Gegen den Krieg und gegen Putin zu sein und das auch noch öffentlich zu sagen – das ist in Russland gerade nicht leicht. Es ist schwer, jemanden zu finden, der im Vorfeld der Wahlen über den Zustand der Opposition sprechen möchte.
Die meisten Organisationen, die im Bereich der Demokratieförderung oder der Wahrung von Menschenrechten arbeiten, wurden von den Behörden verboten. Prominente Oppositionelle sitzen oder haben das Land verlassen. Der letzte Rückschlag war der Tod des wohl bekanntesten Gesichts der russischen Opposition:
Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl am 15.–17. März 2024 ist Putins Wiederwahl sicher.
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Was bleibt von der russischen Opposition, von der kritischen Zivilbevölkerung?
Roman Kiselyow ist ein russischer Politikwissenschaftler und Menschenrechtsaktivist. Bis vor einem Jahr war er als Rechtsberater der Moskauer Helsinki-Gruppe tätig. Nach dem Verbot der Menschenrechtsorganisation leistet er weiterhin Widerstand.
Menschen wie ihn gebe es im Land Tausende, sagt er. Auch wenn es an der Oberfläche ruhiger geworden ist – der brodelt direkt darunter.
Wie genau dieser aussieht, was der russischen Opposition trotz wachsender Repression Hoffnung gibt und wie sie auf die kommenden Wahlen blickt, hat mir Roman aus Moskau erzählt.
Julia Tappeiner:
Du warst bis zum letzten Jahr Rechtsberater der Moskauer Helsinki-Gruppe. Diese wurde nach einem Beschluss des Moskauer Stadtgerichts aufgelöst – so wie viele andere kritische NGOs in Russland auch. Kannst du deine Arbeit noch fortführen?
Roman Kiselyow:
Nun, offiziell wurde die Organisation am 25. Januar 2023 aufgelöst. Ein Gericht kann jedoch schwer eine Gruppe von Menschen stilllegen, die bestimmte Ideale teilt. Und in diesem Sinne existiert die Moskauer Helsinki-Gruppe weiterhin. Durch kleine juristische Tricksereien – etwa, indem wir uns jetzt etwas anders nennen – können wir rechtliche Konsequenzen vermeiden.
Trotzdem war das Gerichtsurteil sehr schädlich für unsere Arbeit. Vor allem, weil wir unsere finanzielle Stabilität verloren haben. Unser Stiftungskonto bei der Bank wurde aufgelöst, wir erhalten keine Zuschüsse mehr und wir können keine Spenden mehr annehmen. Dadurch müssen wir unsere Aktivitäten stark einschränken. Ich bekomme auch kein Gehalt mehr.
Wie überlebst du?
Roman Kiselyow:
Das ist ziemlich einfach: Du fängst einfach an, jeden Tag ein bisschen weniger zu essen. Danach, weniger zu trinken.
Spaß beiseite: Es gibt Umwege, und es gibt Menschen, die bereit sind, Menschenrechtsaktivisten zu unterstützen. Sowohl innerhalb Russlands als auch vom Ausland aus. Auch wenn es gerade schwierig und mit Risiko verbunden ist.
Die russische Exil-Opposition spielt also eine wichtige Rolle?
Roman Kiselyow:
Es ist nicht so, dass die russische Diaspora einfach irgendwo anders ein bequemes Leben führt. Viele der Menschenrechtsaktivistinnen und oppositionellen Politiker, arbeiten vom Ausland aus weiter. Für uns sind sie eine wichtige finanzielle Ressource.
Vor allem für die Zukunft des Landes ist es wichtig, den Kontakt zur russischen Diaspora aufrechtzuerhalten. Viele werden vielleicht gar nicht wiederkommen. Aber wir brauchen solche Menschen, um unser Land wieder aufzubauen.
Warum bist du in Russland geblieben?
Roman Kiselyow:
Ich bin einfach ein sehr starrköpfiger Patriot. Als der Krieg begann, habe ich kindisch reagiert und gedacht, dass ich jetzt erst recht nicht gehe, eben weil die Regierung mich gerne loshaben möchte.
