Sieht so der Traum vom neuen Wohnen aus?
Landflucht, Einsamkeit, Gentrifizierung – dieses Minidorf löst unsere 3 großen Wohnprobleme.
Berlin ist die Hauptstadt der Freiheit,
Als ich das Uferwerk nach einer Stunde Fahrt und 5 Minuten Fußweg erreiche, sehe ich erst mal eine Baustelle. Hinter Baggern und Bauzäunen ragen weiße Neubauten hervor. Dahinter befindet sich ein altes Fabrikgelände mit einem großen Hof, der sich zum Großen Zernsee hin öffnet.
Irene Mohr, eine der Gründerinnen des Uferwerks, hatte als Architektin einige mögliche Grundstücke im Blick, aber die meisten in Potsdam und Umgebung waren zu teuer. Im Jahr 2014 fand sie das Grundstück rund um das ehemalige Fabrikgelände der Schaltgerätewerke Werder GmbH. Kostenpunkt: 3 Millionen Euro. Die kleine Gruppe um Irene Mohr brauchte schnell möglichst viele zahlungskräftige Mitglieder, um bei der Bank kreditwürdig zu sein. Als Geschäftseinlage mussten die Genossenschaftler in spe 500 Euro pro Quadratmeter zahlen, für eine 100-Quadratmeter-Wohnung also 50.000 Euro – nur um sie anschließend mieten zu können. »Das war für uns alle ein Batzen«, sagt Timo Kaphengst, der wie Irene Mohr von Anfang an dabei war.
Heute wohnen rund 100 Erwachsene und 60 Kinder im Uferwerk. Die ersten Bewohner zogen Anfang 2015 ein, die letzten vor etwa einem Jahr. Sie sind nicht nur Bewohner, sondern auch Mitglieder der Genossenschaft Uferwerk eG. In einer Genossenschaft sind sie unabhängig von Vermietern sowie Hausverwaltungen und können ihren Wohnraum selbst gestalten, weil sie selbst die Rolle der Verwaltung einnehmen.
Obwohl man derzeit einiges an Startkapital einbringen muss, will das Uferwerk offen für Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen sein – für alle, die selbst über ihre Wohnsituation entscheiden wollen. Das sind in Deutschland heute schon ziemlich viele Menschen. Der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V.
Auch heute könnten Wohngenossenschaften wie das Uferwerk Lösungsansätze für 3 Probleme bieten, die immer mehr Menschen betreffen: Mietspekulation in den Städten, Vereinsamung und Landflucht.
Problem 1: Spekulation mit Wohnraum in den Städten
Ich treffe Maike Ahlers und ihren Hund Kylo. Als wir am Ufer entlang spazieren, komme ich kaum mit. Den Großstadt-Schritt hat sie noch nicht abgelegt. Maike ist Ende letzten Jahres von Berlin nach Werder ins Uferwerk gezogen, hat aber schon vor 3 Jahren bei der Sanierung der alten Fabrikhallen geholfen – in den sogenannten
Ihre Wohnung in Prenzlauer Berg wurde im Jahr 2013 – als Maike Ahlers schon über 10 Jahre dort gewohnt hatte – von einem
Maike Ahlers schaut ernst auf die glatte Oberfläche des Zernsees, als sie davon erzählt, wie sie aus ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg verdrängt wurde. Vor 3 Jahren zog sie den Schlussstrich. Endlich wollte sie ihre Wohnsituation selbst im Griff haben und entschied sich deshalb für ein Leben im Uferwerk. »Ich möchte nie wieder, dass jemand so in mein Leben eingreifen kann«, sagt sie.
Die Bewohner des Uferwerks kann niemand so einfach verdrängen, weil sie als Genossenschaft organisiert sind.
»Ich habe mich bewusst für eine Genossenschaft entschieden, weil wir in Berlin klassisch gentrifiziert worden sind.« – Maike Ahlers, Bewohnerin des Uferwerks
Jedes Mitglied bezahlt einen
Nach dem Spaziergang mit Maike Ahlers ist es schon früher Nachmittag. Dem Hof zwischen den ehemaligen Fabrikgebäuden wurde inzwischen Leben eingehaucht: Kinder balancieren auf einer Slackline, spielen Fangen, klettern auf Bäume. Ein Mädchen, das mir entgegenkommt, frage ich, wo Katrin Gillwald wohnt. Ohne zu zögern zeigt sie auf eines der kleinen weißen Häuser vor den rostroten Backsteingebäuden. Man kennt sich.
Katrin Gillwald ist mit ihren 74 Jahren die zweitälteste Bewohnerin des Uferwerks. Als ich ihre Einraumwohnung betrete, entschuldigt sie sich für den unaufgeräumten Schreibtisch, der wie »Sodom und Gomorra aussieht«. Sie ist aus ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg nicht ausgezogen, weil sie verdrängt wurde, sondern weil sie sich in Berlin einsam gefühlt hat.
Problem 2: Vereinsamung
Vor ihrer Rente hatte Katrin Gillwald als Soziologin viel zu tun, ist viel herumgekommen. Da hat es ihr nichts ausgemacht, dass sie in den letzten 40 Jahren überwiegend allein gewohnt hat. Das hat sich in der letzten Zeit geändert.
