1. Mai 2017. Plötzlich heulen Sirenen auf. Polizisten und bewaffnete Soldaten sperren Verkehrsknoten und Hauptstraßen in den Städten, innerhalb weniger Stunden sind die Straßen wie leergefegt. Zu Fuß drängen die Menschen zu den Supermärkten, um Lebensmittel zu hamstern: Mit Wasserflaschen, Konservendosen und einer gehörigen Portion Verunsicherung eilen sie nach Hause. Auf allen Medienkanälen brabbeln Moderatoren und Kommentatoren wild durcheinander. Die Handynetze sind überlastet. Eltern texten ihren Kindern: »Alles ok bei euch? Seid ihr in Sicherheit? Wisst ihr, was los ist?« Über die Bildschirme flimmern rote, fette Eilmeldungen: »Bundesregierung ruft den Inneren Notstand aus.«
Die Freizügigkeit darf unter anderem in folgenden Fällen eingeschränkt werden: Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Bundes sowie zur Bekämpfung von Naturkatastrophen oder
Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ist in Gefahr?
Am frühen Abend richtet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel an die deutsche Bevölkerung:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
am heutigen Montagmorgen haben wir, die deutsche Bundesregierung, den Inneren Notstand in unserem Land ausgerufen. Wir sind davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben, als jetzt zu handeln, um in den kommenden Jahren Schlimmes von unserem Land abzuwenden. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir alle Ruhe bewahren und uns besonnen der Herausforderung stellen. […] Die Pfeiler unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind in Gefahr, wenn wir nicht sofort entschieden handeln. Im Einzelnen bedeutet das Folgendes: Für die kommenden Jahrzehnte müssen wir mit gravierenden Wachstums- und Wohlstandseinbußen rechnen, eine dauerhafte, tiefgreifende Die Grundprinzipien des Rechtsstaates sind gefährdet.
Versorgungsengpässe stehen bevor. Die Reinheit von Luft- und Wasser wird nicht mehr gewährleistet sein. Für die Elektrizitäts-, Energie- und Rohstoffversorgung geht die Regierung von regelmäßigen Engpässen aus. Unsere Gesundheitsversorgung wird anhaltend überlastet sein, da sich chronische Erkrankungen aufgrund von Verschmutzungen schnell ausbreiten werden.
Bei sozialen Medien, am Küchentisch und am Stammtisch wird wild spekuliert, erste Verschwörungstheorien kursieren. Die
Was zur Hölle ist los?
Ein gewaltiger Terroranschlag auf deutschem Boden? Ein eingeschlepptes, gefährlich mutiertes Grippevirus aus Fernost mit Seuchengefahr? Eine Cyber-Attacke? Oder ein klassischer Angriffskrieg: Hat eine benachbarte Nation den Krieg erklärt und die Panzer stehen an der Grenze?
Hat eine benachbarte Nation den Krieg erklärt?
Nichts von alledem. Der Beweggrund der Regierung,
Die
Und zwar schnell: Denn die genannten Bedrohungen warten nicht auf langsame, sukzessive Anpassungen, sondern erfordern schnelles Handeln. Uns bleiben keine
Dabei werden alle Aktivitäten und Prozesse auf 2 Faktoren geprüft: grundordnungsgefährdend (GOG) und grundordnungserhaltend (GOE). Die Kennzeichnung durch »GOG« und »GOE« sorgt für Transparenz. Die konkreten Maßnahmen beziehen sich auf die 5 systemkritischen Lebensbereiche: Finanzen, Verkehr, Ernährung, Wohnen und Arbeit.
Phase 1 hat das klare Ziel, alle klima-, umwelt- und somit GOG-Vorgänge und -Aktivitäten zu stoppen. Diese Phase dient dem Übergang, alle Maßnahmen sind temporär begrenzt.
Im Marix-Programm der Regierung heißt es:
Die ersten 2 Monate des Marix-Programms – die Stilllegung – stehen ganz im Zeichen des Umbruchs. Die Menschen sind verunsichert, fürchten um ihre Grundrechte und -freiheiten. Proteste flammen auf, es kommt zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Die Regierung antwortet darauf mit einer sorgsam nach kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen orchestrierten Aufklärungsoffensive: Medien, Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften, Kirchen und Verbände sind darauf vorbereitet, der Bevölkerung die Zusammenhänge zwischen ihrem Handeln und der Gefährdung für die Grundordnung zu erklären.
Fahre mit der Maus über die grünen Punkte und sieh, wie die einzelnen Aspekte unseres Alltags die Grundordnung gefährden.
