‹ können. Sie erkennen nicht, dass sie das vollkommen falsche Spiel spielen. Das Spiel ist mittlerweile ein vollkommen anderes.Daniel P. Görtz und Emil Ejner Friis in »Die Gesellschaft des Zuhörens«
2016 entwarfen sie ihre eigene politische Vision: den Metamodernismus. Ihre Ideen – unterfüttert mit einer Reihe von kultursoziologischen, politischen und evolutionspsychologischen Modellen – packten sie in das Buch das 2023 auf Deutsch erschienen ist. Die Autorenzeile beanspruchen sie nicht selbst, stattdessen lassen sie ihr gemeinsames Alter Ego Hanzi Freinacht sprechen.
Die zentrale und revolutionäre Einsicht des Metamodernismus nach Freinacht: Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, muss der Staat vor allem in die psychologisch-emotionale Entwicklung jedes und jeder Einzelnen investieren.
Wie genau das funktionieren und die »Gesellschaft des Zuhörens« aussehen soll, hat mir Emil Ejner Friis erklärt.
Die Autoren
Daniel P. Görtz (links) ist schwedischer Soziologe, Polizeiethnograph und Philosoph. Als Berater war er für progressive Parteien in Schweden und Dänemark sowie Unternehmen im IT-Sektor tätig. Emil Ejner Friis ist dänischer Historiker und Philosoph. Er hat die Denkfabrik Metamoderna mitbegründet und verbreitet als Autor und Redner seine Theorie.
Bildquelle:
privat
Julia Tappeiner:
Ihr habt in eurem Buch eine politische Philosophie entworfen, von der ihr sagt, sie hätte bessere Antworten auf die Probleme unserer Zeit. Welche Probleme sind das?
Emil Ejner Friis:
Vor allem stehen wir vor einem ökologischen Kollaps. Die Sicherheitssituation ist auch sehr prekär – denken wir an die Invasion der Ukraine oder Chinas aggressives Vorgehen im
Ökonomisch sieht es auch nicht besonders gut aus. Leute unter 40 sind die ersten Generationen, die einen niedrigeren Lebensstandard als ihre Eltern erwarten können. Die Situation ist für junge Leute anscheinend so ungünstig, dass sie kaum mehr Kinder kriegen wollen.
Und schauen wir uns die mentale Gesundheit an: Wir leiden immer mehr unter psychischen Problemen und Stress.
Die Situation ist ernst, aber überzeugende Maßnahmen in der heutigen Politik sind schwierig zu finden.
Warum ist unser modernes politisches System in Europa nicht mehr zeitgemäß?
Emil Ejner Friis:
Weil dieses System für eine alte Klassengesellschaft entwickelt wurde. Während der Moderne hatten wir die Arbeiterklasse, die Bourgeoisie, die Kapitalisten. Heute sind diese Gruppierungen nicht mehr so klar zu trennen. Ich bezeichne mich zum Beispiel als Teil der kreativen Klasse – ich schreibe Bücher. Läuft eines mal nicht so gut, dann rutsche ich gleichzeitig in die Klasse des Prekariats. Selbst innerhalb einer Familie haben wir verschiedene Klassenidentitäten. Und etliche Menschen, die früher als Teil der Mittelklasse galten, sind heute marginalisiert. Deshalb fühlen sich viele Bürger auch nicht mehr repräsentiert, was Phänomene wie die AfD und andere nationalistische Parteien erklärt.
Auch unsere politische Diskussion und die ganze sind überholt: Es geht zu sehr um Wettbewerb statt darum, gemeinsam Lösungen zu finden. Es geht zu wenig um das, was wir im Buch als »kollektive Intelligenz« bezeichnen.
Deshalb müssen wir uns weiterentwickeln und brauchen eine neue politische Kultur.
Diese neue politische Kultur nennt ihr Metamodernismus. Worin besteht sie?
Emil Ejner Friis:
Der Metamodernismus besteht aus mehreren Elementen. Eines davon ist die Gesellschaft des Zuhörens, die wir im ersten Buch genauer vorstellen. Im zweiten Buch, das noch nicht auf Deutsch erschienen ist, geht es vermehrt um das politische System des Metamodernismus.
