»Man kann die meisten nicht einfach in gute Menschen verwandeln«
Warum scheitert Politik so oft? Der britische Politikwissenschaftler Ben Ansell meint: Weil Menschen egoistisch sind. Doch es gibt Lösungen.
3. Oktober 2024
– 11 Minuten
Fran Monks
Der britische Politikwissenschaftler Ben Ansell verfolgt die Wendepunkte, die in vielen westlichen Demokratien gerade eintreten. Er sieht, wie Populismus wächst, rechtsextreme Parteien erstarken und immer mehr Menschen Verschwörungsmythen glauben, statt offiziellen Stellen oder
Seine Beobachtungen beunruhigen ihn. Der Professor für Regierungslehre an der Universität Oxford hat sich deshalb die Frage gestellt: Warum scheitert Politik gerade so maßlos? Was stimmt mit unserer Demokratie nicht?
Die Antworten, die er dahinter vermutet, hat er in seinem Buch zusammengefasst.
Es basiert auf einer Annahme, die nur schwer zu verdauen ist: Er macht in den meisten Fällen das, was für ihn selbst am besten ist. Dieses Verhalten wird zum Problem, wenn wir als Gesellschaft gemeinsame Ziele erreichen wollen. Und sorgt dafür, dass Regierungen fast nicht anders können, als zu enttäuschen.
Nicht alle teilen dieses Menschenbild. Doch Ansell ist überzeugt: Wenn wir unser Zusammenleben effizienter gestalten wollen, müssen wir dieser Tatsache ins Auge blicken. Und entsprechende Strukturen schaffen, durch die Politik wieder bessere Ergebnisse produzieren kann.
Im Interview erklärt der Politikwissenschaftler, warum Anti-Establishment-Rufe keine Lösung sind und was wir stattdessen brauchen, um Demokratien wieder beliebter zu machen.
Julia Tappeiner:
Der Titel Ihres Buchs lautet »Warum Politik so oft versagt«. Inwiefern versagt sie?
Ben Ansell:
Der Titel bezieht sich auf das Gefühl vieler Menschen, dass die Politik sie immer wieder im Stich lässt. Die Leute sind frustriert, und das aus gutem Grund. Aber es gibt noch einen zweiten Teil im Titel [»Und wie das besser wird, wenn wir unseren Egoismus überwinden«, Anmerkung der Redaktion]. Dahinter steckt, dass wir ohne Politik auch nicht auskommen. Mein Buch soll also ein Argument gegen einige Formen von Populismus sein, die behaupten, dass alles in Ordnung kommt, wenn man nur die bestehende Elite aus dem Weg räumt. Das Grundproblem wird dadurch nicht gelöst.
Was ist das Grundproblem?
Ben Ansell:
Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was jeder von uns für sich selbst will, und den kollektiven Zielen. Wenn wir kollektive Entscheidungen treffen, und diese Aufgabe hat die Politik, können wir nicht so tun, als gäbe es keine Eigeninteressen. Denn dann betrügen wir uns nur selbst. Wir werden uns niemals über Dinge einigen.
Individuelle Interessen stehen also den gemeinsamen Zielen im Weg. Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Ben Ansell:
Nehmen wir den Klimawandel: Jeder von uns würde gerne eine große Menge an Energie verbrauchen, um die Dinge zu tun, die wir gerne tun – ob das nun das günstige Fliegen nach Paris oder der Verzehr nicht saisonaler Waren ist, die aus dem Ausland importiert wurden. Nur sehr wenige von uns können sich wirklich auf eine Art vormodernen Lebensstil festlegen, bei dem nicht viel Energie verbraucht wird. Aber diese Freiheiten haben zusammen natürlich dazu geführt, dass genug Kohlenstoff emittiert wurde, um die Temperatur in der Atmosphäre zu erhöhen. Und das ist ein wirklich schwer zu lösendes Problem.
Ihre Annahmen beruhen auf der »Neuen Politischen Ökonomie«. Diese Theorie geht davon aus, dass jede Person im Grunde eigennützig handelt und das zu Problemen im Miteinander führt.
