Analysen des Israel-Palästina-Konflikts kreisen oft um die Themen Macht, Interessen und politische oder religiöse Haltungen.
Wenn sich 2 Menschen allerdings privat streiten, ist das erste, was Konflikt-Expert:innen sagen: Es geht selten um die Sachebene. Dahinter stecken meist unerfüllte Bedürfnisse und Gefühle wie Angst oder Wut.
Bei politischen Konflikten wird die emotionale Dimension aber selten beleuchtet. Doch auch hinter Politik stecken Menschen und Gruppen von Menschen – mit eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Gefühlen.
Im Interview erklärt er, wie Gefühle und Konflikte zusammenhängen, welche Rolle Erniedrigung im Nahostkonflikt spielt und was wir daraus lernen können, um die Gewalt zu beenden.
Und die Antworten, die Sie gefunden haben, waren: Gefühle führen zu dieser Gewalt.
Oliver Fink:
Genau. Zumindest bei der Art von Konflikten, mit denen ich mich beschäftigte. Das sind sogenannte »unlösbare Konflikte«, also sehr lang andauernde Konflikte, meistens über mehr als eine Generation hinaus.
die Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan oder zwischen Israel und Palästina. Solche Konflikte erzeugen viel Leid, was wiederum Gefühle auslöst. Und diese Gefühle beeinflussen die Konflikthandlungen viel stärker als politische Haltungen oder rationales Denken.
Bei Konflikten geht es also nicht um Sicherheit, Streit um ein Territorium oder Machtstreben?
Oliver Fink:
Am Anfang eines Konflikts, ja. Da liegen oft die klassischen Gründe dahinter, die in der Politikwissenschaft beschrieben werden: Eine Regierung fühlt sich bedroht. Oder sie will von innenpolitischen Problemen ablenken. Aber je länger ein Konflikt andauert, desto mehr treten Emotionen in den Vordergrund und es geht dann weniger um die Sachebene.
Warum werden Emotionen in der politischen Konfliktforschung so selten beachtet?
Oliver Fink:
Die Politikwissenschaft kommt normalerweise nicht aus einer psychologischen Ecke, sondern verfolgt einen rationalen, staatsphilosophischen Ansatz. Erst nach dem Kalten Krieg, als vermehrt Konflikte zwischen Gruppen statt zwischen Staaten auftauchten, kam in Teilen der Konfliktforschung ein Bewusstsein dafür auf, dass Gruppenemotionen eine interessante Analyseeinheit wären.
Sie untersuchen Gruppenemotionen. Wie unterscheiden sich diese von individuellen Emotionen?
Oliver Fink:
Gruppenemotionen haben Menschen aufgrund ihrer sozialen Identität – zum Beispiel als Frau oder als Palästinenser. Dieses Phänomen erklärt, warum ich mich als Deutscher freue, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft Weltmeister wird, obwohl ich direkt damit nichts zu tun habe. Übertragen auf Konflikte: Darum berührt mich Leid, auch wenn es 200 Kilometer nördlich passiert und mich persönlich nicht betrifft.
Welche Rolle spielen Machthaber:innen: Nutzen sie Gruppenemotionen politisch aus?
Oliver Fink:
Politiker sind grundsätzlich clevere Leute, die diese Emotionen definitiv nutzen, um Wählerstimmen zu mobilisieren. Als Extrembeispiel, schauen Sie sich etwa die Biografien der Hamas-Brigadekommandanten an. Der eine verlor seinen Vater durch eine israelische Bombe als 12-Jähriger. Beim anderen starb der Bruder im Krieg. Und dann kommt die Hamas und sagt: »Hey, willst du ein Mann sein und dich rächen an den feigen Feinden? Hier hast du eine Kalaschnikow.« Das sind aber anekdotische Beispiele, ich habe keine vertieften Forschungsergebnisse zu diesen Fragen.
Sie forschen insbesondere zum Nahostkonflikt. Welche Gruppengefühle haben dort die Fronten verhärtet?
Oliver Fink:
Der Nahostkonflikt hat vor allem negativ konnotierte Emotionen ausgelöst. Die wichtigsten sind Wut, Hass, Erniedrigung und Angst.
