Warum Objektivität eine Fata Morgana ist
Wenn wir anerkennen, dass objektiver Journalismus nicht möglich ist, sind wir besser informiert. Dafür brauchen wir Journalisten, die sich aus der Deckung wagen.
- objektiv
- neutral
- rational
Oder:
- subjektiv
- voreingenommen
- emotional
Wie sollen Medien berichten? Natürlich genau so, wie in der ersten Liste beschrieben!
Schließlich sollten sich Journalisten nicht von ihrer eigenen Wahrnehmung und irgendeiner Gefühlsduselei ablenken lassen. Emotionen haben in den Nachrichten nichts zu suchen, sie sind bestenfalls ein Zeichen von Schwäche und vernebeln die Sicht. Die Menschen haben ein Recht darauf, objektiv und neutral über den Zustand der Welt informiert zu werden.
Das ist sogar
In den Angeboten des ZDF soll ein objektiver Überblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit vermittelt werden.
Und das weiß auch der ehemalige ARD-Chefredakteur Kai Gniffke, der jeden Abend das letzte Wort über
[D]ie neutrale und objektive Berichterstattung der Tagesschau könnte angesichts politisch unruhiger Zeiten wichtiger sein denn je.
Die Sache ist nur die:
Genau wie bei einer »echten« Fata Morgana erkennen wir sie nur als solche, wenn wir uns auf den Weg zu ihr machen. Bleiben wir stehen, halten wir weiter an unserer Illusion fest.
Nur subjektive Nachrichten haben einen Wert
Zunächst die Frage: Wonach entscheidet eine Redaktion, welche Nachrichten es auf die Titelseiten und in die Tagesschau schaffen? Klar, sie müssen
Warum sollen die Mächtigen in Schach gehalten werden?
Schwieriger wird es bei der Frage, wie wir diese Nachrichten darstellen: Warum werden Wirtschaftswachstum und steigender Export generell als erstrebenswert beschrieben? Obwohl wirtschaftliches Wachstum häufig
Und warum veröffentlichen Journalisten ihre Recherchen aus Panama und den Paradise Papers? Weil sie das Verhalten der involvierten Menschen und Unternehmen für falsch erachten und
Und genau hier kommt die entscheidende Erkenntnis: Diese Ziele sind nur deshalb sinnvoll, weil wir an eine liberale Demokratie glauben.
»Wir haben den Eindruck, nicht objektiv informiert zu werden. Bei Themen wie EU, Brexit oder Trump berichten ARD und ZDF einseitig und parteiisch.« –
Zum Vergleich: In China hat die Wächterfunktion eine ganz andere Bedeutung, der Schutz der Nation steht an oberster Stelle. Egal ob Kai Gniffke,
Das hat nichts mit Gefühlsduselei zu tun, sondern ist der einzige Grund, warum wir zwischen »richtig« und »falsch« unterscheiden können, und damit auch der einzige Grund,
»Eine Grundbedingung für eine demokratische Gesellschaft ist objektive Berichterstattung.« –
So gesehen bekommen die Vorwürfe von AfD, Trump und anderen, die Presse sei einseitig und verlogen, eine ganz neue Bedeutung: Journalisten betonen immer wieder, objektiv zu berichten. Das ist aber nicht möglich, da jede Berichterstattung von Werten geprägt ist. Stimmen die Werte der Medienmacher nicht mit den eigenen überein, ist der Vorwurf, nicht »objektiv« zu berichten, plötzlich gerechtfertigt. Egal ob vom rechten oder linken Rand; egal ob es um nationale Interessen oder demokratische Grundwerte geht. So gefährdet die Behauptung, »objektiv« zu berichten, am Ende die Demokratie.
Der Gedanke, dass es keine Objektivität gibt, kann beunruhigend sein. Nicht nur für Leser, Hörer und Zuschauer, sondern auch für die Medienmacher – vor allem für diejenigen, die seit jeher das Gegenteil proklamieren.
Ist das die »beste verfügbare Version der Wahrheit«?
Nachdem das Thema gewählt ist, beginnt
- Worte sind Werte: Warum sind die Bomben vom sogenannten Islamischen Staat (IS) »Terroranschläge« und die aus den Bäuchen der US-Flieger »Bombardements«? Warum hatten wir in Deutschland vor 2 Jahren eine
- Künstliche Dichotomie: Zum journalistischen Handwerk gehört es, »beide Seiten darzustellen.« Was durchaus sinnvoll ist, wenn Regierung und Opposition zu einem Gesetzentwurf befragt werden, funktioniert in vielen Zusammenhängen aber nicht. Entweder weil es mehr als 2 Seiten gibt und neben »schwarz« und »weiß« auch noch viele Grautöne stehen. Oder weil Verhältnismäßigkeiten ignoriert werden, wenn zum Beispiel dem einen Klimawissenschaftler, der den wissenschaftlichen Konsens von 99,9% aller Klimawissenschaftler vertritt,
- Negativ-Fokus: »Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten« – der altbekannte Slogan ist in vielen Redaktionen Programm und sorgt dafür, dass vorwiegend über negative Einzelereignisse berichtet wird.
Was passiert, wenn wir unsere Position verändern, uns auf den Weg machen und so die Fata Morgana entlarven?
Ja, es ist anstrengend – aber das gewinnen wir
Ja, es ist anstrengend, sich auf den Weg zu machen. Es ist unangenehm, wenn sich die Fata Morgana am Horizont in heiße Luft auflöst. Wenn das sicher Geglaubte durch Unsicherheit ersetzt wird und man sich angreifbar macht.
Ohne Wertung ist jede Zahl bedeutungslos.
Das heißt nicht, dass Willkür Tür und Tor geöffnet sind. Natürlich gibt es Fakten, Zahlen und Tatsachen. Der Punkt ist: Ohne Wertung und Zusammenhang sind sie bedeutungslos.
Und genau diese Erkenntnis ermöglicht uns, darüber klar zu werden, warum wir gerade dieses Thema aus potenziell unendlich vielen Themen heute als Aufmacher gewählt haben. Sie ermöglicht uns, zu akzeptieren, dass die Recherche dazu vom eigenen Horizont bestimmt wird; dass die Sprache, die Bilder und Töne, die wir am Ende für einen Artikel, einen Beitrag oder ein Video auswählen, vom eigenen Wissen und den eigenen Werten durchtränkt sind.
Vielleicht können wir so auch verstehen, warum manche Leserin oder mancher Zuhörer nicht damit klarkommt. Und können trotzdem ihr Vertrauen (zurück)gewinnen, weil wir ehrlich sagen, warum wir so entschieden haben – statt die Entscheidung als objektive Wahrheit zu verkaufen.
Statt eines verwurzelten Glaubens an eine Luftspiegelung brauchen wir mehr
Anpassung, Oktober 2019: Kai Gniffke war bis 8. August 2019 Chefredakteur von ARD-aktuell. Das wurde im Artikel entsprechend angepasst.
Do you want to read this article in English? Click here!Mit Illustrationen von Karolin Ohrnberger für Perspective Daily