Ben Ansell:
Das fühlt sich an wie eine ziemlich nackte und rohe Art, die Welt zu betrachten. Und ich weiß, dass sich die Leute damit oft unwohl fühlen. Aber ja: Das meiste Verhalten lässt sich dadurch erklären, dass Menschen ihre Eigeninteressen bis zu einem gewissen Grad verfolgen. Das ist an sich nichts Schlechtes, kann aber in kollektiven Situationen zu etwas sehr Schlechtem führen.
Kein sehr konstruktives Menschenbild.
Ben Ansell:
Ich denke schon, dass Menschen komplexer sind: Wir haben alle Träume. Wir alle haben Ambitionen und Ideale. Aber ein Teil von uns, ein wichtiger Teil von uns, vergisst manchmal diese umfassenderen Ziele oder merkt manchmal nicht, dass das, was wir tun, tatsächlich im Widerspruch zu diesen Idealen steht.
Was ist mit Oder Menschen, die aus moralischen Gründen auf Tierprodukte verzichten?
Ben Ansell:
Nun, zuallererst sind die Leute schrecklich, weil sie meine Theorie ruinieren. Aber Spaß beiseite. Ich habe 2 Antworten auf diese Frage. Die erste: Solche Menschen haben sich selbst davon überzeugt, dass dieses Verhalten das richtige ist. Und alles, was sie tun, tun sie, damit sie sich gut fühlen. Und das ist dann wiederum individuelles Eigeninteresse.
Die zweite Antwort: Diese Leute gibt es und sie sind großartig und wundervoll. Aber sie sind nicht die Mehrheit. Wenn wir also die Probleme erklären wollen, die in unserer Gesellschaft auftreten, sollten wir uns nicht auf die Menschen konzentrieren, die ungewöhnlich sind, sondern auf das, was die meisten Menschen tun. Denn daher kommen die Probleme.
Sie schreiben in Ihrem Buch: »Wir können von anderen nicht verlangen, ihre Eigeninteressen zu ignorieren und das Richtige zu tun, also können wir es auch von uns selbst nicht verlangen. So entstehen Tragödien.«
Ben Ansell:
Damit will ich sagen: Man kann die meisten Menschen nicht einfach in sogenannte gute Menschen verwandeln. Das wäre ein ungewöhnliches Verhalten, zu dem man Menschen nicht überreden kann. Man muss sie dazu zwingen und ihnen Anreize bieten.
Ein Aufruf zu mehr Autoritarismus?
Ben Ansell:
Nein. Auch wenn die Unterstützung für eine starke politische Führungskraft auf der ganzen Welt zunimmt. Doch ich glaube, dass trotzdem sehr wenige Menschen, die es gewohnt sind, ein Gespräch wie Sie und ich zu führen, ohne dafür ins Gefängnis gehen zu müssen, bereit wären, darauf zu verzichten.
Aber Demokratie ist langsam, erfordert viele Kompromisse …
Ben Ansell:
Menschen sind zwar mit den Ergebnissen, die Demokratien erzielen, unzufrieden. Aber man sollte Demokratien nicht nur nach ihren Ergebnissen beurteilen, sondern nach tieferen Kriterien, wie der Fähigkeit, frei zu sprechen oder ihre politischen Führungskräfte wechseln zu können.
Aber die Ergebnisse sind im Durchschnitt besser als in autoritären Ländern: die meisten wohlhabenden Länder der Welt, außer denen, die eine riesige Menge an Öl haben, sind heute Demokratien. Und das ist kein Zufall.
Haben wir unrealistische Erwartungen an die Politik?
