Der deutsche Arbeitsmarkt steht ziemlich gut da. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern hat die Wirtschaft hierzulande Rückenwind und die Nachfrage nach Arbeit ist stabil. Das zeigt sich zum Beispiel an
In den vergangenen Monaten habe ich mehrere Artikel zu diesem Thema geschrieben, unter anderem zum in Deutschland und zur Dabei fiel mir immer wieder auf, dass eine Gruppe von dieser guten Lage nicht profitiert: die der In Deutschland sind derzeit noch rund 750.000 Menschen langzeitarbeitslos – also mehr als 12 Monate ohne Arbeit.
Dass diese Menschen trotz guter Wirtschaftslage keinen Job finden, wird ihnen meist selbst angelastet. Oft heißt es, Langzeitarbeitslose wären unzuverlässiger, weniger motiviert, kaum belastbar oder nicht so teamfähig wie Arbeitnehmer oder Kurzzeitarbeitslose. Hinzu kommen sogenannte
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn noch etwas anderes erschwert es Langzeitarbeitslosen, zurück in den regulären Arbeitsmarkt zu finden: Vorurteile. Langzeitarbeitslosigkeit ist ein Stigma – wer einmal langzeitarbeitslos ist, hat es bei der Jobsuche schwer.
Und ironischerweise erschwert gerade die gute Konjunktur die Jobsuche für diese Menschen noch weiter – davon ist der Volkswirt und Sozialökonom Patrick Nüß überzeugt. Für das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung hat er sich diesen Mechanismus genauer angeschaut und herausgefunden, dass
Warum ist es so, dass Langzeitarbeitslose derzeit nicht von unserer guten Wirtschaftslage profitieren?
Patrick Nüß:
Die Allgemeinheit geht davon aus, dass eine gute Arbeitsmarktlage die Chancen von Arbeitssuchenden erst einmal verbessern sollte. Genau hier liegt aber ein Problem, das die Lage sogar noch erschwert. Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass es für Arbeitslose, insbesondere Langzeitarbeitslose, leicht ist, einen Job zu finden, dann macht das auf Unternehmen den Eindruck: Wer noch keinen Job gefunden hat, ist weniger produktiv als andere oder es muss weitere schwerwiegende Gründe dafür geben, dass die Person noch arbeitslos ist. Und das erschwert letztendlich für die noch verbliebenen Arbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt.
Also ist gerade die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt schlecht für Langzeitarbeitslose?
Patrick Nüß:
Ungünstigerweise ist genau das der Fall.
Das Experiment und seine Ergebnisse
Eine wie große Rolle spielen diese Bedenken der Unternehmen denn tatsächlich für die Einstellung von Langzeitarbeitslosen?
Patrick Nüß:
Die Standardargumentation in der Vergangenheit war, dass der Abbau von Humankapital eine Rolle bei der Bewerbung von Langzeitarbeitslosen spielt. Dass also Menschen vergessen, wie man morgens aufsteht, wie man Verantwortung übernimmt und so weiter. Mein Experiment setzt dort an. Ich habe die Chancen von Langzeitarbeitslosen am Arbeitsmarkt untersucht. Dazu habe ich versucht, die Motivation und Belastbarkeit von Arbeitslosen, die wir nicht zuverlässig einschätzen können, auszublenden, und mir nur das Verhalten von Unternehmen angesehen. Aber auch hier können wir nicht einfach Unternehmen fragen, wie ihre Einstellung zu Langzeitarbeitslosen ist.
Die Unternehmen würden ihre Einstellung vermutlich schönreden und die tatsächliche Benachteiligung damit verzerren?
Patrick Nüß:
Genau. Deshalb habe ich fiktive Bewerbungen auf Stellenangebote in ganz Deutschland verschickt – von Leuten, die noch in Beschäftigung, kurzzeitarbeitslos oder langzeitarbeitslos Das Ergebnis war, dass Bewerber und Bewerberinnen, die mindestens 10 Monate arbeitslos waren, deutlich weniger Einladungen zu Vorstellungsgesprächen bekamen. Je nach Szenario ging die Wahrscheinlichkeit, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, um 30–50%
Eine deutliche Benachteiligung. Aber warum interessiert sich die Forschung dafür?
Patrick Nüß:
Grundsätzlich ist es wichtig für uns als Wissenschaftlerinnen, um zu verstehen, was genau die Mechanismen sind, warum Menschen langzeitarbeitslos werden. Mit dieser Basis kann man helfen, passende sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Auch für die Unternehmensseite spielt das eine Rolle, weil eine Stigmatisierung von Arbeitslosen, also eine systematische Benachteiligung, auch bedeutet, dass sie vielleicht geeigneten Bewerberinnen keine Chance geben und sich damit selbst im Weg stehen.
Weil diese Benachteiligung auf einer unbewussten Ebene passiert?
Patrick Nüß:
Genau. Ich habe jetzt mehrfach von »Stigmatisierung« gesprochen. Um das etwas greifbarer zu machen: Das Stigma der Arbeitslosigkeit bedeutet letztendlich, dass arbeitslose Bewerber und Bewerberinnen in Einstellungsverfahren pauschal nicht berücksichtigt werden oder ein höherer Maßstab an sie gesetzt wird. Sie müssen dieses negative Signal, das vor allem mit langer Arbeitslosigkeit verbunden wird, überkompensieren.
Kann ein Bewerber denn Arbeitslosigkeit im Lebenslauf nicht einfach verschweigen?
