Brauchen wir mehr Anarchie, um die Welt zu retten?
Chaos, Zerstörung, Regellosigkeit – das verstehen viele unter Anarchie. Doch dahinter steckt mehr, vielleicht sogar unsere größte Chance im Kampf gegen den Klimawandel.
Bei Anarchie denken viele an das pure Chaos. An brennende Autos, Punks und das A im Kreis, das bis heute auf Häuserwände gemalt oder als Sticker an Laternenpfosten geklebt wird.
Doch Anarchie steht nicht für Unordnung. Sie steht für etwas ganz anderes: für
Geht Gesellschaft wirklich ohne Herrschaft und Hierarchie? Die britische Philosophin und bekennende Anarchistin Sophie Scott-Brown meint: Natürlich! In Freundschaften, Familien und anderen sozialen Konstellationen schmieden wir schließlich die ganze Zeit gemeinsame Pläne, meistern zusammen unseren Alltag, besprechen, was wie zu tun ist – auf Augenhöhe, ohne hierarchische Struktur. Mal weiß der eine, was zu tun ist,
Die Britin wirbt dafür, Anarchie mehr als demokratische Praxis zu verstehen, weniger als politische Utopie. Anarchie bedeutet für sie: kreative Kooperation; der Wille, Dinge anders zu denken, Pläne immer wieder neu zu justieren, Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. So verstanden könne Anarchie uns dabei helfen, mit dem permanenten Wandel, dem wir unterworfen seien, produktiv umzugehen.
Ist das auch ein konstruktiver Ansatz für Probleme wie die Klimakrise? Was genau bedeutet es, anarchistisch zu handeln? Welches Menschenbild steckt dahinter – und welche Experimente gab und gibt es bereits?
Um Antworten darauf zu finden, habe ich mich mit Sophie Scott-Brown zum Gespräch verabredet, mir einen Überblick über die Geschichte anarchistischen Denkens verschafft und am Ende festgestellt: In mir und meinem Alltag steckt schon viel mehr Anarchie, als ich dachte.
Doch von vorne.
Bärtige Männer, tanzende Revolutionärinnen: ein Rundgang durch die Geschichte anarchistischen Denkens
Wer sich in der Ahnengalerie anarchistischen Denkens umschaut, trifft schnell auf viele Männer mit »beeindruckenden Bärten«, wie es Sophie Scott-Brown leicht ironisch formuliert. Männer, die sich in ihren jeweiligen Gesellschaftsentwürfen aufeinander bezogen und zum Teil auch problematisches Gedankengut vertraten.
Da ist zum Beispiel der französische Philosoph Pierre-Joseph Proudhon. Der Sohn eines
Proudhon wird auch als Frühsozialist bezeichnet. Von ihm stammt das berühmte Zitat: »Eigentum ist Diebstahl!« Damit meinte er allerdings nicht die Dinge, die jede:r zum Leben braucht, sondern angehäuftes Kapital, das einem Privilegien und Macht über andere verleiht, zum Beispiel über deren Zeit und Arbeitskraft.
Einer der ersten bekannten Lexikon-Einträge zum Schlagwort Anarchismus stammt aus der
Dafür arbeiten diese am besten in einem Netzwerk flexibler Gruppen unterschiedlicher Größe und Daseinszwecke zusammen. Diese Kollektive produzieren und konsumieren gemeinsam, sie kümmern sich um Bildung, Sicherheit und alles andere, was die Menschen zum Leben und zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit brauchen. Bedürfnisse statt »Leistung« müssen bei der Entlohnung von Arbeit im Mittelpunkt stehen, so Kropotkin. Eine Regierung brauche es nicht, um all das zu organisieren.
Überhaupt sei Autorität nur dann gerechtfertigt, wenn sie aus freiem Entschluss verliehen werde und lediglich auf Zeit – das meint zumindest Michail Bakunin, noch ein bärtiger Russe aus gutem Hause. Am besten sei es, wenn Führung unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft rotiere und sich jede:r der spezifischen
Proudhon und Kropotkin zählen ebenso wie Bakunin und Emma Goldman (ohne Bart!) zu Vertreter:innen des »kollektivistischen« Anarchismus, der im linken politischen Spektrum verordnet wird. Sie alle teilen die Ansicht, dass sich das Individuum nur in der Gemeinschaft mit anderen bestmöglich verwirklichen kann. Staatlicher Herrschaft stehen sie unter anderem deshalb ablehnend gegenüber, weil sie davon ausgehen, dass diese die freie, gleichberechtigte, freudvolle und kreative Kooperation unter den Menschen behindere,
Apropos freudvoll – von Emma Goldman (1869–1940) stammt das bekannte Zitat: »Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution!« Goldman verwob den Anarchismus mit dem Feminismus, indem sie die patriarchalen Herrschaftsstrukturen in Familie und Beziehungen benannte. Goldman kritisierte die
Ist Anarchismus immer links? Nicht unbedingt.
