Die Kommunen sind überlastet. Aber das liegt nicht an den Geflüchteten
Wenn wir ihre Probleme lösen wollen, müssen wir endlich über die wahren Gründe sprechen.
Ein typisches Motiv von Migrationsdebatten der vergangenen Jahre: Die Kommunen seien wegen der Geflüchteten überlastet. Dieses Narrativ ist so gängig, dass es allseits als Wahrheit akzeptiert ist. Eines ist zweifelsfrei sicher: Die Kommunen sind überlastet. Wegen der Geflüchteten? Man muss in der Berichterstattung gezielt suchen, um solche Berichte oder Stimmen zu finden, die nicht das herrschende Narrativ wiedergeben.
In der Bayern-2-Sendung

Durch flüchtige Umfragen, durch die öffentliche Debatte und durch das allgegenwärtige »Wir«-gegen-»sie«-Narrativ erscheint oft der Eindruck, dass »die« Deutschen (die durchaus divers sind) allesamt oder gar nur in der Mehrheit den rassistischen Narrativen folgen würden. Dabei spielt es durchaus eine Rolle,
Die Moderatorin fragt Bürgermeister Reischl, was momentan die größten Probleme in den Kommunen seien: Die Unterbringung, die Schulen, die Sprachkurse, die Integration, was ist es?
Die gesetzlichen Vorschriften sind unser größtes Problem. Dass wir Geflüchtete, die in unserer Gemeinde ankommen, zum Beispiel nicht sofort in Arbeit bringen dürfen. Wir haben erst jetzt wieder fünf neue Zuweisungen bekommen. Die dürfen keinen Sprachkurs mehr bekommen, weil sie das gesetzliche Mindestalter [er meint vermutlich Höchstalter] überschritten haben. Zusätzlicher Punkt: Die Sprachkurse, die angeboten wurden von der VHS [Volkshochschule], sind schon längst überfüllt und voll.
Ab 22 Jahren, erklärt der Bürgermeister, stünden den Menschen gewisse Sprachkurse nicht mehr zur Verfügung. Das scheint kein Einzelfall zu sein: So berichtet beispielsweise der
Wie wir uns Rassismus beibringen: Eine Analyse deutscher Debatten

Wo Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften aufeinandertreffen, bilden sich fast zwangsläufig rassistische Denkmuster und Strukturen – außer man steuert bewusst dagegen. Gilda Sahebi analysiert die Spezifika des deutschen Rassismus. Sie zeigt, wie wir rassistische und spaltende Narrative stetig weitertragen, uns Rassismus immer wieder beibringen – und damit die Demokratie gefährden.
Bildquelle: Verlag S. FischerDer ehrenamtliche Helfer Kastorff beschreibt ähnlichen Frust vieler Helfer:innen, weil es ihnen nicht gelinge, für die Menschen Termine bei den Ämtern zu erhalten – diese seien wochenlang nicht erreichbar und man stehe vor geschlossenen Türen. Das Problem der überlasteten Ämter ist in Deutschland lange bekannt; schon im Sommer 2022 berichtete der
Im Oktober 2023 bestätigte eine
Im Podcast
Der Staat verschiebt die Verantwortung
Bei anderen Problemen wie dem Mangel an Kitaplätzen ist es dasselbe Muster. Dass Kitaplätze fehlen, ist seit vielen Jahren bekannt. Der Rechtsanspruch hat das Problem nicht gelöst, andere Maßnahmen ebenso wenig. Es bräuchte fundamentale Veränderungen, was die Ausbildung und Bezahlung von Erzieher:innen angeht und zu einer nachhaltigen Verbesserung des Betreuungsschlüssels führt. Im November 2023 veröffentlichte das Investigativ-Netzwerk

