Das ist Deutschlands Stadt der Zukunft – und du hast noch nie von ihr gehört
Wo Hitlers Blitzkriege geplant wurden, soll die erste »Eco City« des Landes entstehen: klimaneutral, interkulturell, progressiv. Bürgermeisterin und Bewohner des Ortes sehen das kritisch – Spinnerei oder Musterbeispiel?
Aus dem zerfledderten Puppenkörper quillt Watte. Er liegt schlaff und kopflos auf einem Hocker. An der Wand hängen vergilbte Zeichnungen von Fabrikarbeitern, ganz im Stil des Sozialistischen Realismus, daneben ein Feldbett, Stiefel und eine Gasmaske. Vieles, was die russischen Soldaten zurückließen, ist in diesem Zimmer im Haus der Offiziere ausgestellt. Durch das Fenster starre ich auf den Rücken einer mannshohen Lenin-Statue.
Wer noch nie etwas von der Militärstadt Wünsdorf gehört hat, wird sich fragen, warum einem dieser Ort deutscher Geschichte unbekannt ist. Nur eine halbe Stunde von Berlin entfernt befindet sich der einst größte Militärstandort Europas. Er erstreckt sich auf einer Fläche so groß wie der Flughafen Hamburg am östlichen Ortsausgang der 6.500-Seelen-Gemeinde Wünsdorf. Das schlossähnliche Haus der Offiziere, das von einer Badeanstalt, einem Casino, einem Theater und einer Reithalle flankiert wird, ist nur ein kleiner Teil der weitläufigen Anlage.
Lange Zeit durfte kein Zivilist die »Verbotene Stadt« betreten. Zuerst war dort ein Truppenübungsplatz der Preußen. Ab 1933 wurde der zur Militärstadt und zum Sitz des Oberkommandos der Nationalsozialisten – und zur Planungszentrale für Hitlers Kriege. Die Wehrmacht errichtete mehrere Bunker, von denen nur wenige den Zweiten Weltkrieg überdauerten. Denn die Rote Armee sprengte einige, als sie nach dem Sieg der Alliierten in Berlin nach Wünsdorf kam.
Später, zu DDR-Zeiten, war in der Sperrzone Zossen-Wünsdorf die größte Garnison der Roten Armee mit bis zu 60.000 Einheiten und Angehörigen stationiert.
Ausgerechnet hier, an einem Ort des Krieges, will ein Berliner Verein einen Ort der Zukunft bauen: die weltweit erste komplett klimaneutrale Stadt –
Wie sehen die Städte der Zukunft aus?
Es ist Ende Juni 2019. Wetterdienste warnen vor Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius. Die Rekordhitze wirbt heute unfreiwillig für die Eco City, die in der Militärstadt Wünsdorf der Presse und anderen Interessierten vorgestellt werden soll. Während Praktikanten Stellwände unter die schattenspendenden Bäume tragen, versammeln sich um sie herum die Besucher, die über den E-Mail-Verteiler des Vereins von dem Rundgang erfahren haben. Fast alle kommen aus Berlin und sind vom eingleisigen Bahnhof in Wünsdorf in die »Verbotene Stadt« gepilgert.