Die 3 Moderne, Postmoderne und Metamoderne nach Hanzi Freinacht:
Was macht die Gesellschaft des Zuhörens aus?
Emil Ejner Friis:
So wie der Sozialstaat im 20. Jahrhundert für die körperlichen Bedürfnisse der Bevölkerung gesorgt hat – Hast du einen Job? Hast du ein Dach über dem Kopf? Hast du Krankenhäuser und eine Gesundheitsvorsorge? –, sollte in der metamodernen Welt ein Sozialstaat 2.0 für die seelische Gesundheit der Menschen sorgen.
Das heißt, wir gehen in der 3 Stufen weiter. Es geht nicht mehr nur um physiologische Bedürfnisse wie Essen, Schlafen oder Sicherheit. Es geht um Wertschätzung, Gemeinschaft und Zugehörigkeitsgefühl, um Sinnerfüllung.
Die Gesellschaft des Zuhörens weiß, dass psychologische und emotionale Entwicklung wichtig ist. Und macht sie deshalb zu einem politischen Ziel.
Die Maslowsche Bedürfnispyramide.
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Quelle:
Wikimedia commons
gemeinfrei
Das heißt, der Staat soll dafür sorgen, dass ich lerne, mit Emotionen umzugehen, wertschätzend mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren, mental gesund zu bleiben?
Emil Ejner Friis:
Ganz genau.
Klingt revolutionär.
Emil Ejner Friis:
Aber irgendwie müssen wir unsere Traumata heilen. Nur durch emotionale und psychologische Heilung kann die Menschheit eine höhere Entwicklungsstufe erreichen.
Trump ist ein gutes Beispiel. Ein erwachsener Mann, der sich benimmt wie ein 12-Jähriger. Warum? Wahrscheinlich weil er in seinem Leben etwas erlebt hat, was er nicht verarbeiten konnte. Weil er in seinen Traumata feststeckt, ist auch seine psychologische Entwicklung in einer früheren Stufe stecken geblieben. Vor allem Männer müssen an sich selbst arbeiten, über ihre Gefühle sprechen lernen.
»Die Gesellschaft des Zuhörens« ist 2016 auf Englisch, 2023 auf Deutsch im Büchner Verlag erschienen.
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Quelle:
Büchner Verlag
Wie genau soll der Staat die Menschen bei ihrer psychologischen Entwicklung unterstützen?
Emil Ejner Friis:
Es gibt Tausende von kleineren und größeren Lösungen. In unserem Buch wollten wir vor allem einen Rahmen für ein neues Denken schaffen. Die konkrete Umsetzung sollten andere Leute übernehmen, die besser dafür geeignet sind.
Aber um ein paar Beispiele zu nennen: Meditationsunterricht an Schulen. Jeder Mensch sollte Recht auf einen Therapeuten haben. Oder letztens stieß ich auf eine Nachricht, dass in Dänemark Yoga für Lastwagenfahrer angeboten wird.
Wenn es Menschen psychisch besser geht und sie emotional reifer werden – wie trägt das dazu bei, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen? Ist es nicht idealistisch zu denken, dass emotional gebildete Menschen automatisch nachhaltiger leben, toleranter werden und gegen wirtschaftliche Ungleichheit vorgehen?
Emil Ejner Friis:
Der Mensch ist ein Zweck, kein Mittel – das sagt Immanuel Kant. Um das Beispiel des Lastwagenfahrers zu nehmen, der Yoga-Stunden bekommt: Es geht nicht darum, ihn zum Umweltaktivisten zu machen. Es geht um seine Rückenprobleme durch das viele Fahren und den emotionalen Stress, den er dadurch verspürt. Alles andere ist ein positiver Nebeneffekt, aber nicht der Zweck der Sache.