Ben Ansell:
Ich nehme den Leuten ihren Frust nicht übel. Es waren schreckliche 20 Jahre für viele Menschen, die teilweise von der Politik produziert wurden oder zumindest durch schlechtes Management entstanden sind. Die Terroranschläge am 11. September und der Irakkrieg führten dazu, dass man der Außenpolitik weniger vertraute. Im Jahr 2008 schlitterten wir in eine große Rezession. Hinzu kam die Wahrnehmung, dass nur Reiche gerettet wurden, was teilweise auch stimmt. Dadurch verloren viele Menschen ihr Vertrauen in wirtschaftliche Institutionen. Dies gipfelte in einem Ausbruch von Populismus. Gleich darauf kam Covid, wo zuerst alle die Regeln befolgten, es dann aber danach irgendwie bereuten, die Regeln befolgt zu haben, und noch mehr Vertrauen in die Regierung verloren.
Aber letztlich gibt es keinen Ausweg aus der Politik. Es gibt keine Möglichkeit, die Tatsache zu vermeiden, dass einige Menschen Entscheidungen über andere Menschen treffen müssen. Wir können nicht alle losgehen und wie Robinson Crusoe allein auf einer Insel leben.
Wie gestalten wir Politik effizienter?
Ben Ansell:
Wir brauchen Regeln und Verfahren, die uns manchmal einschränken, damit Demokratien funktionieren. geben den Menschen eine Reihe klarer Erwartungen darüber, wie die Politik in 5 oder 10 Jahren aussehen wird, was sie darf und was nicht. Und das macht es leichter, Lösungen zu finden. Das Problem aber ist: wie weit diese Grenzen gehen sollten, darüber debattieren wir in liberalen Demokratien ständig. Und das kann zu Stillstand führen oder dazu, dass eine kleine Elite die Entscheidungen trifft.
Die Menschen wenden sich aber gerade eher ab von Institutionen, das Vertrauen in die Politik sinkt. Auch internationale Abkommen werden aufgelöst …
Ben Ansell:
Deshalb habe ich das Buch geschrieben. Ich denke nicht, dass alle existierenden Institutionen sinnvoll sind. Gleichzeitig sollten wir sie nicht einfach loswerden, ohne darüber nachzudenken, was sie ersetzt. Denn in einer Welt ohne Institutionen kann ein Teil des Chaos und der Polarisierung, der unter der demokratischen Entscheidungsfindung lauert, einfach zum Vorschein kommen. Und ich denke, das sehen wir gerade.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass soziale Normen den Aufbau von Institutionen unterstützen können. Was meinen Sie damit?
Ben Ansell:
Damit meine ich Muster, wie wir miteinander sprechen, wie wir uns verhalten. In den letzten 10 Jahren wurden unsere Normen darüber, wie wir über Demokratie und Politiker sprechen, geschwächt. Und das hat die Institutionen zersetzt. Es ist also eine 2-stufige Wirkung.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ben Ansell:
Die Normen darüber, wie wir zum Beispiel über Einwanderung sprechen, haben sich im Vereinigten Königreich und anderswo geändert. Aber auch die gewalttätige Sprache ist neu. Ich denke an Zeitschriften, die Richter als Volksfeinde beschreiben, oder an Boris Johnson, der im Parlament zu einem Kollegen, der Morddrohungen erhält, sagt, das sei nur ein Haufen Geschwätz.
Warum werden unsere sozialen Normen gerade so stark abgebaut?
Ben Ansell:
Weil einige Leute beschlossen haben, sie zu brechen, und es keine Konsequenzen für sie gab. Donald Trump hat Dinge behauptet, die nicht stimmen, gesagt, dass Einwanderer Hunde und Katzen essen. Niemand kann ihn aufhalten, also macht er einfach weiter. Das ist das Problem mit Normen, sie können nicht von der Polizei oder von Gerichten durchgesetzt werden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie 5 große politische Herausforderungen unserer Zeit: Demokratie. Gleichheit. Solidarität. Sicherheit. Wohlstand. Wir alle wollen diese Ziele erreichen, doch sie umzusetzen, ist ein Dilemma. Können Sie das Dilemma am Beispiel der Gleichheit erklären?