Das Kalkül, die
In Phase 2 erfolgt der Umbau. Die 5 lebensrelevanten Bereiche Finanzen, Verkehr, Ernährung, Wohnen und Arbeit werden so umstrukturiert, dass die globale Erwärmung und das Überschreiten weiterer planetarer Grenzen gestoppt und die Grundordnung langfristig erhalten werden kann. Infrastruktur, Arbeitsplätze und Produktionsstätten werden auf GOE-Aktivitäten umgestellt. Neue Gesetze, Abläufe und Verordnungen werden eingeführt. Sie regeln unter anderem den schnellen und sukzessiven Umbau.
Im Marix-Programm der Regierung heißt es:
Die großen Stärken der deutschen Wirtschaft – hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte, technisierte, flexible Fertigungslinien – ermöglichen einen scharfen Kursschwenk, der nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Unternehmen selbst überrascht.
Erst leise, hinter vorgehaltener Hand, dann laut und offen, tönt es von überall: »Ich habe es nicht geglaubt, aber es war dringend nötig – warum haben wir so lange damit gewartet?«
In Phase 3 erfolgt die Gewöhnung. Die vorangegangene technische und gesellschaftliche Umstellung ist seit langem verstanden, gründlich geplant und vorbereitet – sodass auch scheinbar
Die Menschen begreifen, dass die Veränderungen in wenigen Fällen kurzfristig nachteilig sind – wenn zum Beispiel eine Umschulung nötig ist; die neuen GOE-Maßnahmen wirken sich langfristig positiv auf alle aus. Es geht also um das richtige
1. Mai 2018. Genau 1 Jahr nachdem die Sirenen den Menschen bundesweit einen Schrecken durch die Knochen jagten, hebt die Regierung den Notstand auf. Die strengen Uniformen verschwinden aus dem öffentlichen Raum.
Das Marix-Programm ist weitestgehend umgesetzt. Die CO2- und Schadstoff-Emissionen sind auf 10% des Vorjahresniveaus gesunken. Der Biodiversitäts- und Bodenverlust hat rapide abgenommen. Die Grundordnung ist nicht mehr bedroht.
Kritische Stimmen gibt es nach wie vor – und das nicht zu knapp. Sie bezweifeln die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, sie sind unzufrieden, protestieren lauthals und verteufeln die Verantwortlichen. Und das teilweise zu Recht …
Denn natürlich gibt es noch immer Probleme: ungleiche Bildungschancen, Korruption, Fremdenhass. Die Menschheit hat sich nicht von heute auf morgen in eine friedvolle Herde verwandelt. Nur: Wir haben jetzt wieder Zeit und Kraft, uns diesen Herausforderungen zu widmen. Die Möglichkeit, sie zu lösen. Denn wir haben gezeigt, dass wir als Gesellschaft eine Zukunft haben wollen.
Der Notstand bedeutete nicht, die Freiheit zu beschränken, sondern sie zu sichern. Das Ende der 3 Phasen führt uns zurück in die Freiheit. Innerhalb von Regeln. Regeln, die wir abgesteckt haben, um unser Zusammenleben zu organisieren und ein gutes Leben zu gewährleisten. Regeln, die wir dringend auf den neuesten Stand bringen mussten.
Zu diesem Gedankenexperiment hat uns ein
Seine These: Wir müssen sofort einen 3. Weltkrieg gegen diese Bedrohung starten. Denn nur, wenn wir diesem Kampf alles andere unterordnen, können wir die schlimmsten Folgen verhindern. Statt Kühlschränken und Pick-up-Trucks liefen Panzer, Kugeln und Kampfjets von den Bändern.
Genauso, wie es die Vereinigten Staaten von Amerika im Zweiten Weltkrieg getan haben. Das ganze Land wurde zusammengetrommelt und stand für ein klares Ziel: den Faschismus abwehren. Millionen Amerikaner sahen die Abwehr der Nazis als Sinn und Zweck ihres Handelns. Fabriken wurden umfunktioniert, um Kriegsmaschinerie zu fertigen: Statt Kühlschränken und Pick-up-Trucks liefen Panzer, Kugeln und Kampfjets von den Bändern. So müssen wir es jetzt auch machen: Solaranlagen statt Dieselmotoren, Fahrradwege statt Autobahnen.
Natürlich bleiben bei unserer Notstands-Idee viele Fragen offen – das hat bereits die interne Diskussion in unserer Redaktion gezeigt (nachdem wir diesen Artikel ganz undemokratisch eigenmächtig auf den Redaktionsplan gesetzt haben). Wir sind aber davon überzeugt, dass es wichtig ist, diese Fragen zu stellen. Wir wollen zeigen, dass schnelle Änderungen möglich sind, weil wir die notwendige Technik und das Wissen haben. Gesellschaften haben oft radikale Richtungswechsel eingelegt – dieses Mal wäre es besonders wichtig. Denn die Folgen unserer Untätigkeit sind viel gefährlicher, als es die Folgen eines Notstandes sein können. Das alles klingt zu dramatisch? Umso wichtiger ist es, jetzt anzufangen!
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily
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