Wenn es Menschen gut geht, können sie sich auch um andere kümmern. Das passiert meistens automatisch. Wir sehen das jetzt schon: Privilegierte Leute, deren Sicherheitsbedürfnisse erfüllt sind, wählen zum Beispiel eher grün oder links – obwohl diese Parteien ihren Klasseninteressen entgegenstehen.
Wer soll den Yogaunterricht für die Lkw-Fahrer:innen finanzieren?
Emil Ejner Friis:
Den Vorwurf, dass diese Maßnahmen zu teuer seien, höre ich oft. Aber ich bin überzeugt, dass wir in der Gesellschaft des Zuhörens langfristig Kosten sparen.
Stell dir vor, unser Schulsystem bringt Schüler hervor, die mit einem richtig guten Selbstgefühl und Selbstbewusstsein ins Arbeitsleben eintreten; die respektvolle, gute Beziehungen miteinander führen können; die auf ihren Körper und ihre Bedürfnisse hören.
Glaubst du nicht, dass dann weniger Leute depressiv zu Hause sitzen würden, um im Keller Computerspiele zu spielen? Dass wir weniger Fälle von Burn-out hätten? Dass weniger Alkohol und Drogen konsumiert würden? Dass die Kriminalität sänke? All das würde enorme Kosten im Gesundheits- und Sicherheitsbereich einsparen. Menschen wären kreativer und könnten der Welt mehr geben. Von daher sage ich: Wir können es uns nicht leisten, nichts zu tun.
Was müssen wir tun, um diese Utopie Realität werden zu lassen?
Emil Ejner Friis:
Dafür müssen wir die existierenden Strukturen nutzen, wir können nicht aus dem Nichts ein neues, paralleles System aufbauen. Das heißt, wir müssen eine metamoderne Partei gründen und in die Politik gehen. Das wollten Daniel und ich zunächst auch. Aber dann haben wir gemerkt, dass es dafür noch zu früh ist und wir Glücklichere Menschen schaffen funktionalere Gesellschaften und funktionalere Gesellschaften sind effizienter im Kampf gegen Ungleichheit
Warum in der Kunst?
Emil Ejner Friis:
Die Kunst entwickelt sich immer zuerst. Dann folgen Philosophie und Wissenschaft, die Wirtschaft, dann erst die Politik und am Ende die Ethik. Moderne Ideen, wie etwa der Glaube an den rationalen Menschen oder der Fokus auf das Individuum, haben in der Kunst, nämlich mit der Renaissance, begonnen. Dann erst kam die wissenschaftliche Revolution, schließlich die industrielle Revolution, bevor sich dann demokratische politische Systeme entwickelt haben. Erst am Ende dieser Entwicklung hat sich unser moralisches Empfinden großflächig verändert.
Um die nächste Stufe in Richtung Metamoderne anzustoßen, braucht es also zuerst eine kulturelle und künstlerische Bewegung. Dafür schreiben Daniel und ich Bücher, die wir explizit als Kunst verstehen, nicht als akademische Werke. Zudem organisieren wir »metamoderne Salons«, in denen Menschen sich austauschen können.
Überall in Europa erstarken Gegenbewegungen zu progressiver Entwicklung. Der Aufschwung nationalistischer und rechtsextremer Parteien zeugt davon. Woher kommt das und wie sollen wir damit umgehen?
Emil Ejner Friis:
Die Leute fühlen sich zurückgelassen. Die finanzielle und physische Sicherheit, die wir brauchen, damit wir uns zu einer post- und metamodernen Gesellschaft entwickeln, schwindet: Die Gesundheitssysteme stehen in vielen Ländern vor dem Kollaps, es wurde keine ordentliche Integrationspolitik gemacht. Auch Phänomene wie der Ukrainekrieg oder Corona haben zu dieser Rückentwicklung beigetragen. Gerade ist mein Weltbild etwas düster.
Du hast also keine großen Hoffnungen, dass die Menschheit die Postmoderne, geschweige denn die Metamoderne erreicht?
Emil Ejner Friis:
Langfristig gesehen werden wir die metamoderne Stufe erreichen. Ich denke, alle Gesellschaften zieht es früher oder später in Richtung Weiterentwicklung.
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.