Den »kollektivistischen« Ansätzen stehen »individualistisch« orientierte Anarchist:innen gegenüber. Für sie besteht Freiheit nicht darin, das gute Leben gemeinsam mit anderen zu organisieren. Ihr Ziel ist es, dass ein am Eigennutzen orientiertes Individuum ungehindert seinen Interessen folgen kann. Freiheit bedeutet hier: Freiheit von Steuern, Sozialstaat, Regulierungen und Einschränkungen wie beispielsweise dem
An dieser Stelle brechen wir den Rundgang durch die Ahnengalerie etwas abrupt ab. Zwar hängen hier noch einige Bilder mehr – Porträts von Menschen, vor allem Männern, mit bewegten Biografien und großen Ideen:
Doch wir sollten uns nicht zu lange in diesem Raum aufhalten – Sophie Scott-Brown schiebt uns sanft hinaus, indem sie darauf hinweist, dass es beim Anarchismus doch eigentlich um eine Haltung gehe, die Autoritäten ablehne. Wenn wir nun diese Denker:innen auf ein Podest heben, also zu Autoritäten in Sachen Anarchismus erklären, haben wir wahrscheinlich noch nicht wirklich viel verstanden.
Wir lassen die Ahnengalerie also hinter uns und gehen einen Raum weiter. Dort erwarten uns Bilder von französischen Frauen auf den Barrikaden, Einblicke in die ukrainische Geschichte – und die Zeltcamps von Occupy Wallstreet.
Historische Experimente: Von der Pariser Kommune über die Machnowschtschina – bis zu radikalen Vegetarier:innen
Im Frühling 1871 begann eine kurze, aber einflussreiche Episode in der Geschichte der sozialen Revolutionen. Nach der Niederlage des französischen Kaiserreichs im Krieg gegen Deutschland und einem kostspieligen Friedensvertrag fühlte sich die Pariser Bevölkerung von der neuen Zentralregierung in Versailles im Stich gelassen.
Die Menschen waren nicht damit einverstanden, dass sie die Folgen des Krieges finanziell schultern sollten und ihr Streben nach nationaler Autonomie übergangen wurde.
Am 18. März revoltierte die Nationalgarde, große Teile der Arbeiter:innenschaft schlossen sich an. Über dem Rathaus wurde eine rote Fahne gehisst – die Pariser Kommune war geboren.
Viele der »Kommunard:innen« waren von anarchistischen Ideen beeinflusst. Direkte Demokratie, dezentrale Verwaltung und die Abschaffung von Hierarchien standen auf der Agenda. Im Eiltempo wurden Reformen umgesetzt, fällige Mieten erlassen, Fabriken und andere Betriebe kollektiviert. Arbeiter:innen übernahmen die Kontrolle über ihre Arbeitsplätze. Und auch die Emanzipation der Frauen machte in dieser Zeit einen Schritt vorwärts: Kommunardinnen kämpften sowohl auf den Barrikaden als auch in den politischen Strukturen der Kommune für Freiheit und Gleichberechtigung. Frauen verlangten und bekamen Zugang zu Bildung sowie erstmals in der französischen Geschichte ein Recht auf Arbeit und
Das Experiment war kurzlebig, der Staatsapparat stärker. Schon am 21. Mai drangen Regierungstruppen in die Stadt ein. Eine blutige Woche und Tausende Tote später war die Pariser Kommune Geschichte.
Warum hat sich dieses kurze Experiment derart ins historische Gedächtnis eingebrannt? Wahrscheinlich weil die Pariser Kommune Ideale aufgestellt hat, wofür Menschen auf der ganzen Welt noch heute kämpfen: Demokratie, Selbstbestimmung sowie die Emanzipation von Religion, Patriarchat und Ausbeutung.
