Warum wir das Thema »Drogen« neu denken müssen
Die Kriminalisierung von Drogen hat viel mehr Probleme geschaffen als gelöst. Alternative Strategien müssen her. Welche genau, ist keine triviale Frage. In den kommenden Wochen beleuchten wir das Thema aus neuen Perspektiven.
Eine Bemerkung vorab: Wir wollen die Konsequenzen von legalen und illegalen Drogen nicht verharmlosen. Beide können die Gesundheit und ganze Lebensläufe zerstören. Viele von uns kennen Menschen, die Probleme mit Drogen haben. Wir wollen niemanden ermuntern, Drogen zu konsumieren. Was wir erreichen möchten: Gemeinsam nach besseren Lösungen für den Umgang mit Drogen suchen. Ein Umgang, der auf empirischen Erkenntnissen und Pragmatismus beruht.
»Die Zeit ist reif, dass sich alle Nationen dem Ziel einer drogenfreien Welt verschreiben!« – Kofi Annan (1998)
Frederik v. Paepcke im Frühjahr 2010: Mit einer geliehenen Robe stehe ich als Rechtsreferendar vor dem Amtsgericht Königs Wusterhausen in Brandenburg und bin »Sitzungsvertreter«. In der Rolle des Staatsanwalts vertrete ich den Staat gegenüber Kleinkriminellen. Der Angeklagte, ein Asylbewerber aus der Elfenbeinküste, soll Cannabis verkauft haben. Wie mit meinem Ausbilder abgesprochen, beantrage ich in meinem Plädoyer 7 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
Während der Verhandlung hat der Angeklagte nichts gesagt und sich kaum geregt. Erst, als seine Dolmetscherin mein Schluss-Plädoyer übersetzt, erfährt er, dass er im Gefängnis landen könnte. Seine Gesichtszüge entgleisen; die Dolmetscherin übersetzt, dass er um Vergebung bittet und sich bessern möchte. Er ist den Tränen nahe.
Ich empfinde plötzlich Mitleid. Der Verkauf von Drogen ist für Asylbewerber ohne Arbeitserlaubnis eine der wenigen Möglichkeiten – und wohl die einzige lukrative –, an etwas Geld zu gelangen. Als letztes und schwächstes Glied einer oft mafiösen Lieferkette. Auf der Anklagebank im Amtsgericht König Wusterhausen sitzt kein gefährlicher Mensch, den ich hinter Gittern sehen will. Ich mache nur meinen Job, rede ich mir ein. Aber meine Zweifel an der
Ungeachtet des international geführten
Immer mehr Menschen zweifeln an der Drogenpolitik
Der angeklagte Asylbewerber und ich haben eine Gemeinsamkeit: In der Hierarchie organisierter Drogenkriminalität steht er auf der untersten Stufe. Auf der Seite des Rechts bin ich als angehender
Doch auf meiner Seite ziehen sich die Zweifel an Sinn und Zweck der Drogengesetzgebung mittlerweile quer durch Wissenschaft und Politik bis zu unserem ehemaligen UN-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger. Kofi Annan, der – wie eingangs zitiert – im Jahre 1998 für das Ziel einer drogenfreien Welt warb, äußert sich heute ganz anders:
»Wir müssen akzeptieren, dass eine drogenfreie Welt eine Illusion ist. […] Der Krieg gegen die Drogen ist längst zu einem Krieg gegen die Menschen geworden, der mehr Elend anrichtet als die Rauschmittel selbst.« – Kofi Annan (2016)
Die Kommission forderte im Juni 2012, dem Irrsinn in der internationalen Drogenpolitik endlich Einhalt zu gebieten:
Der »War on Drugs« hat ausgedient. Die internationale Drogenpolitik steht kurz vor einem Umbruch. Tatsächlich wird mehr und mehr mit alternativen Maßnahmen »experimentiert«. Es gibt keine Patentlösung, stattdessen müssen unterschiedliche politische Maßnahmen für verschiedene Regionen umgesetzt werden. »Es ist an der Zeit, den ›War on Drugs‹ zu beenden und Ressourcen umzuleiten, um sie für evidenzbasierte Maßnahmen zu nutzen, die auf gründlichen ökonomischen Analysen beruhen«, fordert auch der
Beim »War on Drugs« verlieren alle
- Das Angebot an Opiaten ist in den Jahren 1990–2010 von 1.000 Tonnen auf fast das 4-Fache angestiegen (3.800 Tonnen), während der Preis im gleichen Zeitraum um etwa 80% sank.
- Die USA haben Bundesmittel zur Drogenbekämpfung seit den frühen 1980er-Jahren auf das 6-Fache aufgestockt. Am Preisverfall des Heroins und einem steigenden Reinheitsgrad (um mehr als 900%) hat diese Maßnahme nichts geändert. Bei Cannabis und Kokain zeigen die Daten ein ähnliches Muster.
- Seit dem Jahre 2006 setzt Mexiko das Militär gegen Drogenkartelle ein – mehr als 50.000 Menschen starben in den darauffolgenden 6 Jahren. Die mexikanische Heroinproduktion stieg dessen ungeachtet zwischen 2004 und 2012 um mehr als 340%.
Die Weltkommission für Drogenpolitik findet angesichts dieses Befunds klare Worte:
»Über Prohibition [von Drogen] ist hundertmal alles gesagt. Sie ist absurd, unvernünftig, kontraproduktiv. Grausam, bigott, verrückt, nutzlos. Albern. Selbsttragend, zirkelschlüssig, menschenverachtend, verlogen.« – Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am 2. Senat des Bundesgerichtshofs (2015)
Langsam, aber stetig zeigen die vielen Stimmen aus Wissenschaft und Politik Wirkung. In vielen Ländern der Welt (zum Beispiel Portugal, Uruguay, Kanada, Neuseeland, den USA) wandelt sich der Zeitgeist, Aufklärung sorgt für konstruktivere Lösungen im Umgang mit den Gefahren des Drogenkonsums.
Auch in Deutschland mehren sich quer durch alle Parteien die Stimmen, die vor allem Cannabis entkriminalisieren wollen.
Kein Platz für falsche Dogmen über Drogen
Auch wir bei Perspective Daily sind uns einig, dass der Krieg gegen Drogen gescheitert ist und wir die internationale und nationale Drogenpolitik neu denken müssen. Deshalb widmen wir dem Thema Drogen in den nächsten Wochen eine ungewöhnliche Themenreihe – und wagen ein kleines Experiment: Wir kooperieren mit dem Journalisten Christian Lerch, dem Deutschlandradio Kultur und dem Radio Österreich 1.
Die folgenden Perspektiven werden wir mit euch diskutieren:
-
Steigern Drogen die Kreativität und welche Auswirkungen hat die ständige Thematisierung von Drogen auf die Zuschauer von Breaking Bad, die Hörer von Bob Marley, die Leser von Jack Kerouac?
David Ehl -
Hast du schon mal Drogen benutzt? Mindestens 95% der über 14-jährigen Deutschen sollten diese Frage mit »ja« beantworten.
Felix Austen -
Was bedeutet Abhängigkeit?
Maren Urner -
Die Drogen-Gesetzgebung soll uns vor uns selbst schützen. Stattdessen richtet sie vor allem Schaden an. Sie ist verfassungswidrig.
Frederik v. Paepcke -
Warum kehrt selbst Kolumbien, das weltweit größte Produzentenland für Kokain, dem War on Drugs den Rücken?
Dirk Walbrühl -
Wo gibt es bereits Experimente zu alternativer Drogenpolitik? Ist die Legalisierung aller Drogen der beste Weg?
Han Langeslag
»Aber ist es nicht verantwortungslos, etwas an der aktuellen Illegalität von Drogen ändern zu wollen? Immerhin machen die doch abhängig …«, werden sich einige von euch fragen. Unsere Antwort: Vieles, was wir über Drogen zu wissen glauben, ist falsch. Wer weiß zum Beispiel, dass eine besonders starke Form von Heroin tagtäglich in Krankenhäusern eingesetzt wird – ohne dass Patienten abhängig werden? Unser aller Einstellung zum Thema Drogen ist durch unser Umfeld, unsere Kultur und die Zeit, in der wir leben, geprägt. So war es Anfang des 19. Jahrhunderts »normal«, Kokain zu konsumieren: Sigmund Freund veröffentlichte einen wissenschaftlichen Text zum Kokain-Konsum und Coca Cola verdankt seinen Namen der wunderbaren Zutat
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Drogen-Reihe!
Ihr habt Erfahrung mit illegalen Drogen? Im Rahmen unserer Themenreihe möchten wir gern ein paar (anonyme) Steckbriefe veröffentlichen, die zeigen, wie unterschiedlich Menschen sind, die Drogen konsumieren. Wir freuen uns, wenn ihr eure Erfahrungen und Gedanken teilt!
Mit Illustrationen von Fabian Ludwig für Perspective Daily