Katrin ist ein Beispiel eines traurigen Trends, den die Bertelsmann Stiftung in ihrem Handbuch
Josef Bura vom Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V. sieht in genossenschaftlichen Wohnformen die Zukunft für künftige Generationen: »Immer mehr Menschen sind im Alter einsam, weil das, was früher funktioniert hat, heute nicht mehr funktioniert: dass Kinder sich um ihre Eltern kümmern.« Der Grund dafür sei, dass die meisten Kinder nicht mehr am selben Ort wie die Eltern lebten. Außerdem gebe es immer mehr alleinstehende ältere Menschen – wie Katrin Gillwald.
Sie hatte vor 10 Jahren genug vom Alleinsein und machte sich auf die Suche nach einem Wohnprojekt, in dem die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Dabei war ihr vor allem ein Austausch zwischen unterschiedlichen Generationen wichtig, um sich »nicht nur über Stützstrümpfe und Sterbeversicherung zu unterhalten.« Dass sich Kinder mit Erwachsenen, Junge mit Alten austauschen, ist eines der Grundkonzepte im Uferwerk; hier wohnen sie Tür an Tür; teilweise sogar in größeren Wohngemeinschaften zusammen.
»Nachbarn hatte ich viele, aber die meisten von denen kannte ich gar nicht.« – Katrin Gillwald, Bewohnerin des Uferwerks
Katrin Gillwald hat sich zwar gegen das Leben in einer WG entschieden, um »auch mal ein bisschen Ruhe zu haben«, aber so ruhig wie in ihrer Wohnung in Berlin wird es hier nie. Oft klingeln Kinder an ihrer Tür und fragen nach Keksen. Manchmal passt sie ein paar Stunden auf Nachbarskinder auf, wenn deren Eltern einen Termin haben.
Wir laufen zum Steg, Katrins Lieblingsplatz im Uferwerk. »Der muss noch ausgebaut werden«, sagt sie. Es gibt immer etwas zu tun. Die Bewohner des Uferwerks stimmen demokratisch über alle neuen Projekte ab – in den Plenarsitzungen, die einmal im Monat stattfinden. In Arbeitsgruppen werden solche Abstimmungen vorbereitet. »Natürlich kann das auch anstrengend sein«, gibt Katrin zu, »aber wer hier wohnt, der entscheidet sich ja bewusst für ein aktives Leben in der Gemeinschaft.«
Und weil jedes Mitglied sich verpflichtet, die Genossenschaft aktiv zu fördern, macht Katrin sich auf zu ihrem nächsten Termin: Sie will die Waschmaschinen im Gemeinschafts-Waschraum saubermachen. Als wir uns verabschieden, kommt ein kleines Mädchen auf uns zu, zeigt auf meine Kamera und fragt: »Was macht ihr da?« Mio ist 10 Jahre alt und wohnt seit 3 Jahren im Uferwerk.
»Berlin stinkt. Da sind alle Mülleimer immer voll und dann legen die Leute ihren Müll einfach daneben.« – Mio, Bewohnerin des Uferwerks
Auf die Frage, ob sie ihr altes Leben in Berlin vermisst, rümpft sie nur die Nase und sagt »Berlin stinkt. Da sind alle Mülleimer immer voll und dann legen die Leute ihren Müll einfach daneben.« Sie legt sich in die gemusterte Hängematte, die zwischen 2 Bäumen am Ufer hängt, und sinniert weiter über das Leben in der Großstadt, über ihre Freunde im Uferwerk und über das Herbstfest, das sie letztes Jahr hier gefeiert haben.
Ich blicke auf den See und lausche ihren Erzählungen. Die Ruhe wird nur vom Rufen und Lachen der Kinder auf dem selbstgebauten Bolzplatz hinter uns unterbrochen. Ich komme mir vor wie in einem
Problem 3: Landflucht
Eine Szenerie, die es in vielen Dörfern und Kleinstädten in Deutschland vielleicht in Zukunft nicht mehr geben wird. Viele ländliche Regionen in Deutschland sterben seit Jahrzehnten aus. Städte wie München, Leipzig, Berlin oder Hamburg wirken hingegen wie Magneten – vor allem auf junge Menschen, die potenzielle Eltern für die nächsten Kinder im Dorf wären.
Nach einer
»Wohnprojekte sind in ländlichen Regionen bestens aufgehoben!« – Josef Bura, Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V.
Die Gründe dafür, dass Dörfer und Städte immer weiter schrumpfen, sind vielfältig. In vielen Gebieten gibt es nicht mehr so viel Arbeit wie
Das Uferwerk in Werder an der Havel liegt im Landkreis Potsdam-Mittelmark, der in den nächsten 12 Jahren
Und wie kann so eine Wiederbelebung aussehen? Das Uferwerk zeigt es: Es zieht beispielsweise Fachkräfte aufs Land, die die ländlichen Regionen in Deutschland
Nach meinem Treffen mit Mio steht die Sonne über dem Zernsee schon ein bisschen tiefer. Inzwischen haben sich noch mehr Menschen am Ufer zusammengefunden, um gemeinsam den Abend zu verbringen. Als ich mich wieder auf den Weg nach Berlin mache, bin ich fast allein in der S7. Zurück in die Hauptstadt der Freiheit, die sich das erste Mal, seit ich hingezogen bin, gar nicht mehr so frei anfühlt.
Titelbild: Mirko Kubein - copyright