Ich war dabei, als 160 Menschen über Deutschlands Ernährung abstimmten. Das habe ich gelernt
Über die Rettung der Demokratie. Über Markus Söder. Und darüber, warum Klimapolitik so langsam vorangeht.
Wenn jemand etwas verspricht oder große Töne spuckt, sagen wir in Italien gerne: »Tra il dire e il fare, c’è in mezzo il mare.« Das bedeutet: Zwischen dem Sagen und dem Tun liegt das Meer. Nur Dinge anzukündigen oder zu fordern, reicht nicht. Man muss sie auch umsetzen.
Doch der Mensch ist widersprüchlich. Er sagt das eine und tut das andere. Zum Beispiel, wenn er isst. In Umfragen geben die meisten Deutschen an, sie seien zum Wohle der Tiere bereit, höhere Preise für Fleisch zu zahlen. In den Einkaufswagen landen beim Großteil dann aber doch die Billigprodukte,
Das Thema Essen ist heikel. Weil es persönlich wie ideologisch ist, greifbar und zugleich komplex. Es spielt auf vielen Ebenen eine Rolle: Gesundheit, Wohlstand, Moral und Klima. Und irgendwie hat es immer auch mit unserem Herzen zu tun.
Deshalb ist das Thema auch politisch kontrovers: Es geht um Richtungsentscheidungen. Umso ambitionierter, dass der Deutsche Bundestag ausgerechnet das Thema Ernährung für seinen ersten Bürgerrat ausgewählt hat.
Zum Hintergrund: Im Herbst 2023 begann ein Rat aus 160 zufällig ausgelosten Bürger:innen aus ganz Deutschland zu tagen. In seiner Zusammensetzung bildet der Bürgerrat die deutsche Bevölkerung ab – nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und anderen
Der Bürgerrat für Ernährung empfiehlt folgende Maßnahmen:
- Kostenfreies Mittagessen in Kitas und Schulen, das sich nach Umwelt- sowie Gesundheitsstandards richtet.
- Ein verpflichtendes staatliches Label auf Produktverpackungen. Dieses soll die Haltungsform des Tieres bei Fleisch angeben, wie gesund ein Lebensmittel ist und wie viel CO2 dabei ausgestoßen wurde.
- Verpflichtung für Supermärkte, Essen nicht mehr wegzuschmeißen, sondern an gemeinnützige Organisationen weiterzugeben.
- Ein neues verpflichtendes Tierwohllabel, das den gesamten Prozess der Fleischherstellung transparent macht.
- Mehr Steuern auf Zucker und auf Fleischprodukte mit niedrigen Tierwohlstandards, weniger Steuern auf gesundes und klimaschonendes Essen.
- Gesünderes Essen in Pflegeeinrichtungen.
- Neue Abgabe auf tierische Produkte, mit deren Einnahmen Landwirte prämiert werden, die höhere Haltungsstandards einführen wollen.
- Energydrinks erst ab 16 Jahren.
- Mehr und transparente Lebensmittelkontrollen.
Auch ich war Teil der Übung in direkter Demokratie. Als sogenannte »Tischassistenz« habe ich die Diskussionen der Bürger:innen in den Sitzungen zwischen September und Januar protokolliert.
Dabei habe ich einiges darüber gelernt, wie politische Kommunikation auf Menschen wirkt. Mir ist nun klarer, warum wir in der Klimapolitik nur so langsam vorankommen. Und ich habe verstanden, was Bürgerräte können und wo ihre Grenzen liegen.
Dies sind meine 5 wichtigsten Erkenntnisse.
Lektion 1: Framing ist alles. Und niemand mag »Verbote«
Bei manchen der Wortmeldungen im Bürgerrat schien es, als hätte sich der bayerische Ministerpräsident
Statt Verbote zu erlassen, so plädierten die meisten, solle auf die Eigenverantwortung von Konsument:innen gesetzt werden. Die Aufgabe des Staates sahen die meisten Teilnehmenden darin, bei einer informierten Entscheidung behilflich zu sein. Etwa durch verpflichtende Labels zum Tierwohl oder über Aufklärung an Schulen zu gesunder Ernährung.
