Die Großstadt ist eine Zumutung. Gut so!
Wo Millionen Menschen auf engem Raum leben, bleibt uns nichts erspart. Doch nur so lernen wir echte Toleranz.
Noch nie habe ich bequemer gelebt als in Münster – einer Stadt, die sich zeitweise sogar
Viele stellen sich das Großstadtleben ja so vor: Die urbane Elite in Berlin, London oder Budapest bruncht bis zum späten Nachmittag
Von wegen bequem.
Großstädte sind eine Zumutung
In Wirklichkeit sind Großstädte eine große Zumutung. Ständig sieht man etwas, das man gar nicht sehen will. Es ist laut, es stinkt, es ist stressig. Dazu kommt der Kampf um Platz in jeder Hinsicht: Parkplätze für Autos, Kitaplätze für Kinder, ein ruhiger Platz im Park und natürlich auch einer zum Wohnen.
Während ich mich im schützenden Kokon der Kleinstadt allem Unangenehmen entziehen kann, führt in den Metropolen also kein Weg an der Konfrontation vorbei. In Großstädten kondensieren gesellschaftliche Herausforderungen auf engstem Raum. Die vollen Berliner U-Bahnen zwingen mich, die Gesamtbreite an Vielfalt auszuhalten, ob ich gerade will oder nicht. In Prag wird bei Minusgraden das Atmen zur Qual; der Smog hängt dann als dichte Dunstglocke über der Stadt. Und wer kann sich bei den Wahnsinnsmieten in München eigentlich noch Kaffee oder Avocadotoast leisten?!
Städte konfrontieren einen außerdem mit den eigenen Ängsten und internalisierten Vorurteilen. In Berlin bin ich einmal aus einer U-Bahn ausgestiegen, weil mir 2 Männer mit dunklen Haaren und Vollbärten Angst gemacht haben, die sich – meinem Empfinden nach – auffällig verhalten haben. Es war eine Zeit,
Und es gibt noch eine Herausforderung des Großstadtlebens: Städte konfrontieren mich täglich mit meiner Moral und damit, wie groß die Spanne zwischen Realität und Ideal oft ist. Wie verhalte ich mich, wenn ich
Großstadt ist ein Zustand, dem im Wesentlichen niemand entkommen kann, der sich dort aufhält. Es ist ein Zustand, dem sich aber jeder unbedingt (zumindest ab und zu) aussetzen sollte.
Die Stadt als Labor des Fortschritts
Es ist kein Zufall, dass gerade Großstädte oft Hochburgen linksliberalen Denkens sind.
In ganz Europa sind Städte Experimentierlabore progressiver Politik,
Warum das so ist? In Metropolen bekommt jeder zu spüren, wenn Luftverschmutzung, soziale Ungleichheit oder Intoleranz zu einem Problem für die Gesellschaft werden. Dann haben diejenigen gute Karten, die bereit sind, neue Wege zu gehen, um Lösungen zu finden. Das Konservative, das Neuem skeptisch begegnet und seine Politik auf das Bewahren von Althergebrachtem fokussiert, hat es in den Städten schwer. Dort hingegen liegt der Fokus darauf, Probleme zu lösen, möglichst schnell, ohne endlose Grundsatzdebatten in den Feuilletons und auf Twitter.
Von »unten«, aus der Zivilgesellschaft, wachsen Graswurzelbewegungen und Subkulturen wie Unkraut aus dem Beton.
Tatsächlich können sich
Und natürlich betreibt auch die Wirtschaft erfolgreiche Fortschrittslabore mit Bottom-up-Ansatz: Die Sharing Economy ist originär ein urbanes Phänomen.
Städte entdecken ihre Macht
Wichtige Entscheidungen für die Welt von morgen werden schon längst nicht mehr exklusiv von nationalen Regierungen getroffen. Einerseits verlagern sich Entscheidungen auf inter- oder supranationale Ebenen, zum Beispiel wenn es um Außen-, Wirtschafts- oder auch Klimapolitik geht.
Ich denke mehr über die Kontraste nach als über mich selbst
Im Gegensatz zu nationalen Regierungen seien Städte nicht so anfällig dafür, von Einzelpersonen dominiert oder von populistischen Bewegungen vereinnahmt zu werden. Städte sind Netzwerke. Und obwohl auch sie komplexe Systeme mit vielen Stakeholdern sind, lassen sich Veränderungen im Kleinen schneller umsetzen und ausprobieren.
Nach den ersten Tagen in Berlin sind meine Schritte schneller. In Münster hatte ich einen See vor der Tür, hier ist es eine Mischung aus Industriebrachen, Plattenbauten und neu hochgezogenen Studentenlofts. An der Discounterkasse warte ich mit
Ich verstehe jeden, der seine Ruhe haben und ein weitgehend störungsfreies Leben abseits der Metropolen führen möchte. Vielleicht sehne ich mich irgendwann auch wieder danach. In der Zwischenzeit mache ich es mir aber erst mal so richtig schön unbequem.
Titelbild: Anna Dziubinska - CC0 1.0