Bevor das alles passiert ist, habe ich schon versucht, Russland zu verlassen. 2018 habe ich in England studiert und hatte danach geplant, nach Tschechien zu gehen. Doch dann brach im Sommer 2019, im Zuge der Kommunalwahlen in Moskau, Viele meiner Freunde waren daran beteiligt. Die Tatsache, dass ich nicht dort war, hat eine starke emotionale Reaktion in mir ausgelöst. Mir wurde klar, dass ich an der Gestaltung meines Landes mitwirken will. Ich ließ die Idee eines Studiums in Tschechien fallen und kehrte nach Moskau zurück.
Seitdem wird es der organisierten Opposition im Land immer schwerer gemacht. Welche alternativen Wege sind euch geblieben, um Menschenrechts- und Oppositionsarbeit zu machen?
Roman Kiselyow:
Seit Kriegsbeginn ist die kritische Zivilgesellschaft in Russland wieder erwacht. Es sind bestimmt mehr als ein Dutzend neuer Bewegungen entstanden, häufig von Leuten, die vorher gar nicht aktivistisch tätig waren. Diese organisieren sich nicht mehr um eine zentrale und öffentliche Institution mit fixen Strukturen herum, sondern agieren dezentral und weniger sichtbar.
Zum Beispiel die
Roman Kiselyow:
Das ist ein gutes Beispiel. Außerdem haben sich Bürgernetzwerke gegründet, die Geflüchteten helfen, aus zu gelangen oder weiter nach Europa. Sie sammeln zum Beispiel Geld oder organisieren Dokumente. Mittlerweile gibt es in jeder größeren russischen Stadt einen Chat, über den sich Tausende Freiwillige organisieren. Bisher konnten wir 30.000 ukrainische Familien unterstützen.
Eine weitere Initiative, die ich gemeinsam mit anderen Freiwilligen gegründet habe, rettet ukrainische Bürger, die von den russischen Behörden in den besetzten ukrainischen Gebieten festgenommen wurden. Seit August letzten Jahres ist es uns gelungen, 16 Menschen aus dem Donbass zu befreien, denen aus politischen Gründen Verbrechen vorgeworfen wurden, die sie nicht begangen hatten. Solche Fälle gibt es leider viele.
Das klingt so, als lebe die zivilgesellschaftliche Opposition in Russland trotz allem weiter. Wenn ich mit Freund:innen darüber spreche, heißt es immer: »Welche Opposition?«
Roman Kiselyow:
Dazu habe ich eine interessante Anekdote: 2022 traf ich den UN-Sonderberichterstatter für Versammlungsfreiheit Clément Nyaletsossi Voule. Vor seinem Amt war er Menschenrechtsaktivist in seinem Heimatland Togo. Er erzählte mir, wie ihm damals öfter gesagt wurde, in Togo gebe es doch keine Opposition mehr. Daraufhin habe er geantwortet: Und wer bin dann ich? So ähnlich geht es mir gerade. Ich weiß, von außen scheint es, als gäbe es niemanden mehr, der Widerstand leistet. Doch dem ist nicht so.
Bald finden in Russland Wahlen statt. Einen ernsthaften Opponenten für Putin gibt es nicht.
Roman Kiselyow:
Niemand geht davon aus, dass diese Wahlen wichtig sein werden. Zuallererst, weil es keine echten Wahlen sind. In den letzten Jahren hat die Regierung so viele Instrumente entwickelt, um die Ergebnisse zu kontrollieren. Zum Beispiel findet die Stimmabgabe in jenen Gemeinden, wo sich traditionell die meisten kritischen Wählerinnen befinden, seit 2021 elektronisch statt. Dadurch
Es gibt zwar noch 3 weitere Kandidaten neben Putin. Doch sie sind nicht bereit, eine breit angelegte Gegenkampagne zu organisieren oder Wahlbeobachter in die Wahllokale in ganz Russland zu entsenden. Es sind also keine richtigen Gegenkandidaten.