Letztere wollte ein ukrainischer Bauernsohn namens Nestor Machno (1888–1934) ebenfalls nicht mehr hinnehmen, vor dessen Porträt wir als Nächstes stehen bleiben.
Schon als kleiner Junge musste Machno auf den Gütern von ortsansässigen Adligen arbeiten. Später wurde er der namensgebende Begründer einer Bewegung, die zwischen 1917 und 1922 in großen Teilen des Landes anarchistische Gesellschaftsstrukturen begründete: die Machnowschtschina.
Machno war weder mit der brutalen Herrschaft der Großgrundbesitzer über die Bauern im Zarenreich einverstanden noch ein Anhänger der bolschewistischen Regierung in Russland, die mit ihrer zentralen Bürokratie ebenfalls über die Bedürfnisse der Menschen vor Ort hinwegging.
Beeinflusst von den Ideen Bakunins und Kropotkins begann er im Jahr 1917 damit, gewerkschaftliche Organisationsstrukturen unter den Bauern und Bäuerinnen in der Ukraine aufzubauen. Diese war nach der Oktoberrevolution von Russland unabhängig geworden und stand unter dem militärischen Einfluss der Deutschen.
Mit seiner Partisanenarmee gelang es Machno, auf einem Gebiet von bis zu
Obwohl Machno und seine Mitstreiter:innen in der Roten Armee zunächst Verbündete im Kampf gegen den Zarismus hatten, wendete sich das Blatt schnell und die antiautoritären Ansätze der Machnowschtschina verloren die Unterstützung Trotzkis. Im Sommer 1922 wurde eines der größten anarchistischen Experimente der Geschichte gewaltsam durch die Rote Armee beendet und die Ukraine an die Sowjetunion angegliedert.
Es könnten an dieser Stelle noch viele Geschichten erzählt werden: von den spanischen Anarchist:innen und ihrem Versuch einer sozialen Revolution während des Bürgerkriegs, der sogar so weit ging, dass in einigen Teilen des Landes
Fragt man Sophie Scott-Brown nach anarchistischen Wagnissen, die sie besonders inspirierend findet, verwehrt sie sich auch hier der Mythenbildung. Sie erzählt nicht von den Pariser Kommunard:innen, von Nestor Machno oder Occupy Wallstreet – sondern ausgerechnet von Vegetarier:innen.
Für die Philosophin finden bedeutende anarchistische Experimente überall dort statt, wo Menschen ihren Ideen freien Lauf lassen und gemeinsam etwas Neues ausprobieren. »Vegetarismus wurde zunächst in kleinen Gemeinschaften ausprobiert. Heute kannst du damit niemanden mehr schocken. Sogar in Fish-and-Chips-Läden gibt es heute vegetarische Optionen. Das zeigt, wie normal es geworden ist.« Es gebe viele Beispiele dafür, wie Dinge, die einmal für die meisten Menschen lächerlich klängen, in sehr kurzer Zeit zum Mainstream würden.
All diese Experimente, die in kleinen Gemeinschaften ihren Anfang nehmen, sind das, worum es im Anarchismus wirklich geht. Anarchismus giert nach Ideen. Je mehr Ideen wir haben, desto mehr echte Entscheidungen können wir treffen.
Doch wie hilft uns das im Umgang mit den großen Krisen unserer Zeit?
Mit dem »neuen Anarchismus« gegen die Klimakatastrophe?
Wir verlassen die Galerie, im Kopf noch die Bilder der bärtigen Männer und ihre Ideen von der Selbstermächtigung der Menschen. Wir entfernen uns von den Bildern kompromissloser Revolutionärinnen und brennender Barrikaden.
Was hat uns dieser Rundgang gebracht? Wie könnte ein politisches System aussehen, das all diese Ideen integriert? Umfasst die Demokratie, wie wir sie heute kennen, nicht schon sehr viele der Elemente anarchistischen Denkens?
Sophie Scott-Brown stimmt grundsätzlich zu: »Meine Version von Anarchie besteht darin, ständig zu improvisieren, zu experimentieren, Neues zu erschaffen, je nachdem wie es die Situation erfordert. Im Grunde ist das direkte Demokratie.«
Jedenfalls dann, wenn in ihr viel miteinander geredet, ausdiskutiert und dezentral entschieden wird. Genau das ist für die Philosophin die beste Art, mit der wichtigsten Herausforderung unserer Zeit umzugehen: der Klimakrise.