Das bringt mich zum Nachdenken: Woher kommt die Abneigung gegenüber Verboten? In einem
Das wissen auch politische Akteur:innen, wenn sie beispielsweise die Grünen als »Verbotspartei« labeln. Mit diesem Framing lassen sich auch sinnvolle Maßnahmen effizient diskreditieren.
In dieser Erkenntnis steckt eine Chance: Vielleicht lassen sich notwendige Maßnahmen, etwa beim Klimaschutz, in Zukunft positiver formulieren.
Ein konkretes Beispiel aus dem Bürgerrat für Ernährung: Viele Bürger:innen beklagen den »Label-Dschungel«. Die Tatsache, dass jedes Unternehmen eigene Kennzeichen erfinden könne, mache es unmöglich zu verstehen, ob ein Produkt gesund oder klimafreundlich sei, oder ob es sich lediglich um »Greenwashing« handele.
Soll man Unternehmen also verbieten, eigene Label zu erfinden? Dieser Vorschlag fand nicht viele Unterstützer:innen. Am Ende schaffte es ein alternativer Vorschlag in die Empfehlungen: Ein einheitliches, wissenschaftlich geprüftes und staatliches Label solle auf der Vorderseite von Verpackungen zu sehen sein. Alle anderen (privaten) Labels hätten hingegen nur auf der Rückseite Platz.
Viele Wortmeldungen erweckten den Eindruck, dass die Teilnehmenden Wandel eher in der Verantwortung des Individuums sehen und weniger als Aufgabe staatlicher Regulierung. Meine Kolleg:innen Katharina Wiegmann und Felix Austen haben zu diesem Thema ein Streitgespräch geführt:
Dass sowohl etwas auf der systemischen als auch auf der individuellen Ebene passieren muss, ist klar. Doch wer sollte den Anfang machen, wo liegt der größere Hebel? Teile uns deine Meinung mit.
Lektion 2: Bürgerräte können die Demokratie retten
Ok, zugegeben: Bürgerräte sind kein Allheilmittel gegen Vertrauensverlust in die Demokratie. Doch über die Zeit habe ich erlebt, wie Menschen dank ihrer Beteiligung am Bürgerrat politisch »wiederbelebt« wurden.
Einmal kamen Vertreter:innen von vergangenen Bürgerräten zu Besuch, um dem Bürgerrat für Ernährung von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie hatten sich zum »Stammtisch ehemaliger Bürgerräte« zusammengeschlossen, um sich für weitere Experimente dieser Art in Deutschland einzusetzen. Eine Vertreterin erklärte: »Für mich war es eine Rettung aus der Politikverdrossenheit. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass Demokratie sich weiterentwickeln kann, um die Kluft zwischen Politik und Volk zu verringern.«
Bürgerräte vermitteln ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Das zeigten mir auch die Reaktionen der Mitglieder des Bürgerrats für Ernährung. Sie reichten von »Die Demokratie lebt!« bis zu »Unsere Stimmen haben Gewicht«.
Wer an einem Bürgerrat teilnimmt, versteht anschließend auch besser, warum Politik manchmal nur in kleinen Schritten vorankommt. So sagte eine Teilnehmerin während einer Bürgerratssitzung im Plenum: »Ich habe gelernt, dass es in einer Demokratie nicht immer leicht ist, die eigene Position durchzusetzen. Daher respektiere ich die Politiker jetzt, die am Ball bleiben und immer wieder versuchen, die Welt besser zu machen.«
Direkte Demokratie wirkt sich aber nicht nur auf diejenigen positiv aus, die mitmachen: Es kann auch das zivile Engagement über den Bürgerrat hinaus fördern. Etwa dann, wenn die zufällig ausgelosten Bürgerräte ihre Erfahrungen mit Familie, Kolleg:innen und Freund:innen teilen, um ein anderes Bild von Politik zu zeichnen. Oder wenn sie bei der nächsten Familienfeier der ewig meckernden Tante mit ihrer Erfahrung begegnen.