Diese Missstände sind das Ergebnis jahrelanger politischer Nachlässigkeit. Wohlklingende Maßnahmen wie das
Dasselbe gilt für das Problem des Wohnraummangels. So standen im Jahr 2018 laut Bund
Im Oktober 2023 gaben die drei Hamburger SPD-Senator:innen Melanie Schlotzhauer, Andy Grote und Ties Rabe dem
»Es ist ein Musterbeispiel für Verantwortungsverlagerung – journalistisch unwidersprochen.«
Zum Zeitpunkt des Interviews regierte die Partei der drei Politiker:innen die Stadt bereits seit zwölf Jahren, vier Jahre davon sogar allein. Es ist ein Musterbeispiel für Verantwortungsverlagerung – journalistisch unwidersprochen. Im Interview wird keine einzige Frage gestellt, warum die Regierenden im vergangenen Jahrzehnt nicht genügend Lehrer:innen qualifiziert und eingestellt haben; warum es mit dem Wohnungsbau nicht vorangeht; wo eigentlich die politische Verantwortlichkeit liegt. Stattdessen macht das Hamburger Abendblatt Vorschläge wie »Man könnte beispielsweise die Transferzahlung von Geld- auf Sachleistungen umstellen« und stellt Fragen wie »Herr Innensenator, wie wirkt sich die Zuwanderung auf die Kriminalitätsstatistik aus?«. Es fallen Sätze, wie sie überall in den Medien zu finden sind – der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen.
Größere Migrationsbewegungen gibt es immer wieder
Diese Verantwortungsverlagerung ist in Teilen bewusst herbeigebracht. Die Überlastung kommunaler Strukturen wird dabei in Kauf genommen – ist vielleicht sogar erwünscht, so wie im Jahr 1992,
Die Migrationsforscherin Sabine Hess erklärte im Herbst 2023 in einer Sendung des Hessischen Rundfunks (hr), man wisse seit Jahren, dass Fluchtbewegungen »angesichts der globalen Krisenherde nicht nachlassen«. Dieser »hysterische Aufschrei«, erklärt die Wissenschaftlerin, »entbehrt aller Fakten«:
Man hätte sich darauf einstellen können. Man hätte letztendlich die Aufnahmekapazitäten, die man ja 2015 schon mal hochgefahren hat, auch nachhaltig bewirtschaften können und sie sofort wieder flottmachen können, wenn die nächsten steigenden Zahlen kommen.

Die Migrationsforscherin erklärt, wie sich politische Entscheidungsträger:innen ihrer Verantwortung entziehen. Bund, Länder und Kommunen müssten sich »endlich um einen Tisch setzen und […] wegkommen von diesem ziemlich fiesen Geschachere auf dem Rücken einer Migrationsbevölkerung hier im Land, die ja zunehmend auch davon betroffen ist, von diesen Krisenszenarien um Belastungsgrenzen und den rassistischen Ressentiments, die damit einherkommen.«
Was also ist diese »Belastungsgrenze«? Wie viele Geflüchtete »verträgt« Deutschland? Als nach dem Zweiten Weltkrieg 12 bis 14 Millionen Geflüchtete in Deutschland aufgenommen werden mussten, betrug die deutsche Bevölkerung etwa 56 Millionen. Im Jahr 2023 lebten in Deutschland etwa 80 Millionen Menschen; die Zahl der anerkannten Geflüchteten lag zum Stichtag am 30. Juni 2023 bei 1,57 Millionen. Dazu kamen noch rund 276.000 Asylbewerber:innen und etwa 170.000 »ausreisepflichtige« Personen, außerdem rund eine Million Geflüchtete aus der Ukraine (die kein Asyl beantragen mussten, sondern direkt eine Aufenthaltserlaubnis bekamen). Die Rede ist also insgesamt von etwa 3 Millionen Menschen.
Auch die wörtliche Rede von der »Belastungsgrenze« ist alt (das Prinzip selbst ist in Deutschland natürlich weitaus älter). So sagte zum Beispiel zu Beginn der 1980er-Jahre der damalige Innenminister Baden-Württembergs und spätere Bundespräsident Roman Herzog, dass »die Frage nach den Belastbarkeitsgrenzen jetzt zunehmend in den Mittelpunkt der Ausländerpolitik« rücken müsse, so steht es in einer Fachzeitschrift der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Und weiter beschreibt das Blatt: »Die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Hessen stellten fest, dass die Aufnahmemöglichkeiten ihrer Länder erschöpft seien.« Im Jahr 1997 stellte der SPD-Politiker Gerhard Schröder fest: »Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.« Im Jahr 1998 sagte der SPD-Bundesinnenminister Otto Schily wortgleich: »Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.« Die »Belastungsgrenze« wurde allem Anschein nach schon vor Jahrzehnten immer wieder aufs Neue erreicht. Im Oktober 2023 wiederholte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in guter Tradition: »Wir brauchen eine Begrenzung der Zugänge, das ist keine Frage.«
Es gibt ein Organisationsproblem, kein »Flüchtlingsproblem«
Wie sich nun genau die »Belastungsgrenze« berechnet, wurde niemals erklärt oder rational begründet. Wie berechnet sie sich genau? Welche Parameter spielen bei der Berechnung eine Rolle? Wie definiert sich »Belastungsgrenze«? Warum wird sie alle paar Jahre aufs Neue erreicht? Wie kann es sein, dass im heutigen Deutschland wegen 3 Millionen Menschen allem Anschein nach alle Systeme zusammenbrechen? Es scheint ein staatliches Organisationsproblem, weniger ein »Flüchtlingsproblem« zu sein.
Eine Empfehlung von Lena Bäunker