Als Ekhart Hahn, Leiter des Projekts und Professor für ökologische Stadt- und Raumplanung, über die trockenen Tannennadeln und Blätter am Boden zu den Stellwänden schreitet, knistert jeder seiner Schritte. Hahn ist ein Urgestein, wenn es um ökologischen Städtebau geht. Seit über 40 Jahren befasst er sich damit, arbeitete an Bauprojekten in Berlin, Leipzig und Dresden. In Tokio berät er das Eco Village,
Viele melden sich, also holt er aus. Zuerst erzählt er von der Militärstadt, um zu verdeutlichen, wie geschichtsträchtig dieser teils verwilderte Ort ist:
Nach der kleinen Geschichtsstunde kommt Ekhart Hahn zu seiner eigentlichen Präsentation und lässt zuerst einen Satz wirken:
»Wie leben wir in der Zukunft? Und wie sehen unsere Städte aus?«, fragt Hahn, obwohl er für sich schon längst eine Antwort gefunden hat. Wünsdorf könnte das Labor für die, so nennt sie Hahn, »post-fossilen Städte« von morgen werden. Was er damit meint, unterteilt er in 3 Dimensionen:
- Das Labor
»Modell und Labor« titelt eine der Stellwände hinter dem Professor. Darauf zu sehen ist ein Grundriss der zukünftigen Eco City – ein Stadtorganismus, der sich wie eine Zelle selbst mit Wasser, Energie und Nahrung versorgt. Dazu gehören die dezentrale Organisation über intelligente Stromnetze, die Modernisierung alter Technologien wie der Herstellung von
In der Eco City sollen aber nicht nur Technologien entwickelt, sondern gleich in der angeschlossenen Siedlung getestet werden. Viele Gebäude müssen dafür auf dem Gelände neu und ökologisch gebaut werden. Ein weiterer Erfahrungswert in Zeiten, in denen Bauen fürs Klima immer lukrativer wird. - Vernetzung
Es gibt aber auch alte Gebäude, die Hahn klimafreundlich sanieren will. Dazu gehört das schlossähnliche Haus der Offiziere. In das soll eine internationale Akademie einziehen, die an einen großen Campus für bis zu 10.000 Auszubildende anschließt. »Sie bauen und betreiben die Stadt, sodass sie direkt Kontakt haben«, kommentiert Hahn. Die Erkenntnisse aus der Eco City will er teilen, vor allem mit Menschen aus Regionen wie zum Beispiel dem Nahen Osten, die schon jetzt stark unter dem Klimawandel leiden.Wenn die Menschen dort keine Nahrungsmittel mehr haben oder durch Kriege die Landschaft zerstört ist, was bleibt den Menschen da anderes übrig, als auf die Flucht zu gehen?
Deshalb sollen die Auszubildenden zu gleichen Teilen aus Kriegs- und Krisenregionen sowie aus Europa kommen. Also geht es den Machern der Eco City nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern auch darum, Wege des interkulturellen Miteinanders zu ergründen. - Modellregion Berlin-Brandenburg
»Wenn Städte zellularer werden, wandelt sich die Nutzung der lokalen Ressourcen und die Bedeutung des Umlandes und der Region«, sagt Hahn. In der Broschüre ist diese Dimension unter »Renaissance des Lokalen« verbucht. Statt Nahrung über Tausende Kilometer zu transportieren, wird direkt aus der Region geliefert, was nicht im eigenen Quartier produziert wird. Das wirke positiv auf den Infrastrukturausbau in den ländlichen Gebieten, meint der Professor. Zum Beispiel auch auf den kleinen Bahnhof in Wünsdorf.
Ekhart Hahn wiederholt während seiner Präsentation oft, dass jetzt etwas gegen den Klimawandel getan werden müsse. Es klingt wie ein Mantra.
Fragen über Fragen
Nach dem Vortrag teilen wir uns in 3 Gruppen auf, um die Gebäude zu besichtigen. Das Haus der Offiziere erstreckt sich über mehrere Stockwerke. Überall stehen Türen offen, durch die man in meist fensterlose Räume gelangt. Als ich durch die staubigen Korridore vorbei an geborstenen Glastüren und zerschlissenen Tapeten laufe, denke ich an den Teil aus Hahns Präsentation, in dem er über die Sanierung der Gebäude sprach: »Die Bauten aus dieser Zeit haben eine so gute Grundsubstanz und Qualität. Sie stehen unter Denkmalschutz und seit Langem zum Verkauf. Warum kauft sie keiner? Weil es gewaltige Kosten verursachen würde, diese denkmalgerecht zu sanieren.« Deshalb will der Verein der Eco City einen
In diesem Fall werden wir die bestehenden Gesetze in vielen Punkten nicht einhalten können, weil neue Wege beschritten werden müssen.
Viele Besucher wollen auch wissen, wie man dieses Megaprojekt finanzieren soll. Gute Frage! Hahn spricht von Spenden, die für die Planungsarbeit eingegangen seien. Auf der Website kann man an den Verein spenden oder als Mitglied Beitrag zahlen. Investoren für den Bau müssten aber noch gefunden werden. Der Professor zeigt sich optimistisch. Das Interesse sei groß, in nachhaltige Architektur wie diese zu investieren.
Doch für die Realisierung der Eco City braucht es nicht nur Geld, sondern auch politischen Willen.