Patrick Nüß:
Leider nein. In meinen und den anderen bestehenden Experimenten dieser Art wird grundsätzlich nicht auf die Arbeitslosigkeit selbst hingewiesen. Wir legen sie nur indirekt durch eine Lücke im Lebenslauf offen und testen bereits die Wirkung dieser Lücke. Eine noch offene Frage ist, ob wir in der Lage wären, durch eine Begründung der Arbeitslosigkeit die Wirkung zu verringern.
Wenn Unternehmen diese Benachteiligung auflösen wollen, was können sie tun?
Patrick Nüß:
Im ersten Schritt wäre es definitiv hilfreich, wenn Unternehmen sich die Existenz ihrer möglichen Vorurteile bewusst machen und hinterfragen, ob die Arbeitslosigkeit an sich wirklich ein geeignetes Bewertungskriterium ist.
Das kann die Politik tun
Welche politischen Maßnahmen wären darüber hinaus hilfreich?
Patrick Nüß:
Als arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sind sehr global gesprochen alle Maßnahmen hilfreich, die einen Menschen wieder in den Arbeitsmarkt integrieren oder ihn daran teilhaben lassen können.
Gibt es auch Maßnahmen, die eher nicht funktionieren?
Patrick Nüß:
In Deutschland gibt es seit Einführung des Mindestlohns zum Beispiel die Möglichkeit, Langzeitarbeitslose 6 Monate lang davon auszunehmen. Wenn jemand, der sich bewirbt, einen geringeren Lohn akzeptiert, als alle anderen erhalten, könnte das den Eindruck erwecken, dass die Person eingesteht, weniger produktiv zu sein als andere. Das existierende Vorteil gegenüber Langzeitarbeitslosen könnte so noch bestärkt werden.
Das kollidiert in Deutschland auch mit der Höhe der Unterstützung von Langzeitarbeitslosen. Es ist ja so, dass Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten,
Patrick Nüß:
Stimmt. Hinzu kam als wichtiger Punkt aber, dass viele Firmen keine Lust auf den bürokratischen Apparat dahinter hatten.
In der aktuellen guten wirtschaftlichen Lage mit sehr geringer Arbeitslosigkeit wäre es vor allem wichtig, die Betreuung von Arbeitslosen zu intensivieren. Sowohl durch Qualifikation als auch durch direkte Betreuung und Beratung von Arbeitslosen. Was grundsätzlich ja auch kein Problem sein sollte, weil in wirtschaftlich guten Zeiten die Mittel der Agentur für Arbeit ja auch ein bisschen breiter aufgestellt sind. Das in diesem Jahr angelaufene der Bundesregierung könnte ebenfalls ein Instrument sein, um gegen die Benachteiligung von Langzeitarbeitslosen vorzugehen. Die Gefahr besteht aber auch hier, dass Langzeitarbeitslose durch die Teilnahme vor dem Arbeitgeber implizit eingestehen, dass sie weniger produktiv sind als andere.
Muss so eine Maßnahme nicht ohnehin viel früher stattfinden, um die Stigmatisierung im Vorhinein abzuwenden? Das Teilhabechancengesetz hilft ja frühestens bei 2 Jahren Arbeitslosigkeit.
Patrick Nüß:
Das ist ein wichtiger Punkt. Bei jemandem, der bereits 2 Jahre und mehr vom Arbeitsmarkt weg ist, können auch gesundheitliche Folgen eingesetzt haben, etwa psychische Probleme. Eine frühzeitige und intensivere Betreuung von Arbeitslosen ist eine unheimlich wichtige Sache.
Was war für Sie die wichtigste Erkenntnis aus dem Feldversuch, den Sie gemacht haben?
Patrick Nüß:
Das Wichtigste aus der aktuellen Forschung für mich war, dass Arbeitslose oft überhaupt nicht die Chance bekommen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, weil sie vielfach bereits in der ersten Phase des Einstellungsverfahrens in die Ablage kommen. Das ist für mich der zentrale Punkt.
Es gibt aber noch einen spannenden, allerdings bisher nicht belegbaren Gedanken: In Deutschland finden wir das Stigma ab dem zehnten Monat. In den USA sehen wir, dass das Stigma bereits nach 6 Monaten eintritt, und für Schweden befindet sich der Zeitpunkt des Stigmas dazwischen, bei etwa 9 Monaten. In Deutschland zahlen wir 12 Monate Arbeitslosenhilfe, in den USA 6 Monate und in Schweden liegt es wieder dazwischen. Es lässt sich kausal bisher nicht nachweisen, aber es sieht danach aus, als dass der Zeitpunkt, zu dem dieses Stigma der Arbeitslosigkeit einsetzt, in Verbindung damit steht, wie lange wir Arbeitslosenhilfe zahlen.
Eine interessante Beobachtung. Aber wie kann das zusammenhängen?
Patrick Nüß:
Offenbar erkennen Firmen an, dass Bewerber und Bewerberinnen Zeit bekommen müssen, eine neue Arbeit zu finden. Aber wenn sie ans Ende des Zeitraums der Arbeitslosenhilfe kommen, scheinen Unternehmen anzunehmen, dass sie nur noch verzweifelt versuchen, irgendwo unterzukommen. Wenn es bedeutet, dass die Länge der gezahlten Arbeitslosenhilfe mit dem Stigma der Langzeitarbeitslosigkeit zusammenhängt, dann könnte eine länger gezahlte Arbeitslosenhilfe dafür sorgen, dass sich dieses Stigma nach hinten verschiebt.
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!