Rassismus kommt nicht nur von extremen Randgruppen – er steckt tief in unserer Gesellschaft. Das zeigte sich zuletzt in der Migrationsdebatte vor der Bundestagswahl, die voller rassistischer Narrative war. Gilda Sahebis Buch hält uns einen Spiegel vor und fordert uns auf, rassistische Denkmuster zu erkennen und zu bekämpfen.
Bildquelle: Perspective DailyMedienberichte, die diese Analyse widerspiegeln, sind in der absoluten Minderheit. In einem dieser raren Berichte geht es um die Gemeinde Rottenburg am Neckar in Baden-Württemberg, wo ein CDU-Oberbürgermeister die Situation mit den vielen Geflüchteten im wahrsten Sinne des Wortes managt. Eine Journalistin des
Über die laute Debatte und die Hilferufe aus den Kommunen sagt der Oberbürgermeister im Beitrag: »Da würde ich jetzt ganz provokant sagen,
»Wir müssen endlich das Positive herausstellen«
Der CSU-Bürgermeister von Hebertshausen, Richard Reischl, berichtet in der bereits genannten BR-Sendung ebenfalls von den Erfahrungen in seiner Gemeinde. In einer Zeit, als viele Geflüchtete nach Deutschland kamen und in der Bevölkerung Ängste entstanden, organisierte er Gespräche und Bürgerinformationen, wo Einwohner:innen seiner Gemeinde Fragen stellen und sich informieren konnten. »Das war ein langer Prozess in der Gemeinde Hebertshausen, und ich war mir nicht immer sicher«, erzählt der Bürgermeister in der Sendung. »Und es gab auch Momente, wo es so aussah, als wenn es vielleicht kippen könnte. Aber letztendlich sind wir jetzt so gefestigt auf unserem Weg, und die Bevölkerung zeigt so ein starkes Vertrauen zu uns. Ich will damit nicht ausschließen, dass es weiterhin […] Gegner dieser Vorgehensweise gibt, und es gibt natürlich auch bei uns AfD-Unterstützer. Aber man sollte sich am Ende immer ein bisschen an die Fakten halten. […] Wir haben in der Landtagswahl [im Oktober 2023] … hat die AfD bei uns am schlechtesten von allen Gemeinden abgeschlossen.« Man müsse wieder mehr über »das Gute berichten«, findet der CSU-Politiker.

Der ehrenamtliche Helfer Reinhard Kastorff findet das auch:
Wir müssen endlich das Positive in der erlebten und durchlebten Entwicklung herausstellen. Es werden immer nur negative Dinge erzählt, teilweise bewusst politisch-ideologisch falsch erzählt. […] Wir müssen endlich mit solchen Leuchttürmen wie in Hebertshausen, aber auch landauf, landab in vielen ländlichen Gemeinden vor allen Dingen praktiziert wird, mit solchen positiven Erscheinungen müssen wir […] an die Öffentlichkeit gehen. […] Aber wir reden, und die Politik will es so, immer nur von den Negativa und von den Belastungen, aber nicht von den Chancen.
»Die akute administrative Überforderung, gerade auf kommunaler Ebene, muss aus meiner Sicht auch eine Zeitenwende in der Migrations- und Integrationspolitik zur Folge haben«, forderte Ende September 2023 der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Es war wieder einmal eine jener Phasen, die in regelmäßigen Abständen wiederkehren – Zahlen von Migrant:innen steigen, es gibt Probleme in Kommunen, Ämter sind überlastet. Das Muster ist stets dasselbe, ob in den 1970er-Jahren, in den 1980er-Jahren, in den 1990er-Jahren oder in den 2020er-Jahren. Erste Maßnahme: Zuzug begrenzen. Ein paar weitere Maßnahmen werden getroffen, die aber weder grundlegend noch ausreichend sind, um die strukturellen Probleme zu lösen. Bis ein paar Monate oder Jahre später alles von vorne beginnt.
»Die Einschränkung des Familiennachzugs mag hart erscheinen«, erklärte CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Februar 2016 im Bundestag. »Sie ist aber notwendig, um eine Überlastung der Aufnahmesysteme in unserem Land zu verhindern.« Eine einigermaßen kühne Behauptung des Politikers, die von Fakten nicht getragen wird. Diese Maßnahme – eine von vielen, mit denen das Asylrecht 2016 und in den darauffolgenden Jahren verschärft wurde – zeigt die fehlerhafte Analysefähigkeit oder -willigkeit bei Entscheidungsträger:innen. Zum einen liegt die Überlastung der »Aufnahmesysteme« (also Unterkünfte, Sprachkurse, Kitas, Schulen), wie zuvor dargelegt, an den Strukturmängeln, nicht an den Menschen. Das bedeutet auch, dass eine Zuzugsbegrenzung diese Probleme nicht lösen wird. Zum anderen ist eine solche Maßnahme ein gutes Beispiel dafür, wie in Kauf genommen wird, dass es Menschen schwer gemacht wird, Teil der Gesellschaft zu werden.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily