Die »digitale Kindheit« ist längst da. So beenden wir den Streit um die Bildschirme
Wann Bildschirme unseren Kindern schaden und wie wir sie richtig einsetzen, erfährst du in diesem Text.
Es ist Samstagmorgen und das Wochenende gerade mit strahlendem Wetter gestartet. Ein Vater nimmt seinen 8-jährigen Sohn mit zum Friseurtermin. Doch von Quengeln und Hibbeln ist bei dem Kind keine Spur. Stattdessen starrt der Sohnemann stumm auf das leuchtende Display seines Smartphones. In einer ganzen Stunde blickt der Kleine kein einziges Mal auf, nimmt seine Umgebung anscheinend kaum wahr.
Vater: »Wir sind bald fertig.«
Sohn: »Mhm.«
Vor einigen Wochen wurde ich Zeuge einer solchen Szene, die sich in ähnlicher Form sicher jeden Tag an vielen Orten überall auf der Welt abspielt. Denn wir leben längst im Zeitalter der Bildschirme: Smartphones, Tablets, Laptops, Fernseher, Spielekonsolen – sie sind überall, vor allem in Kinderhänden.
Insgesamt sehen Kinder mittlerweile ihre Bildschirme häufiger und
Eltern und Pädagogen reagieren besorgt:
Es ist höchste Zeit für eine differenziertere Debatte, in der nicht mehr Internet, Bildschirme und Digitales wild durcheinandergeworfen werden – und Eltern lernen können, die »digitale Kindheit« weder zu verbieten, noch einfach passieren zu lassen, sondern mitzugestalten.
Ein virales Video, dass ein an Medien gewöhntes Kleinkind zeigt.
Deshalb können Kinder nicht die Finger von Bildschirmen lassen
Die Sozialpsychologin Catarina Katzer forscht seit Jahren zu den
Wir müssen uns mit der Realität da draußen befassen: 17-Jährige schauen
Sie weiß aber auch, dass es nicht allein um die Zeit in Stunden und Minuten vor den Bildschirmen geht. Bevor wir da genauer hinschauen, lohnt sich ein Blick auf die Frage: Warum ist die Suchtgefahr gerade bei Kindern und Jugendlichen so hoch?
- Interaktivität: Viele Bildschirme verbinden Kinder mit dem Internet. Für die interaktiven Reize dort sind sie besonders anfällig, da im Kindesalter Neugier und Entdeckungsverhalten im Gehirn besonders stark belohnt wird.
- Zugehörigkeit: Mobile Bildschirme wie Smartphones sind überall verfügbar und ermöglichen Kindern über zahllose Apps und in sozialen Medien die ständige Kommunikation mit Freunden und Bekannten. Das erzeugt eine große emotionale Nähe zu ihnen – aber auch einen
- Bestätigungs-Mechaniken: Programmierer wissen heute genau, wie sie Spielanreize und Belohnungs-Mechanismen einsetzen müssen,
So unterschiedlich die Inhalte auf verschiedenen Bildschirmen sind, so haben sie doch einen entscheidenden Faktor gemeinsam, der zur ständigen Nutzung verleitet: Gruppendruck. Nur wer den neuesten Videoclip gesehen hat oder wer die neueste App installiert, kann auf dem Schulhof mitreden.
Eltern von heute stehen damit vor einem Dilemma: Einerseits soll der Nachwuchs nicht ausgegrenzt und in Bezug auf den späteren Beruf nicht digital abgehängt werden. »Maybe the Internet raised us.« – die Sängerin Lorde
Andererseits machen sie sich Sorgen über die negativen Auswirkungen von »zu viel Bildschirmzeit«. Die Forschung kann dabei helfen, Chancen und Risiken richtig einzuschätzen.
Von Chancen und Risiken: Das »machen« Bildschirme mit der Jugend
Vorweg ein wenig Ernüchterung: Die Forschung zu den Auswirkungen von Bildschirmmedien steckt noch in den Kinderschuhen. Vor allem ausreichende Langzeitstudien fehlen aus leicht nachvollziehbaren Gründen – es gibt sie schlichtweg noch nicht lang genug. Erste Studien legen aber bereits nahe, dass zu viel Bildschirmzeit Kindern schaden kann. Und zwar so:
- Psychische Gesundheit:
Dabei berichteten die Befragten mit den höchsten Bildschirmzeiten auch über die schlimmsten Schlafprobleme. Und gerade interaktive Bildschirme wie Smartphones ergaben ein höheres Risiko als normale
Andere alarmierende Studien bringen erhöhte Bildschirmzeit mit gesteigerten Risiken für Depression oder Suizid in Verbindung, weisen aber methodische Schwächen auf und sind deshalb wenig - Fettleibigkeit:
- Haltungsschäden: Das Starren mit gesenktem Kopf auf mobile Bildschirme wie Smartphones überbelastet bereits bei Kindern die Halswirbelsäule – je nach Neigungswinkel mit bis zu 20 Kilogramm.
Trotz dieser Risiken dürfen natürlich auch die Vorteile moderner Bildschirmmedien nicht unter den Tisch fallen – wenn sie richtig genutzt werden. Denn das interaktive Internet regt die Kreativität und
Kein Wunder also, dass die Selbstfindung in der Pubertät
Das weiß auch Sozialpsychologin Catarina Katzer. Sie weist aber auch deutlich darauf hin, dass die Übertragung von der digitalen Welt auf das echte Leben nicht so einfach ist: »Wir wissen heute ganz klar, dass gerade
Wichtig ist also vor allem der Ausgleich. Denn wenn sich Kinder früh und einseitig mit Bildschirmen beschäftigen, können sie dadurch, so die Sozialpsychologin, in ihrer Entwicklung eingeschränkt werden – und können etwa Gesichtsausdrücke schlechter einschätzen. Auch
Kinder denken: ›Mit dem Smartphone kann ich besser lernen und Hausaufgaben machen.‹ Das stimmt natürlich nicht. Wenn wir in den Schulen Experimente durchführen und ohne Bildschirme arbeiten lassen, merken die Kinder das auch selbst. Das kann dann schon ein Aha-Erlebnis sein.
Trotz dieser ernst zu nehmenden Risiken
Aber genau das ist zu kurz gedacht und hilft nicht wirklich weiter.
Die »2-Stunden-Regel« bringt nichts
Als pauschaler Ratschlag für Eltern geistert vor allem ein Richtwert durchs Internet: 2 Stunden pro Tag. Das sei eine
»Wenn meine Zeit aufgebraucht ist, geh’ ich halt zu Freunden. Kein Problem.« – Dennis, Grundschüler
Tatsächlich stammt diese Zahl ursprünglich vom US-amerikanischen Fachverband der Kinderärzte (AAP) aus dem Jahr 2013.
Denn die 2-Stunden-Regel bringt mindestens 2 Probleme mit sich: Erstens lässt sich eine strikte Bildschirmzeit kaum einhalten, da Kinder sehr kreativ darin sind, sie zu umgehen. Zweitens beruhigt eine feste Stundenzahl zwar Eltern – führt aber an der individuellen Mediennutzung von Kindern und vor allem den eigentlichen Problemen vorbei.
Das findet auch Catarina Katzer: »Verbieten bringt gar nichts – vor allem, wenn Eltern auf dem Spielplatz am Smartphone sitzen. Eltern müssen sich da selbst reflektieren und ihre Vorbildfunktion erkennen.« Das heißt natürlich im Gegenzug nicht, dass Eltern und Lehrer das Bildschirmverhalten der Kinder gar nicht kontrollieren sollten. Einen ersten Überblick verschaffen Online-Logbücher,
Eine weitere Lösung, die laut Katzer gut funktioniert, sind »bildschirmfreie« Zonen und Zeiten. Dies ist mittlerweile auch die neue Position der AAP. So könnten Familien vereinbaren, beim gemeinsamen Spielen, Essen oder Spazierengehen auf Smartphone und Co. zu verzichten – und so bewusster erleben, dass viele wertvolle Erfahrungen gerade abseits der Bildschirme passieren.
Solche Regeln für Bildschirmfreiheit können dabei helfen, Kindern einen kontrollierten Umgang mit Medien anzugewöhnen – aber sie wappnen nicht gegen alle Fallstricke der digitalen Welt. Denn, so die neuesten Erkenntnisse der AAP, nicht die Zeit am Bildschirm sei entscheidend für die Auswirkungen auf die Kinder,
Nicht der Bildschirm zählt, sondern was darauf passiert
Was alle Eltern ihren Kindern gern mitgeben würden, ist ein souveräner Umgang mit digitalen Medien. Doch was auf vielen Bildschirmen in Kinderzimmern heute passiert, ist eine pädagogische Nullnummer – von Candy Crush bis zu Katzenvideos in Dauerschleife.
Ganz gleich wie lange Kinder diese Inhalte konsumieren – sie lernen dadurch kaum etwas für das spätere Leben. Und dann gibt es noch schädliche Inhalte, von altersungeeigneten Videos bis zu Chatkontakten, die Kinder belasten können – egal wie kurz die Bildschirmzeit dauert.
»Auch viele Kinder fühlen sich heute von digitalen Medien extrem überfordert.« – Catarina Katzer, Sozialpsychologin
Um diese Probleme zu erkennen und einzugreifen, dürfen Eltern Bildschirme nicht generell verteufeln (und es sich damit mit dem Nachwuchs gleich verscherzen), sondern müssen eben genauer hinschauen, was auf den Bildschirmen passiert. Catarina Katzer appelliert: »Eltern sollten sich über neue Phänomene ein Bild machen und wissen, womit sich ihre Kinder an Bildschirmen, Smartphone und Co. beschäftigen. Nur so können sie richtig einschätzen und reagieren, wenn Probleme auftreten.«
Das stellt gerade solche Eltern, die selbst wenig Technologie nutzen und bei Worten wie
- Eltern-Netzwerk: In ihrer beratenden Arbeit für Schulen unterstützt Catarina Katzer die Gründung von Eltern-Netzwerken. Diese können sich untereinander über Medienkonsum austauschen. Das nimmt nicht nur Ängste und schafft Vergleichswerte – es ermöglicht Eltern auch, Erfahrungen zu teilen und Regeln über die eigene Familie hinaus abzusprechen.
- Weiterbildung: Viele deutsche Schulen bieten regelmäßig Informationsabende zu neuen Medien an,
- Digitale Bildung: In Deutschland ist es längst ein erklärtes Ziel,
Eines ist klar: Die Risiken der Bildschirme werden nicht verschwinden, die Technologie wird nur komplexer werden, die Verführungen zunehmen. Deshalb brauchen Eltern jede Hilfe, die sie kriegen können, um Kinder zu Erwachsenen zu erziehen, die reflektiert, kritisch und kompetent die Medienwelt bereisen und mitgestalten. Als echte Cybernauten.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily