Warum wir eine echte Neiddebatte brauchen
Während es für Millionen Deutsche um jeden einzelnen Euro geht, kommt es für Einzelne auf ein paar Millionen schon lange nicht mehr an. Wenn sich daran etwas ändert, profitieren alle mit weniger als 9 Nullen auf dem Konto davon.
Sie wählen morgens zwischen hochglanzpolierten Autos, jetten mittags unter Blitzlichtgewitter zum Einkaufen nach Monaco und feiern abends im angesagtesten Club der Stadt mit bekannten Gesichtern aus Zeitung und Fernsehen – die glamouröse Welt der Reichen und Schönen wirkt faszinierend, keine Frage.
Selbst zwischen »reich« und »superreich« gibt es extreme Unterschiede.
Doch auch wenn wir durch soziale Medien heute scheinbar so nah dran sind wie nie zuvor, ist der Lebensstil von »denen da oben« für die meisten von uns ein ferner, unerreichbarer Kosmos.
Die wirklich reichsten Deutschen jedoch präsentieren ihr Spitzenvermögen nicht so demonstrativ wie manch ein TV-Promi oder Fußballprofi. Sie bleiben eher unter sich und meiden die Öffentlichkeit. Denn selbst unter Millionären gibt es sie: extreme Ungleichheit. Also Reiche, auf die selbst Reiche neidisch sind.
Um die Unterschiede zwischen »arm«, »normal«, »reich« und »superreich« wirklich begreifen zu können, brauchen wir einen bildlichen Vergleich:
Bei diesen Dimensionen von Ungleichheit drängen sich viele Fragen auf: Kann das noch gerecht sein? Wie lässt sich das messen? Und was lässt sich dagegen tun? Hier kommen die wichtigsten Antworten.
Was heißt hier überhaupt ungerecht?
Ein grundlegendes Verständnis davon, was ungerecht ist, ist jedem Menschen angeboren. Das fanden Psychologen der Universität Virginia heraus. Bereits Kinder im Alter von 3 Jahren haben ein grundlegendes Verständnis für Gerechtigkeit.
Anschließend ging es ans gemeinsame Aufräumen und die Forscher belohnten die Spielkameraden mit Stickern – allerdings mit ungleich vielen. Auch ohne zählen zu können, bemerkte das Kind mit weniger Stickern, dass es gegenüber dem anderen Kind mit mehr Stickern benachteiligt wurde. Doch die Kinder mit mehr Stickern waren ebenso unzufrieden mit der Verteilung – und gaben sogar freiwillig etwas von ihrer Belohnung ab.
Unter Erwachsenen weltweit ist eine ungleiche Verteilung der »Belohnungssticker« der Normalzustand. Und wie im Versuchsaufbau mit den Kindern haben auch wir Erwachsenen kaum einen Einfluss auf die Faktoren, die zu dieser Verteilung führen, etwa:
- Geschlecht
- Herkunft
- Wohlstand der Eltern
- Zugang zu und Stellenwert von Bildung in der Familie
Bei der erwachsenen Version von Ungleichheit handelt es sich um Geld – also genau die Ressource, mit der wir unsere Grundbedürfnisse erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Während die Sticker der Kinder im Experiment zwar Unzufriedenheit auslösen, hängt für erwachsene Menschen viel mehr an der gerechten Verteilung: etwa das Maß an Selbstverwirklichung oder sogar die
Dieser Ungleichheit entgegenzuwirken, fühlt sich also nicht nur fair an, sondern sorgt für gerechtere Lebenschancen für alle. Dazu muss man nicht einmal an wenig wohlhabende Länder denken: Während sich im reichen Deutschland die Superreichen auf ihrem Vermögen ausruhen können, spielt auch hierzulande für Millionen Bürger die Rechnung um »Netto vom Brutto« eine entscheidende Rolle.
Wie ungleich geht es in Deutschland zu – und wie misst man das?
Um die Gesellschaft gerechter zu gestalten, muss die in ihr enthaltene Ungleichheit erst einmal verlässlich gemessen werden. Doch gerade das ist seit jeher schwierig. Denn um genau herauszufinden, wie viel Ungleichheit in Deutschland herrscht, müsste man genaue Informationen über die Einkommen und Vermögen aus allen Schichten der Bevölkerung sammeln und auswerten. Daher haben sich als Annäherung 2 Verfahren etabliert:
- BIP pro Kopf: Um den Wohlstand eines Landes einfach zu berechnen, teilt man das
- Gini-Koeffizient: Für eine bessere Vergleichbarkeit rechnen Wirtschaftswissenschaftler die Ungleichheit in eine eindeutige Zahl um, den sogenannten
Diese Rechnungen sind nützlich, bilden aber Ungleichheit in unserer Gesellschaft nicht präzise ab. Denn ihnen liegt nur das Bruttoeinkommen zugrunde. Doch das sagt wenig über die Nettosumme aus, die ein Deutscher tatsächlich ausgeben kann – hier spielen finanzielle Verpflichtungen, Schulden, Mieten und weitere laufende Kosten eine große Rolle. Außerdem ignorieren beide Rechnungen, wie viele Personen zusammen in einem Haushalt leben und sich damit
Berücksichtigt man all diese Faktoren, erhält man das verfügbare Haushaltseinkommen – und mit ihm eine möglichst realitätsnahe Aussage über die Kaufkraft:
Doch selbst beim recht groben Gini-Koeffizienten zeigt sich ein eindeutiger Trend: »Seit Ende der 1990er-Jahre geht es mit der Einkommensungleichheit europaweit rasant nach oben. In keinem Land ist dieser Anstieg so stark ausgeprägt wie in Deutschland«, weiß Dorothee Spannagel. Sie befasst sich am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung schwerpunktmäßig mit Verteilungsfragen.
Wirklich reich wird man allein durch Arbeit nicht.
Einer der Hauptgründe hierfür war einerseits die in den Jahren 1995–2005 stark angestiegene Arbeitslosigkeit: Der Anteil der Haushalte ohne Erwerbstätige stieg in dieser Zeit von 15,2% auf 19,4%. Andererseits rutschten durch die
9 von 10 Menschen in Deutschland verdienen
Wie hängen Einkommen und Vermögensverteilung zusammen?
Ab einer gewissen Vermögenshöhe muss man sich schon sehr anstrengen, das wieder loszuwerden.
»Reiche werden immer reicher.« An dieser pauschalen Aussage ist etwas dran. Wer gut verdient, kann Geld zur Seite legen, sparen, investieren und
Ab dieser Stufe erzeugt Geld weiteres Geld – und das sicher und ohne ernsthaftes Risiko für die eigene Existenz. Der Trick liegt darin, dass mit einem hohen Vermögen auch der Verlust von Tausenden oder sogar Millionen Euro locker zu verschmerzen ist. Und das führt zu mehr Risikobereitschaft:
Je höher die Vermögen sind, desto häufiger werden auch risiko- und ertragreichere Anlageformen gewählt. Man hat einen langen Atem und genügend andere Standbeine.
Erschwerend kommt hinzu, dass jemand, der vom Golfplatz aus »sein Geld für sich arbeiten lässt« nur 25% davon als Steuern abgeben muss, während für die zuvor betrachteten Einkommen aus Arbeit bis zu 45% fällig werden.
Damit erklärt sich auch, warum die Vermögensungleichheit viel größer ist als die Ungleichheit beim Einkommen. Während jeder vierte Deutsche kein Vermögen oder sogar Schulden hat, beträgt das durchschnittliche Nettovermögen in Deutschland im Jahr 2016 rund 214.500 Euro. Sprich: Viele besitzen nichts, einige besitzen so viel, dass der Durchschnitt nach oben gezogen wird – wie in der Animation zu Anfang sehr plastisch sichtbar wird.
Wir leben also in goldenen Zeiten für Menschen, die bereits viel haben. Im Gegensatz zur Einkommensverteilung gehört Deutschland zusammen mit Österreich in Sachen Vermögensverteilung mit einem
Doch auch hier gibt es ein Datenproblem: Das Vermögen kann nicht präzise gemessen werden. Denn zur Teilnahme an Befragungen zum eigenen Vermögen ist niemand verpflichtet – die Zahlen beruhen also auf vorsichtigen Schätzungen. Und besonders die Superreichen sind nicht sehr auskunftsfreudig. Deswegen geht man davon aus, dass die Spitzenvermögen sogar eher
Wie stark wird Ungleichheit weitervererbt?
Der soziale Status ist wesentlich fester zementiert als bisher angenommen.
Die Zahlen von Einkommens- und Vermögensverteilung machen klar: Der Wohlstand hierzulande sammelt sich nicht um die Mittelschicht, sondern ballt sich am oberen Ende in den Händen von immer weniger Menschen. Parallel dazu entwickelt sich eine zunehmende Armut, die sich beständig verfestigt. »Es gibt immer mehr Menschen, die aus dieser Situation einfach nicht mehr herauskommen«, mahnt Dorothee Spannagel.
Dabei kommt es auch zu immer weniger Austausch zwischen den verschiedenen Gruppen. Sozialwissenschaftler sprechen von »sozialer Abschottung«. Die Ungleichheit manifestiert sich dabei auch in der Bildung, also gerade dem Startpunkt, der jungen Menschen Möglichkeiten für das Leben
Wie stark dieser Effekt wirkt, konnten kürzlich auch die Wissenschaftler des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) beweisen. Anhand von Bildungsgrad und Berufsstand der Urgroßeltern konnten sie in einer bisher beispiellosen Langzeitbetrachtung auf den sozialen Status der jeweiligen Nachfahren schließen – über 4 Generationen hinweg. Ihr Resultat in Kürze: Der soziale Status ist wesentlich fester zementiert als bisher angenommen.
Chancengleichheit sieht anders aus.
Ist weniger Ungleichheit gut für alle?
Mehr Gleichheit beim Wohlstand stärkt die ganze Gesellschaft.
Der Ungleichheit in Deutschland entgegenzuwirken, scheint auf den ersten Blick eine soziale Frage von Gerechtigkeit zu sein. Doch bei den aktuellen Verhältnissen lässt sich ebenso gut volkswirtschaftlich argumentieren: Je mehr Menschen sozial abgehängt werden, desto mehr muss der Sozialstaat eingreifen und umverteilen. Denn ansonsten verstärken sich negative Effekte, unter denen dann die ganze Volkswirtschaft leidet:
- Wirtschaftliche Entwicklung: Aktuelle Studien des Internationalen Währungsfonds und der OECD zeigen, dass die Wirtschaft in Ländern mit geringerer Einkommensungleichheit mehr und
- Fachkräftemangel: »Perspektivisch wird es durch den technologischen Wandel immer weniger Arbeitsstellen für schlecht qualifizierte Menschen geben«, sagt Jan Paul Heisig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften. Deshalb sollten auch Wirtschaftsverbände ein Interesse an möglichst guter Bildung für alle haben.
- Geringere Gesundheitskosten: Wer nicht von Armut betroffen ist, kann sich ausgewogener ernähren und ist seltener krank. Einkommen und sozialer Status hängen eng mit der individuellen Gesundheit zusammen und
Mehr Gleichheit beim Wohlstand stärkt damit auch die ganze Gesellschaft. Damit hat der Kampf gegen Ungleichheit auch nichts mehr mit dem Neid der »Armen« auf die »Reichen« oder der durchschnittlich Reichen auf die »Superreichen« zu tun. Vielmehr ist er zentral für die Zukunft unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Titelbild: Pascal Reckel - copyright