Ben Ansell:
In der heutigen Welt sind wir vor dem Gesetz alle gleich. Unsere Debatten drehen sich nun also darum, ob Gleichheit vor dem Gesetz reicht oder ob wir auch gleiche Lebensumstände haben wollen. Das Problem ist, dass man nicht beide Formen von Gleichheit haben kann. Denn um völlig egalitäre wirtschaftliche Ergebnisse zu erzielen, müssten wir einige Menschen daran hindern, Dinge zu tun, die sie tun wollen. Wenn wir den Menschen also vollständige Gleichheit geben, so kann das zu einem ziemlich hohen Maß an Ungleichheit führen. Im Extremfall hat man eine Art totalitäre Form des Kommunismus.
Es gibt aber Kompromisse an der Grenze zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und gleichen Ergebnissen, die wir im Westen ernst nehmen müssen.
Könnte eine Vermögensteuer ein Kompromiss sein?
Ben Ansell:
Dieses Dilemma ist beim Vermögen besonders stark, da wenn sie das Geld sparen oder in bestimmte Dinge investieren. Das heißt, sie können zum Beispiel ihr Geld einfach in politische Kampagnen stecken, um Steuern zu vermeiden – und damit auch noch politisch gegen die Einführung einer Vermögensteuer vorgehen. Damit eine Vermögensteuer also sinnvoll ist, müssten wir gleichzeitig das Verhalten dieser Menschen einschränken. Aber wenn wir das tun, haben wir gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstoßen.
Was schlagen Sie dann vor?
Ben Ansell:
Wenn es darum geht, gleichere Lebensumstände zu erzielen, ist für mich Universalismus eine gute Lösung. Damit meine ich, dass der Wohlfahrtsstaat, also öffentliche Dienstleistungen für alle zugänglich sind – auch für Menschen, die reich sind. Ein Fehler, den wir im Vereinigten Königreich und in den USA gemacht haben, ist die Bedürftigkeitsprüfung, um diese Dinge im Grunde nur ärmeren Menschen zu geben. Das erscheint zwar progressiv und fair. Aber das Problem dabei ist, dass wohlhabendere Leute dann weniger dafür sind, Steuern für diese Leistungen zu zahlen, wenn sie nur anderen Menschen zustehen. Auch wenn Menschen mit hohem Einkommen immer Nettoverlierer der öffentlichen Ausgaben sein werden – wenn sie einen Teil der Sozialleistungen erhalten, werden sie sich weniger beschweren. Das heißt, ihre Normen in Bezug auf Steuerzahlungen werden sich ändern. Das ist das Paradoxon der Umverteilung.
Wir haben jetzt vor allem über Institutionen und soziale Normen gesprochen, also Dinge, die auf der systemischen Ebene liegen. Welche Rolle spielen einzelne Menschen? Können Sie und ich etwas besser machen?
Ben Ansell:
Was wir tun können, ist, uns selbst im Spiegel zu betrachten und anzuerkennen, dass einige der Probleme in der Politik vielleicht nicht nur an anderen Menschen liegen, sondern auch an uns selbst. Dass es nicht so ist, dass es da draußen einen Haufen schrecklicher Menschen gibt, und deshalb versagt die Politik. Es gibt nicht die Guten auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite. Wir sollten alles tun, um der Versuchung dieser Polarisierung zu widerstehen und Menschen, die andere Parteien wählen, nicht abzustempeln.
Haben Sie Hoffnung, dass die Politik in den westlichen Demokratien besser werden kann?
Ben Ansell:
Ja, das habe ich. Sie kennen sicher die 4 apokalyptischen Reiter: Die Pest, den Hunger, den Krieg und die Tyrannei. Bedenken wir, dass auf der ganzen Welt viel weniger Menschen an Hungersnöten sterben, weitaus weniger an Krankheiten und dass es auch viel weniger Todesopfer in zwischenstaatlichen Konflikten gibt – ich denke, da kann man sagen, dass es die Menschheit meistens ganz gut geschafft hat, die apokalyptischen Reiter zu besiegen.
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.