Wie werden wir alle satt? Dieser Mann hat eine Antwort
Um die Menschheit zu ernähren, erschafft er den Regenwald neu.
Flink klettert er einen zitternden Baumstamm empor. Oben angekommen greift er mit der linken Hand nach einem Ast, um mit rechts gekonnt einen weiteren abzuschneiden. Dass Ernst Götsch 70 Jahre alt ist, fällt erst auf, als er wieder auf dem Boden steht, näherkommt und den Blick freigibt auf die Spuren, die Sonnenlicht und Lebensjahre in sein Gesicht
In den professionell gestalteten
Ernst Götsch kombiniert alte Prinzipien zu einer neuen Methode
In den 80er-Jahren hat Ernst Götsch im brasilianischen Piraí do Norte eine neue Heimat gefunden, genau genommen 500 Hektar Heimat. Das rund 700 Fußballfelder große Grundstück sieht auf den ersten Blick aus wie gewöhnlicher
Als der Kakaobauer vor 30 Jahren nach Südamerika kam, fand er in seinem heutigen Garten Eden nichts als Zerstörung vor. Seine Vorgänger hatten dort einst Regenwald gerodet, um auf der Fläche Rinder zu züchten. Doch nicht einmal mehr die wurden schließlich noch satt. Das Land war abgewirtschaftet und vertrocknet. Heute sprudeln alle Quellen wieder und die 17 Bäche, die auf dem Land entspringen, führen das ganze Jahr über Wasser. Der Schweizer hat es sogar geschafft, das lokale Klima zu verbessern. Es regnet wieder öfter als früher. Beginnen wir von vorn.
Ursprünglich hatte Ernst Götsch als Pflanzenzüchter gearbeitet. In einem staatlichen Institut in Zürich machte er seine Schützlinge fit gegen gefräßige Insekten und Krankheiten. Doch für die Landwirtschaft immer neue Varianten einiger weniger Pflanzen zu züchten, bringe stets die gleichen Probleme mit sich, sagt er.
Du bringst eine Sorte raus, resistent gegen die üblichen Krankheiten und Schädlinge, und in 2–3 Jahren kommen die ersten Einbrüche. Es fängt also an zu knacken im Gebälk. Nach 5–6 Jahren spätestens. So eine Entwicklung sieht man auch bei
Er begann neben seiner eigentlichen Arbeit zu forschen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Seine Idee: Warum nicht die Umgebung den Pflanzen anpassen, statt Pflanzen für eine künstliche, tote Umgebung zu züchten? Als er schließlich nach Brasilien ging, ließ er nicht nur seine Heimat, sondern auch die Bürokratie Europas hinter sich. Jetzt konnte er nach Herzenslust experimentieren.
Das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung nennt der Schweizer »Syntropische Landwirtschaft«. Niedergeschrieben ist bisher wenig über sein Konzept. »Ich bin dabei, etwas aufzuschreiben«, erzählt er mir auf Nachfrage. Die Ideen der Syntropischen Landwirtschaft leben vor allem in Ernst Götschs Kopf. Im Gespräch mit ihm wird schnell klar: Der Mann ist ein Freund des gesprochenen Wortes. Jede Konversation mit ihm ist fesselnd und abenteuerlich zugleich. So finden wir uns – und ich kann nicht mehr sagen, wie wir dahin gekommen sind – bei einem Gespräch über die Landwirtschaft schnell in einem Exkurs ins alte Griechenland wieder: Solon, Aischylos, die menschliche Tragödie. Ernst Götsch findet genau dort Hinweise darauf, wie wir Menschen funktionieren und warum wir so zerstörerisch mit der Natur umgehen.