Warum ist es wichtig, Gefühle einzeln zu betrachten?
Oliver Fink:
Weil aufgrund bestimmter Emotionen spezifische Konflikthandlungen folgen. Also Wut löst andere Handlungstendenzen aus als Stolz oder Angst.
Wozu führt Erniedrigung?
Oliver Fink:
Erniedrigung, besonders wenn sie auf öffentlicher Bühne passiert, kann extrem destruktiv wirken. Denn sie fördert nicht nur Gewalt, sondern unterdrückt sogar friedliches Verhalten.
Haben Sie ein konkretes Beispiel dazu?
Oliver Fink:
Das Verhalten israelischer Siedler, die Checkpoints und Israels Macht, zu entscheiden, wer überhaupt aus Palästina raus darf und wer nicht – das alles löst ein Gefühl der Erniedrigung und Ohnmacht bei den Palästinensern aus. Nach dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober, herrschte das Narrativ, dass man den Israelis, die von palästinensischer Seite als allmächtig wahrgenommen werden, endlich mal eins ausgewischt hat. Das Ziel war ganz klar, diese öffentliche Erniedrigung zurückzugeben.
Und das hat eine Wirkung gehabt, zum Beispiel sagte Yoav Galant [israelischer Verteidigungsminister, Anmerkung der Redaktion] kürzlich gegenüber dem Spiegel:
Auch Generalstabschef Herzi Halevi drohte:
Daraus schwingen Angst und der Wunsch, die eigene Allmächtigkeit wiederherzustellen. In dem Zusammenhang sind die gezielten Attentate auf den Hisbollah-Kommandanten Fuad Shukr und den Hamas-Anführer Ismail Haniyeh zu sehen.
Was ist mit Hass?
Oliver Fink:
Auch Hass gehört zu den destruktivsten Gefühlen. Weil Hass oft den Wunsch nach genau solcher Erniedrigung nährt. Hass will Rache. Egal zu welchem Preis. Hass ist im Vergleich zu anderen Gefühlen auch relativ stabil und langanhaltend. Andere Gefühle schwanken je nach Situation stärker. Hass hingegen impliziert, der andere könne sich nicht ändern, sondern sei seinem Wesen nach böse und müsse daher vernichtet werden. Jede Situation wird aus diesem Hass heraus interpretiert.
Und Wut?
Oliver Fink:
Bei Wut kommt der Wunsch auf, eine Verletzung oder Ungerechtigkeit, die mir angetan wurde, zu korrigieren. Im Vergleich zu Hass ist sie eine relativ konstruktive Emotion, da Wut auch friedliches kollektives Handeln nach sich ziehen kann.
Zum Beispiel die weltweiten Proteste gegen Rassismus im Jahr 2020.
Oliver Fink:
Genau.
Was entscheidet darüber, ob Menschen ihre Wut nutzen, um friedvoll Veränderung herbeizuführen, oder ob sie auf Gewalt setzen?
Oliver Fink:
Da gibt es mehrere Aspekte. Ein wichtiger Aspekt sind die Erfahrungen, die ich vorher gemacht habe:
Wenn ich mir einen Effekt davon erwarte, dann tendiere ich eher zu dieser Entscheidung. Ein anderer ist meine Identität – sehe ich mich prinzipiell als von friedlichen Werten geleitet? Unsere besten Freunde aus Israel etwa haben ihren ältesten Sohn am 7. Oktober verloren. Die waren vorher schon Friedensaktivisten und sind es jetzt noch mehr. Trotz dieser Leiderfahrung. Aber das ist nicht unbedingt die Regel.
Oliver Fink:
Das ist in weiten Teilen noch unklar. Wenn wir das genauer beantworten könnten, wären wir in der Friedenspsychologie deutlich weiter. Der Harvard-Psychiater Robert Coles hat einmal geschrieben: »Wir haben Kategorien für alles auf dieser Welt, aber wer kann auch nur einen einzelnen Menschen ganz erklären?«
Kann man den Teufelskreis der negativen Emotionen durchbrechen?
Oliver Fink:
Als ich angefangen habe, zu forschen, war ich noch der Überzeugung: Wenn wir Emotionsdynamiken verstehen, dann können wir die negativen Gefühle auch wieder abschwächen oder sogar ganz »neutralisieren«. Das ist jedoch extrem aufwendig und funktioniert in der Praxis nur bedingt. Denn in der Regel ist bei den Akteuren kaum Wille zur Emotionsregulierung da. Sie erachten ihre Gefühle als absolut gerechtfertigt und denken, das Problem liege allein im Verhalten des anderen.
Was ist die Alternative?
Oliver Fink:
Indem man sich zum Beispiel Emotionen anschaut, die moralisches Handeln auslösen, wie Wertschätzung, Empathie und Fürsorge. In einer Konfliktgesellschaft verschieben sich diese hin zu Gruppenloyalität und -autorität. Die Frage ist nun: Wie können wir dafür sorgen, dass diese Verschiebung nicht passiert? Welche Menschen sind resistent gegen solche Veränderungen und was können wir daraus ableiten?
Und?
Oliver Fink:
Unsere Forschung unterstreicht die Bedeutung der wertschätzenden Begegnung mit dem anderen auf Augenhöhe sehr klar.
Solche Erfahrungen können Erniedrigung nicht wettmachen. Aber sie können Gegenimpulse setzen. Sie können Empathie erwecken, eine Perspektive für das Leid und die Erfahrungen des anderen geben. Wir müssen versuchen, die Situation so zu gestalten, dass der andere nicht als typisches Gruppenmitglied, sondern als individueller Mensch wahrgenommen werden kann, mit seiner einzigartigen Geschichte und seinen Erfahrungen.
Wie könnte so eine Begegnung, zum Beispiel zwischen Israelis und Palästinenser:innen, aussehen?
Oliver Fink:
Am Kelman Institute führen wir solche Dialoge in unterschiedlichen Kontexten durch. Da diese Gespräche vertraulich sind, kann ich nicht genauer erklären, wie solche Begegnungen organisiert werden, zwischen wem genau und wie sie ablaufen. Aber manchmal treffen sich Leute, von denen man das nie im Leben erwarten würde.
Warum sind diese langen, von Gefühlen getriebenen Konflikte so schwer lösbar?
Oliver Fink:
Stellen wir uns vor, wir hätten nach langen diplomatischen Gesprächen das perfekte Verhandlungsergebnis, das bestmögliche, das man für beide Parteien rausholen kann. Aber beide Seiten misstrauen der anderen und denken, sie seien betrogen worden. Dann wird selbst das ideale Verhandlungsergebnis nicht lange anhalten.
Ich muss unwillkürlich an den Krieg Russlands gegen die Ukraine denken, der nun auch schon seit 10 Jahren anhält. Ab wann wird ein Konflikt zu einem schwer lösbaren, bei dem es nur noch um Hass und Vergeltung geht?
Oliver Fink:
Per Definition dauern diese sogenannten »unlösbaren Konflikte« eine Generation lang, also mindestens 30 Jahre. Aber eine genaue Grenze gibt es nicht. In unserer Arbeit im Russland-Ukraine-Konflikt sehen wir bereits jetzt nach deutlich kürzerer Zeit starke Auswirkungen von Emotionen, teilweise basierend auf traumatischen Kriegserfahrungen, teilweise basierend auf der Erfahrung, dass sich die Situation trotz Gesprächen in den letzten 10 Jahren nur verschlimmert hat. So kommt es zum Beispiel zur Weigerung, sich auf Verhandlungen oder auch nur Begegnungen mit dem Aggressor und Feind überhaupt einzulassen.
Gibt es etwas, was man im Fall des Russland-Ukraine-Kriegs noch tun könnte, bevor sich Gefühle und Fronten so verhärten, dass er kaum lösbar wird?
Oliver Fink:
Was schon mal etwas bringen kann, wenn direkter Dialog zwischen den Konfliktparteien nicht mehr möglich ist: Dass man Dialoge innerhalb der Gruppe fördert. Denn auch da gibt es ja unterschiedliche Meinungen, manche sind eher nationalistisch, andere inklusiver. Und da kann ein Austausch helfen, um unterschiedliche Perspektiven innerhalb der eigenen Gruppe besser herauszuarbeiten und die vereinfachende »Wir gegen die anderen«-Dynamik zu durchbrechen.