Wie spielt sich in dieser Atmosphäre der Wahlkampf ab?
Roman Kiselyow:
Die Regierung hofft vor allem, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, da das auch ihre Legitimität erhöht. Aus diesem Grund sehen wir überall Wahlplakate in der Stadt hängen, auf denen das Symbol für Wahlbeteiligung, der Buchstabe zu sehen ist. Plakate, die für die Regierungspartei stehen, gibt es kaum. Auch im Fernsehen macht Putin kaum Werbung für sich. Genauso wenig seine symbolischen Gegenkandidaten.
Alexej Nawalny hat einmal gesagt, dass selbst manipulierte Wahlen wichtig seien. Denn sie leiteten immer eine Zeit ein, in der viele Menschen darüber nachdächten, wer gerade an der Macht stehe und warum.
Roman Kiselyow:
Zwar sind in Zeiten von Wahlen die Bürger eher bereit, über Politik zu reden. Jedoch sehe ich unter jenen Menschen mit konservativeren Ansichten, also auch diejenigen, die unterstützen, was in Russland gerade passiert, keine echte kritische Debatte. Und genau das ist das Problem. Gerade haben wir es schwer, diese Menschen zu erreichen.
Im September werden wir in ganz Russland eine Reihe von lokalen Wahlen abhalten. Eine dieser Wahlen wird in Moskau stattfinden. Da wird es wahrscheinlich mehr Kandidaten geben, was mehr Arbeit für die Regierung bedeuten wird, diese auszuschließen. Da könnten wir bessere Chancen haben, kommunikativ durchzudringen.
Was motiviert dich und deine Mitstreiter:innen, trotz allem weiterhin Widerstand zu leisten?
Roman Kiselyow:
Na ja, wir können nicht still abwarten und darauf hoffen, dass sich die Dinge von selbst regeln, oder? Die Antikriegsbewegung wird den Krieg in der Ukraine nicht beenden können. Doch das Mindeste, was wir tun können, ist, das Leid zu mindern und die Konsequenzen dieses Krieges abzufedern. Vor allem aber arbeiten wir für eine mögliche Zukunft unseres Landes. Dafür, dass sich die Seele der Nation nicht vollständig auflöst.
Gibt es Zeichen, die dich hoffnungsvoll stimmen, dass eure Arbeit erfolgreich sein wird?
Roman Kiselyow:
Es gibt immer Hoffnung. Zuallererst ist Krieg eine Zeit der Unsicherheit, in der es ein Fenster für unerwartete Möglichkeiten gibt, dass sich etwas verändert. Wer hätte zum Beispiel den Vormarsch von vorhergesagt? Dasselbe gilt für die Zeit nach Ende des Krieges. Auch da Gerade vereint der Angriffskrieg viele Teile der Gesellschaft. Wenn er aufhört, bricht diese Koalition zusammen und eine Umstrukturierung der Machtverhältnisse wird möglich.
Auch die Trauerfeier von Alexej Nawalny in Moskau hat mir Hoffnung geschenkt. Trotz des hohen Risikos, dabei verhaftet zu werden, haben
Wie können Deutschland und andere westeuropäische Staaten euch am besten unterstützen?
Roman Kiselyow:
Ich möchte die Schuld der russischen Nation an dem Angriffskrieg nicht mildern. Aber gleichzeitig ist es wichtig, zwischen denjenigen, die den Krieg wirklich führen, und der Zivilgesellschaft zu unterscheiden. Besonders die Menschen, die das Regime in Russland bekämpfen, wünschen sich von westlichen Demokratien mehr Unterstützung. Ich höre von Aktivistinnen, die im Ausland leben, dass sie oft mit Stigmata konfrontiert sind oder es ihnen schwer gemacht wird, Organisationen zu gründen, die der russischen Oppositionsarbeit dienen. Dabei ist es wichtig, gerade diese russischen Bürger zu unterstützen, damit bei ihnen kein Groll entsteht. Sie sind diejenigen, die eine bessere Zukunft für Russland und die Beziehungen zum Westen aufbauen können.
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.