Dabei glauben viele Menschen das genaue Gegenteil: dass wir zu viel reden und zu wenig handeln – und sich die Krise nur durch entschlossene
Wenn das ganze Gerede zu einer höheren Lebensqualität führt und wir es dann alle weniger eilig haben, uns selbst und den Planeten zu zerstören – dann habe ich kein Problem damit!
Womit sie durchaus ein Problem hat: Wenn jemand – egal wie gut die Absichten auch sein mögen – von der einen Lösung oder der einen alles entscheidenden Zahl spräche. »Der Klimawandel ist ein allgegenwärtiges Problem. Er ist überall präsent, aber hat für Großbritannien andere Konsequenzen als auf den Pazifikinseln. Er ist ein sich ständig bewegendes Ziel.« Mit einer anarchistischen Denkweise sei man dafür gut gerüstet.
Anarchistisches Denken fordert, dass möglichst viele unterschiedliche Menschen mit ihren Perspektiven Teil der Diskussion werden. Auf Augenhöhe, ohne Hierarchien, die sich auf etwas anderes als Kompetenz oder Lebenserfahrung stützen. So viele unterschiedliche Köpfe wie möglich müssten über Lösungen für die Klimakatastrophe nachdenken – auf der lokalen Ebene, in Städten und Gemeinden, ja sogar in einzelnen Stadtvierteln oder Dorfstraßen.
An anderer Stelle könnte uns der anarchistische Verstand als eine Art Blocker dienen, wie Sophie Scott-Brown es formuliert: »Ein Blocker für einige dieser sehr großen, dramatischen,
Sophie Scott-Brown glaubt daran, dass sich Menschen instinktiv zusammenschließen, um zu überleben. Sie glaubt an soziale Fantasie, die sich entfaltet, wenn Menschen vor Problemen stehen und die Chance haben, gemeinsam daran zu arbeiten.
Und jetzt? Ist die logische Konsequenz daraus eine Revolution, die uns von den Schranken befreit, die uns Hierarchien auferlegen?! Habe ich ein Interview mit einer Umstürzlerin geführt, die zu allem bereit ist? Nicht ganz.
»Eine Revolution kostet eine Menge Energie. Wir sollten mit den einfachen Erfolgen beginnen, neue Räume betreten, mehr darüber herausfinden, wie sie funktionieren. Stoßt Türen auf!«
Anarchie ist überall!
Klingt abstrakt? Weil mir nach all der Theorie etwas der Kopf schwirrt, breche ich zu meinem täglichen Nachmittagsspaziergang auf. Ich laufe am Bundesnachrichtendienst (BND) in Berlin-Mitte vorbei: ein respekteinflößender Betonbau mit meterhohen Zäunen und Überwachungskameras. Ein Symbol für staatliche Autorität und Kontrolle.
Doch dann biege ich in die Habersaathstraße ein. Dort, an einem Gebäude direkt gegenüber vom BND, hängen Transparente aus den Fenstern: »Abriss war gestern schon scheiße«, »Homeless go home«! Ginge es nach dem Willen des Eigentümers, wäre das Haus längst abgerissen. Ein profitabler Neubau sollte hier entstehen. Doch im Dezember 2021 besetzten wohnungslose Berliner:innen das Gebäude und leben dort seitdem in einem selbstverwalteten Wohnprojekt.
Ein paar Hundert Meter weiter komme ich am Himmelbeet vorbei, einem Gemeinschaftsgarten auf einer ehemals unwirtlichen
In meiner Nachbarschaft gibt es außerdem
Und auch der Tatsache, dass ich mich während meines Arbeitstags frei dazu entscheide, meinen Gedanken nachhängend durch die Gegend zu spazieren, wohnt eine Prise Anarchie inne.
Ich habe verstanden: Es geht beim Anarchismus nicht um die große politische Umwälzung. Es geht darum, Macht über den eigenen Alltag zu haben, gemeinsam mit anderen etwas zu erschaffen – darum, einfach mal anzufangen. Mit vielen kleinen Schritten kommen wir vielleicht auch der Lösung für die ganz großen Probleme näher.
Titelbild: Vincent Desjardins - copyright