Im Theatersaal der Militärstadt, der von allen Räumen am besten erhalten ist, spreche ich das erste Mal mit Reinhard Baier. Von den roten Stuhlreihen aus blicken wir auf eine große Bühne, die von goldfarbenen Verzierungen und einem langen Vorhang umrahmt ist. Baier ist der Einzige in der Gruppe, der aus der Region kommt. Er arbeitet als Geschäftsführer einer Firma, in der ökologische Gutachten für Bauprojekte erstellt werden. Ich werde auf ihn aufmerksam, als er dem Professor vor dem Rundgang rät: »Ich glaube, Sie müssen versuchen, noch viel mehr Akzeptanz zu bekommen.«
Deshalb spricht er die Haltung der Bürgermeisterin von Zossen an, in das Wünsdorf eingemeindet ist. Michaela Schreiber bewertet die Eco City »in mehrfacher Hinsicht als völlig unrealistisch«. Schon im Juni 2018 erteilte sie dem Verein eine Absage.
Hahn erwidert, dass es auch Politiker gebe, die dem Projekt zugewandt seien. Sein politisches Ziel: die Eco City als ein Schlüsselprojekt in die Koalitionsverhandlungen der nächsten Landesregierung einzubringen. Dafür bleibt aber wenig Zeit. Am 1. September finden bereits die Wahlen in Brandenburg statt. In den Wahlprognosen führt die AfD. Die weitaus zugänglichere Partei für den Verein, die Grünen, liegt auf Platz 4.
Nach dem Besuch in der Militärstadt verabrede ich mich mit Reinhard Baier, um mehr über die lokalen Herausforderungen zu erfahren.
»Ihr müsst euch in der Region bekannt machen«
Ein paar Wochen später stehe ich in
Reinhard Baier geht voll in seiner Arbeit auf. In seiner Gemeinde und in der Presse tritt er immer wieder als sachkundiger Einwohner für Naturschutz auf. Da er Bürger der Region ist und über Fachkenntnisse verfügt, will ich von ihm wissen, was der Eco City vor Ort im Weg steht.
»Ich finde solche Projekte irre interessant, habe aber gleich gesagt: ›Ihr müsst euch in der Region bekannt machen‹«, antwortet Baier. Bisher hat der Verein der Eco City nur einen Bürgerdialog in Wünsdorf veranstaltet. Dazu kamen rund 70 Interessierte. Kein repräsentativer Schnitt bei fast 20.000 Einwohnern, die in Zossen und Wünsdorf leben. Da muss mehr gehen, findet auch Baier. Mindestens müsste ein Büro vor Ort mit lokalen Mitarbeitern eröffnet werden. Laut Verein sei das auch geplant.
Die Infrastruktur sei das, was die Leute vor Ort interessiere. Und genau über diese Inhalte könne der Verein mehr in Austausch treten, meint Baier. Die Einwohnerzahl in Wünsdorf hat sich seit dem Abzug der russischen Soldaten fast verdreifacht: auf 6.500 Menschen. Viele sind zugezogen und Baier bezweifelt, dass diese schon für einen neuen Wandel in Form der geplanten Siedlung bereit seien. Einen Anreiz sieht er – wie der Leiter des Projekts, Ekhart Hahn – im Ausbau des Bahnhofs, da viele nach Berlin pendeln, aber auch in der Elektromobilität für die ganze Region. Denn meist ist die Antwort auf mehr Verkehr in den Gemeinden nahe Berlin
Zossen mit Wünsdorf ist eine
Die Bürgermeisterfraktion in Zossen und die Entwicklungsgesellschaft Waldstadt Wünsdorf/Zehrensdorf, der Flächen der Militärstadt gehören, springen bisher nicht auf die nachhaltigen Aspekte der Eco City an.
Reinhard Baier, der mit seiner Firma in der Vergangenheit auch ökologische Gutachten in der Militärstadt erstellt hat, versteht die Verdrossenheit der Bürgermeisterin. Viele Investitionen hat er in der Vergangenheit platzen sehen.
Nach dem Besuch in der Militärstadt und bei Reinhard Baier ist meine Frage beantwortet, warum die Eco City (noch) nicht in Wünsdorf steht. Die Antwort darauf, ob sie es eines Tages wird, hängt zum einen von der Landtagswahl Anfang September ab. Aber auch davon, ob der Verein aus Berlin vor Ort Vertrauen in das Projekt und Planungssicherheit schafft. Sollte das nicht gelingen, das klang auch in der Präsentation an, habe sich der Verein noch andere Standorte in Deutschland angesehen. In keinem würden aber so gute Bedingungen herrschen wie in Wünsdorf.
Titelbild: Joaquin Busch - copyright