Lektion 3: Über den eigenen Tellerrand zu blicken, fällt schwer
Die meisten können und wollen Politik mitgestalten, so viel ist klar. Doch in vielen Fällen argumentieren Menschen aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus. Das ist einerseits gut und genauso gewollt, denn beim Bürgerrat geht es darum, die Perspektive der Menschen und unterschiedliche Lebensrealitäten miteinzubeziehen. Gleichzeitig führt es dazu, dass wichtige – aber komplexe – Zusammenhänge in den Hintergrund rücken; dazu, dass die Hebel, die einen systemischen Wandel herbeiführen könnten, kaum bedient werden.
So wird viel über Label auf Produktverpackungen gesprochen, denn ihnen begegnen wir täglich beim Einkaufen. Oder darüber, wie erreicht werden könnte, dass Kinder weniger Zucker konsumieren – ebenfalls ein Thema, das viele Familien im Alltag beschäftigt.
Mit welchen Maßnahmen wir aber den CO2-Ausstoß reduzieren, den unsere Art der Ernährung verursacht, oder wie wir die
Meine Erkenntnis: Bürgerräte können ein Baustein sein, wenn es darum geht, Politik zu machen. Aber es braucht eben doch Institutionen, die Veränderungen auf der systemischen Ebene herbeiführen (oder es zumindest versuchen).
Lektion 4: Die Bevölkerung ist weniger gespalten, als viele glauben
Meine Meinung zur deutschen Debattenkultur hat sich bis vor Kurzem aus den sozialen Medien gespeist. Ich hatte mich daher auf scharfe Wortgefechte und emotionale Ausbrüche eingestellt, wenn Bürger:innen in einem kleinen Raum darüber beraten, wie viel ein Schnitzel in Zukunft kosten soll.
Umso überraschter war ich über die Sachlichkeit und Ruhe, die in den meisten Diskussion herrschte.
Selbst über die Ziele waren sich die meisten einig, wenn es auch Unterschiede bei den Vorstellungen dazu gab, wie diese zu erreichen sind. Wer einmal nicht einverstanden war, teilte sich ohne Hassparolen mit. Fast immer konnten sich die Bürger:innen zu Kompromissen in der konkreten Formulierung durchringen.
Das einzige Thema, das die Gruppe spaltete: Zuckersteuer – ja oder nein?! Am Ende stimmte die Versammlung dagegen, entschied sich aber für eine andere Empfehlung:
Zucker soll als Luxusgut behandelt und so mit 19% statt wie bisher mit 7% besteuert werden. Dafür sollen Gemüse oder Hülsenfrüchte
Lektion 5: Bürgerräte sind für die Politik, was Perspective Daily für die Medienlandschaft ist
In einer Demokratie geht es nicht nur darum, Lösungen für Probleme zu finden.
Demgegenüber stehen Bürgerräte. Sie sind darauf ausgerichtet, Maßnahmen zu formulieren. Politische Machtspielchen gibt es keine. Somit sind Bürgerrät:innen oft lösungsorientierter als manche Politiker:innen.
Wie konstruktiv das Format ist, zeigte sich darin, dass Bürger:innen nicht nur Forderungen stellten, sondern auch Vorschläge machten, wie man diese umsetzen und woher man das Geld dafür nehmen könnte. Unterschiedliche Perspektiven wurden mitgedacht, etwa finanziell schwache Haushalte oder die Landwirtschaft. Es wurde überlegt, wie potenzielle Belastungen, die aus einer bestimmten Maßnahme entstehen, für diese Gruppen abgefedert werden könnten.
Am Ende war davon sogar die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überrascht, wie sie in ihrer Abschlussrede betonte: »Gefordert wird viel. Aber dass auch die Finanzierung dafür mitgedacht wird – das passiert selbst im Bundestag selten.«
Wie geht es jetzt weiter? Die Empfehlungen des Bürgerrats sind nicht bindend, das heißt, die Abgeordneten müssen nicht zwingend Gesetze daraus machen. Sie wollen aber darüber beraten. Am Ende stehen die Chancen gut, dass manch eine Forderung doch umgesetzt wird. Schließlich war es das Parlament selbst, das die Bürger:innen um Rat gebeten hat.
Hinweis aus der Redaktion: Am 22. Januar wurde nach kritischer Rückmeldung einiger Mitglieder der Begriff »sozial schwache« Haushalte zu »finanziell schwach« geändert.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily