In Trümmern: 3 Perspektiven für den Wiederaufbau der Ukraine
Mitten im Krieg wächst die Vision einer neuen Ukraine. Inspiration kommt aus Städten, die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls in Ruinen lagen.
Auf der Küstenpromenade in Mariupol, einer Hafenstadt im Südosten der Ukraine, ist viel los: Menschen schlendern zum Strand, trinken
So könnte das neue Mariupol aussehen, wenn es nach den Vorstellungen von Fulco Treffers, dem Mitgründer
Heute ist die Stadt von Russland besetzt.
Auch andere Städte befassten sich früh mit ihrem Wiederaufbau
Die Zerstörung in Rotterdam und Warschau
Nachkriegswarschau war durch Besatzung, Bombardierungen und 2 Aufstände – den Ghettoaufstand 1943 und den Warschauer Aufstand 1944 – stark zerstört. 84% des linken Weichselufers und 90% der historischen Gebäude lagen in Trümmern, die Bevölkerung sank von 1,3 Millionen auf 162.000. In Rotterdam warf die deutsche Luftwaffe am 14. Mai 1940 in nur 15 Minuten 97 Tonnen Bomben ab, zerstörte das mittelalterliche Zentrum, machte 80.000 Menschen obdachlos und tötete 850 Einwohner:innen.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt:
Heute gelten Rotterdam und Warschau als Ikonen des Wiederaufbaus, und ihre Expert:innen sind bestrebt, der Ukraine zu helfen. So wie das »Rozkvit«-Team, das vom Niederländer Fulco Treffers gegründet wurde und aus niederländischen, polnischen und ukrainischen Kolleg:innen besteht.
Wir haben einige von ihnen getroffen und gefragt: Was können die Ukrainer:innen aus den Erfahrungen Rotterdams und Warschaus lernen?
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»Allein können wir das nicht schaffen«
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»Die Zerstörung in der Ukraine ist so gewaltig, dass wir das allein nicht schaffen können – weder personell noch finanziell«, sagt Oleksandra Tkachenko. Die Stadtplanerin aus Kyiv lebt seit 9 Jahren in Rotterdam und gründete dort 2022 das
Der Wiederaufbau ist unterfinanziert
Der geschätzte Wiederaufbau- und Sanierungsbedarf der Ukraine beläuft sich, Stand 2023, auf rund 453 Milliarden Euro. Bisher hat sich die internationale Unterstützung aber in erster Linie auf militärische Hilfe konzentriert. Die EU, die bis dato der größte Geber von Wiederaufbaumitteln ist, gibt schätzungsweise 9-mal weniger als das, was die Ukraine eigentlich benötigt. Die Zahlen findest du hier.
Für Tkachenko ist dabei entscheidend, dass die Ukrainer:innen die Kontrolle behalten. »Zu oft kommen internationale Experten mit guten Absichten in den Globalen Süden oder Osten, ohne die lokale Kultur zu verstehen, und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen.«
Trotzdem ist sie überzeugt, dass die Niederländer:innen – wie die Pol:innen in Warschau – wertvolle Erfahrungen einbringen können.
3 dieser Lehren stellen wir nun vor.
1. Baut keine Papierstädte, in denen niemand wohnen will
Wer Rotterdam besucht, den erwarten nicht die schmalen Gassen und Grachten, die man aus Amsterdam oder Utrecht kennt. Stattdessen trifft man auf moderne Architektur, Hochhäuser aus Glas und Stahl, viel Autoverkehr.
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Es ist das Ergebnis der Entscheidungen, die
Statt die Stadt wieder so aufzubauen, wie sie vor dem Krieg aussah,
Sie wollten eine Stadt, die Rotterdams Bedeutung als Welthafen widerspiegelt. Doch Rotterdam ist keine Weltstadt, war es nie und wird es nie. Es ist eine Provinzstadt mit einem großen Hafen.
Coup beim Rotterdamer Wiederaufbau
4 Tage nach der Bombardierung beauftragte der Stadtrat den Architekten Willem Gerrit Witteveen mit dem Wiederaufbau. Sein Plan, die Vorkriegssituation zu rekonstruieren, war dem »Club Rotterdam« jedoch zu traditionell. Nach Kritik meldete sich Witteveen krank, und Cornelis Van Traa übernahm. Sein Plan setzte auf breite Straßen und die Trennung von Wohn-, Arbeits- und Erholungsbereichen. Das Zentrum wurde für das Arbeiten, das Einkaufen und die Unterhaltung reserviert, während der Wohnungsbau in Stadtrandgebiete und Vororte verlagert wurde.
Das Problem: Ob die Bürger:innen Rotterdams das auch wollten, fragten die Entscheidungsträger nicht.
Dass das ein Fehler war, zeigte sich in den 1960er- und 1970er-Jahren, als Menschen auf die Straße gingen, weil sie sich in Rotterdam nicht mehr wohlfühlten. Ihre Stadt war öde, das Zentrum nach Ladenschluss menschenleer, es fehlte an schönen alten Gebäuden, intimen Straßen, Grünanlagen und Erholungsmöglichkeiten.
Laut Paul van de Laar, Professor für Geschichte an der Erasmus University Rotterdam, kann die Ukraine aus Rotterdams Erfahrung lernen:
Fragt nicht die großen Architekten. Die fangen an, zu zeichnen und spektakuläre Power-Points zu erstellen. Fragt zuerst die Menschen vor Ort: Was wollt ihr? Sonst endet man mit Papierstädten, in denen niemand wohnen will.
2. So wertvoll sind die Trümmer
Eine zweite Lehre betrifft das Thema Recycling. Mitte des 20. Jahrhunderts war Wiederverwertung noch keine Priorität unter Architekt:innen und Stadtplaner:innen – Warschau machte es trotzdem.
Über 22 Millionen Kubikmeter Trümmer bedeckten im Jahr 1945 die Straßen der Stadt – genug, um ein Hochhaus damit zu errichten, das
Als die Menschen in die Stadt zurückkehrten, war ihr erster Instinkt, in den Trümmern nach Baumaterialien für den Wiederaufbau zu suchen.
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Einige Trümmer konnten sofort wiederverwandt werden, darunter Ziegel und Putz, während andere Materialien zerkleinert, sortiert und gemischt werden mussten, um Beton für neue Bauten zu erzeugen. Trümmer, die nicht verarbeitet werden konnten, fanden Verwendung in der Landschaftsgestaltung, bei Befestigungen und zur Regulierung des Flussverlaufs. Ganze Stadtteile erhielten so ihr Fundament.
Trümmer als Symbol der Zerstörung
2004 erhielt eine der größten Trümmerhalden aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs Denkmalschutz und den Namen »Warschauer Aufstandshügel«. Sie besteht aus Böden-, Säulen- und Fassadenfragmenten – all dem, was Warschaus Gebäude nicht mehr aufnehmen konnten. »Heute ist der Hügel auch etwas ganz anderes geworden: ein Refugium für Vegetation, die seit dem Krieg aus den Trümmern gewachsen ist – sogenannte Ruderalpflanzen, vom lateinischen rudus, was Trümmer bedeutet. Es ist schwer, die Symbolik des Sterbens und des Wiederaufblühens aus den Trümmern zu übersehen«, sagt Architekturhistoriker Adam Przywara.
Heute sehen Architekt:innen ein ähnliches Potenzial für Recycling in der Ukraine.
3. Überlasst es nicht Russland, eure Geschichte neu zu schreiben
Bei jedem Wiederaufbau stellt sich die Frage: Rekonstruieren wir die Stadt, wie sie vorher war?
In Rotterdam entschied man sich dagegen. Zu groß war der Traum von einer neuen, modernen Stadt, in der alles Alte verschwunden war.
Die Leute waren froh, dass ihr Haus die Bombardierung überstanden hatte, doch dann erhielten sie einen Brief von der Stadtverwaltung, in dem stand, dass ihr Haus abgerissen werden sollte.
Das Problem: Bei all der
»Eine Stadt ohne Erinnerungen ist wie ein Hotel, in das man kommt und wieder geht«, sagt Tkachenko. Laut ihr steckt darin eine wichtige Lehre für die Ukraine:
Wir müssen bewusst mit dem kollektiven Gedächtnis umgehen. Beschädigte Häuser sollten wir nicht abreißen, sondern sie restaurieren oder als Ruinen erhalten. Das ist in der Ukraine besonders wichtig, da Russland seit Jahren versucht, unsere Geschichte umzuschreiben.
Ein Blick nach Warschau zeigt, wie es besser geht. Wer hier die Altstadt besucht, vergisst schnell, dass sie einmal zerstört worden ist.
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Rekonstruiert: die Warschauer Altstadt
1945 fanden die Rückkehrer:innen Warschau in Trümmern vor, insbesondere die Altstadt, das Herz der Hauptstadt. Sie begannen, die Stadt nach historischen Vorbildern wiederaufzubauen. Die kommunistische Regierung unterstützte dies, um soziale Legitimation zu gewinnen. 1971 wurde auch die Rekonstruktion des Königsschlosses beschlossen, finanziert durch öffentliche Spenden. Dieses Vorhaben symbolisierte die Entschlossenheit der Warschauer:innen, ihrer Stadt ihren einstigen Glanz zurückzugeben.
Der Weg des Wiederaufbaus in der Ukraine hat bereits begonnen
Das Team von »Rozkvit« berücksichtigt die Erfahrungen Rotterdams und Warschaus bereits in seinen Plänen für Mariupol.
Auch die Erinnerungspolitik spielt eine Schlüsselrolle: »Rozkvit« schlägt ein Museums- und Gedenkzentrum am ehemaligen Azovstal-Werk vor, das sich der Erinnerungsforschung widmen soll. Zusätzlich sollen Gemeinschaftszentren entstehen,
Wie geht man mit einem Ort um, der so viel negative Energie in sich trägt? Es braucht eine Verbindung zu dem, was man kannte. Angenehme Erinnerungen sind entscheidend, um den nächsten Schritt nach vorne zu machen. Deshalb haben wir in unserem Plan für Mariupol entschieden, so viel wie möglich zu bewahren.
Bis die Vision von »Rozkvit« wahr wird, die vertriebenen Ukrainer:innen in ihre Stadt zurückkehren und auf der Strandpromenade spazieren können, ist es noch ein langer Weg. Und doch hat er bereits begonnen.
Titelbild: Collage | Pexels | Stadsarchief Rotterdam | Warschau NAC - copyright