Bio und Permakultur sind ihm nicht genug
Was also schafft die Syntropische Landwirtschaft? Sie folgt den Gesetzen der Natur, sagt der Schweizer. Wenn wir dies zulassen, entwickele sich das pflanzliche Leben Stück für Stück, Jahr für Jahr weiter hin zum natürlichen und ursprünglichen Ökosystem des jeweiligen Ortes,
7 Schritte zur wirklich naturnahen Landwirtschaft
Konkret sieht das so aus:
- Stutzen: Radikales Stutzen der Pflanzen stimuliert sie zu üppigem Wachstum und damit zu vermehrter
- Sortieren: Pflanzen, die im Prozess der Sukzession ihre Aufgabe erfüllt haben, werden aussortiert. Andere, meist höhere und anspruchsvollere, kommen hinzu.
- Decke: Mulch und Pflanzenschnitt, die den Boden bedecken, verhindern, dass Wasser verdunstet, und halten die Erde feucht.
- Nachbarschaft: Benachbarte Pflanzen werden so gewählt, dass sie Nährstoffe füreinander produzieren, die sie mithilfe von
- Etagen: Das System funktioniert wie ein Hochhaus in Etagen. Flache Gemüse, halbhohe Sträucher und Bäume gedeihen zusammen besser. Das Sonnenlicht wird so optimal genutzt, weil die Pflanzen es sich nicht gegenseitig »wegnehmen«.
- Pflugverbot: Den Boden zu pflügen ist tabu, um die kostbare Humusschicht nicht zu zerstören.
- Verzicht: Die Syntropische Landwirtschaft verzichtet auf Bewässerung und externen Dünger. Das heißt, der einzige Dünger, den die Landwirtschaft nach Ernst Götsch nutzt, sind der Mulch und Grünschnitt der eigenen Pflanzen. Auch Kompost kommt nicht zum Einsatz.
Dass es funktioniert, ist nicht nur auf seinem eigenen Land zu sehen, sondern auch in seinen verschiedenen Modellprojekten in Brasilien und weltweit. Der Boden wird fruchtbarer, anstatt mit jeder Ernte nährstoffärmer zu werden. So lässt sich auch mehr Nahrung produzieren. Und ein wichtiger Nebeneffekt: Pflanzen und Bäume binden Kohlenstoff. Ein Wissenschaftler hat laut Ernst Götsch in den 90er-Jahren Messungen auf seinem brasilianischen Boden durchgeführt und mit den Werten auf einer konventionellen Fläche seines Nachbarn verglichen (veröffentlicht wurden die Daten leider nicht). Die Daten hätten gezeigt, dass auf seiner Fläche pro Jahr mehr als 3-mal so viel Kohlenstoff in Biomasse gebunden würde wie beim konventionell arbeitenden Nachbarn.
»Ohne Wasser und Dünger geht nichts?« – Doch!
Warum der Mensch trotz der chronischen Überbeanspruchung der Böden in der Landwirtschaft nicht dazulernt, ist Ernst Götsch ein Rätsel. »Alle alten Zivilisationen sind am gleichen Problem zugrunde gegangen: an der Erschöpfung ihrer Ressourcen. Und wir wiederholen den gleichen Fehler schon wieder.« Er sagt das mehr als einmal und jedes Mal schwingt ein gewisser Weltschmerz in seiner Stimme mit. Er hat keinen Zweifel daran, dass sich die menschliche Existenz an der
Der Fehler der Gegenwart liegt für den Pflanzenzüchter in der modernen Landwirtschaft. Sie ist durch die sogenannte 2018 wurde eine Fläche so groß wie Niedersachsen aus dem Urwald herausgesägt.
Im größten Land Südamerikas wird
Insgesamt sind seit den 70er-Jahren Ökosysteme auf einer Fläche zerstört worden, die der 10,5-fachen Größe Deutschlands entspricht.
Die Methode von Ernst Götsch kann nicht nur dabei helfen, weitere Verluste zu vermeiden – sondern vor allem auch dabei, verloren geglaubte Flächen regelrecht »wiederzubeleben«. Und zwar schneller, als lange Zeit für möglich gehalten wurde.
Die größte Herausforderung: Die Sache mit dem Geld
Wer annimmt, dass auf Ernst Götschs »Wald-Feldern« ein paar magere
Klar ist auch, dass das Kosten- und Ertragsargument im Zweifel überzeugender ist als die Sorge um den Regenwald und das Weltklima. Das hat auch Ernst Götsch akzeptiert und betont es deswegen besonders. Er weiß, unter welch enormem finanziellen Druck konventionelle Großbauern stehen. Tatsächlich luden brasilianische Landwirte aus dem Bundestaat Goiás den Pflanzenzüchter sogar als Ratgeber ein, nachdem sie von seiner Arbeit gehört hatten. Berührungsängste gab es nicht. »Die haben sofort angefangen, Versuchsparzellen anzulegen, inzwischen haben sie mir auch schon mitgeteilt, was gut funktioniert hat und wo es Probleme gibt. Ich bin mir sicher, dass sie kommendes Jahr sehr viele Sachen anwenden werden.«
Auch der pensionierte brasilianische Formel-1-Pilot Pedro Diniz baut sein Bio-Unternehmen
Schließlich funktioniert die Syntropische Landwirtschaft bislang nur mit viel Handarbeit. Die Maschinen, die der Syntropischen Landwirtschaft den Durchbruch bringen könnten, müssen komplexer und kleiner sein als die konventionellen. Doch auch da ist Ernst Götsch dran: Wann immer Geld übrig ist, steckt er es in die Entwicklung neuer Geräte. Der Prototyp einer leichten Maschine, die Gräser schneidet und auf dem Boden verteilt, ist fast fertig.
Der Schweizer träumt sogar in Richtung
Um das zu ändern, geht Ernst Götsch auf internationalen Kurs und verbreitet seine Methode auch außerhalb Brasiliens. Bauernverbände, Kooperativen und sogar Organisationen der Agrarindustrie laden ihn seit Jahren immer wieder ein, bezahlen ihn gut für seine Vorträge und Workshops. Er war in Portugal, Griechenland und Spanien, in afrikanischen Ländern, in Südamerika, in der Karibik. Er hat erlebt, dass seine Art der Landwirtschaft überall funktioniert, wenn er die Auswahl der Pflanzen an die jeweiligen regionalen Ökosysteme anpasst. Auch extreme klimatische Orte bilden keine Ausnahme:
Eine meiner Töchter lebt in Tromsø, am arktischen Gürtel in Norwegen. Sie baut selbst Gemüse an, alles: über Möhren und Kartoffeln hin zu Rucola und Rettich. Das alles passiert in den 2–3 Monaten, wenn das Land nicht mit Eis und Schnee bedeckt ist. Ich habe auch oft schon an trockenen Orten in Subwüstengebieten gearbeitet, die Prinzipien sind überall die gleichen.
Mit arktischen Verhältnissen haben die brasilianischen Großbauern nicht zu kämpfen. Sie können Ernst Götschs Methode so übernehmen, wie er sie in Brasilien perfektioniert hat. Wenn hartgesottene konventionelle Landwirte den Umstieg wollen, stimmt ihn das zuversichtlich: Vielleicht hört der Mensch doch allmählich auf, die Fehler der vergangenen Jahrtausende erneut zu wiederholen.
Der Schweizer weiß auch, dass er noch am Anfang steht. Schließlich geht es ihm um nichts Geringeres, als seine Methoden zum herrschenden Maßstab der Landwirtschaft zu machen. Sie sollten nicht als »Nischenidee eines Verrückten« enden, sagt er am Ende eines unserer 3 Gespräche. Bis er dieses Ziel erreicht hat, wird der 70-jährige Kakaobauer wohl unermüdlich weiter Machete und Kettensäge schwingen, auf Bäume klettern und Vorträge halten.
Titelbild: Felipe Pasini - copyright