Warum wir uns die falschen Sorgen um Polen machen
Ist die Justizreform das Todesurteil für die Demokratie? Wenn wir den Erfolg der PiS-Regierung verstehen wollen, gibt es wichtigere Fragen.
Von wegen Sommerloch! Europa beschäftigt sich in diesen Tagen mit der polnischen Demokratie. Von Brüssel über Berlin bis Warschau halten Menschen Mahnwachen. Bilder, die mit den Hashtags #PulseforPoland und #PolandDefendsDemocracy über Twitter verbreitet werden, zeigen Demonstranten, die in Frankfurt unter polnischen Flaggen die »Ode an die Freude« singen, vor der polnischen Botschaft in Brüssel Grablichter niederlegen oder direkt vor dem polnischen Senat fordern, der Präsident möge doch bitte eingreifen. Und nicht nur die Zivilgesellschaft protestiert:
Der Auslöser: eine polnische Justizreform, die nicht nur die Stellung des Verfassungsgerichts neu definiert, sondern die komplette Judikative unter die Kontrolle der Regierungspartei PiS stellt. Dass dagegen protestiert wird, ist gut so. Schließlich geht es nicht nur darum, sondern wirklich um die Zukunft der polnischen – und damit auch der europäischen –
Im Zentrum der Kritik steht die rechtskonservative polnische Regierungspartei PiS (»Prawo i Sprawiedliwość«, deutsch: »Recht und Gerechtigkeit«) mit ihrem Vorsitzenden und Regierungschefin Beata Szydło.

Tatsächlich sind die Reformen seit dem Regierungswechsel im Jahr 2015 besorgniserregend:
- Eine Reform des Mediengesetzes aus dem Jahr 2016 erlaubt es der Regierung, über die Besetzung von Leitungsposten bei öffentlich-rechtlichen Medien zu entscheiden. Reporter ohne Grenzen listet Polen im Jahr 2017 auf der Rangliste der Pressefreiheit nur noch auf – im Vergleich zu ein rapider Abstieg.
- Die Justizreform begann bereits im Dezember 2015 mit der »Neuordnung« des Verfassungsgerichts. Seitdem müssen die Richter statt einer einfachen mit einer 2/3-Mehrheit für eine Entscheidung stimmen sowie Fälle chronologisch nach ihrem Eingangsdatum bearbeiten.
Die PiS ließ im November 2015 außerdem die Wahl von 5 Richtern für ungültig erklären und besetzte die Posten neu. Schon damals gab es Massenproteste. Das aktuelle Reformpaket gibt dem Justizminister nun das Recht, Gerichtspräsidenten an allen Gerichten des Landes – einschließlich der Berufungsgerichte – zu ernennen oder zu entlassen.
Für Szydło und Kaczyński hat Das alles ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass ihre PiS wieder die im dem polnischen Abgeordnetenhaus, erhalten würde, Wenn die PiS wirklich und Polen auf dem Weg zum autoritären Staat ist – warum ist die Partei so erfolgreich?
Dank PiS mehr im Portemonnaie

- Viele Familien haben mehr Złoty im Portemonnaie, seitdem die PiS regiert. Ab dem zweiten Kind erhält jede Familie umgerechnet ca. 115 Euro monatlich, besonders einkommensschwache Eltern bekommen den auch dann, wenn sie nur ein Kind haben. Bei einem Durchschnitts-Bruttolohn von knapp unter 1.000 Euro – und noch niedrigeren Gehältern auf dem Land – ist das viel Geld.
- Auch andere Wahlversprechen hat die PiS gehalten: Eine Regelung aus dem Jahr 2012 sah vor, das Rentenalter von Männern und Frauen schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Im November 2016 legte das Parlament mit einem Beschluss den Rückwärtsgang ein und für Frauen auf 60 Jahre, Männer können sich mit 65 Jahren über den gesetzlichen Ruhestand freuen. Darüber hinaus führte die PiS ein.
- Die konservative PiS kann auf die Unterstützung der katholischen Kirche bauen. Rund 90% der Bevölkerung sind römisch-katholisch;
kommentierte Ministerpräsidentin Szydło das Regierungsprogramm.
Im Gegensatz dazu haben sich die Versprechen der liberalen Vorgängerregierungen Das Konzept der Partei spricht diejenigen an, die sich als Verlierer der ökonomischen Transformation seit dem Jahr 1989 begreifen, die man selbst in der Fachliteratur nennt.
Warum es trotzdem Massenproteste gibt
Trotz erfüllter Versprechen gingen in den letzten Tagen, Wochen und Monaten erstaunlich viele Menschen gegen die PiS-Politik auf die Straße – erstaunlich deshalb, weil das Thema Justizreform von der Lebensrealität der meisten Demonstranten weit entfernt sein dürfte. Für die Demokratie ist es deshalb ein gutes Zeichen, dass Menschen vor dem Parlament campieren, gegen die aufgebauten Absperrungen trommeln und lautstark fordern, Präsident Andrzej Duda möge sein Veto einlegen.
Die Änderungen müssen so erfolgen, dass Gesellschaft und Staat nicht gespalten werden.
Am 24. Juli nahmen die Ereignisse nach Tagen des Protests eine unerwartete Wende: Präsident »Die Änderungen müssen so erfolgen, dass Gesellschaft und Staat nicht gespalten werden«, sagte Duda in einer Pressekonferenz. Damit stellte er die Justizreform nicht grundsätzlich infrage, machte Kritikern und Demonstrierenden auf Polens Straßen aber gleichzeitig Zugeständnisse und Hoffnung.
Gespalten ist auch die Gesellschaft selbst. Längst nicht alle lassen sich von den Wahlgeschenken der PiS beeindrucken und stemmen sich gegen die nationalistisch-konservative Regierung, und Frauen Abtreibungen am liebsten komplett verbieten will.
Wer sind die derzeit einflussreichsten Kritiker der PiS – und wofür stehen sie?
- Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (»Komitet Obrony Demokracji«, KOD) stellt sich in die Tradition des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, KOR, eine polnische Bürgerrechtsbewegung im Staatssozialismus. Bei KOR engagierte sich in den 1970er-Jahren auch der Autor, Alpinist und Kung-Fu-Lehrer Krzysztof Łoziński. Seitdem haben sich auch viele junge Leute dem KOD angeschlossen, die mit englischsprachigen Twitter- und Facebook-Accounts Brücken zur europäischen Öffentlichkeit schlagen.
- Ohne ihn geht in Polen nichts, er hat die polnische Demokratie quasi erfunden. Eine solche Selbsteinschätzung traut man dem Tatsächlich ist es aber innen- wie außenpolitisch ein starkes Symbol, wenn sich der ehemalige Gewerkschaftler öffentlich dem Protest anschließt und bei einer Großkundgebung in seiner Heimatstadt Danzig gegen die PiS wettert.
- Während die ehemaligen Dissidenten Łoziński und Wałęsa für den demokratischen Wandel der letzten 30 Jahre stehen, geht gerade auch eine jüngere Generation für die Zukunft Polens auf die Straße. gegen ein neues Abtreibungsgesetz im vergangenen Jahr gezeigt, dass sie mobilisieren können. Sie wünschen sich ein progressiveres Polen, das die Rechte von Arbeitnehmern, männlichen wie weiblichen, ebenso schützt wie die von Frauen, Migranten und sexuellen Minderheiten. Diese Ziele teilen natürlich nicht alle, die gegen die PiS-Politik protestieren. Die Zivilgesellschaft, die sich gerade in bemerkenswert beharrlichen Demonstrationen manifestiert, vereint westlich orientierte urbane Bildungseliten mit denen, die sich noch gut an die Zeiten der Unfreiheit erinnern.
Wie geht es weiter mit Polen und der EU?
Eine unabhängige Justiz ist eine wesentliche Voraussetzung für die Unionsmitgliedschaft. Daher kann die EU keine Rechtsordnung akzeptieren, die die willkürliche Entlassung von Richtern ermöglicht. Unabhängige Gerichte sind die Basis des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Justizsystemen.
Die Wertedebatte der EU, die seit dem Jahr 2015 nicht nur durch die Reformen der PiS, sondern auch durch in Ungarn befeuert wird, hat im Juli 2017 einen neuen Höhepunkt erreicht. Polen solle seine Justizreform innerhalb eines Monats überarbeiten, Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski verbat sich in einem die Einmischung der EU-Kommission in den »noch nicht abgeschlossenen Prozess«.
Ungarn hat zwar sein Veto gegen ein Artikel-7-Verfahren gegen Polen angekündigt. Sollte die Kommission aber gleichzeitig gegen Polen und Ungarn vorgehen, bliebe Orbáns Solidaritätsbekundung für die PiS wirkungslos.
Ist Polen in Brüssel nun komplett isoliert? Davon kann keine Rede sein. Der ehemalige Regierungschef bildet als Präsident des Europäischen Rates eine Art außerparlamentarische Opposition zur PiS in Brüssel. Er steht für ein Polen, das sich schneller in der Arena der europäischen Politik zu behaupten schien als die anderen Länder der Beitrittsrunden in den Jahren 2004 und 2007. Ein Polen, das als »Musterschüler unter den östlichen Beitrittsländern« gelobt und schon als gehandelt wurde. Die PiS versuchte, Tusks Wiederwahl im März 2017 mit allen Mitteln zu verhindern. Ihr Argument: Tusk mische sich in die polnische Innenpolitik ein. Dass der ehemalige Regierungschef Reichweite und Einfluss tatsächlich für öffentliche Kritik nutzt, zeigen Statements wie dieses:
Gestern habe ich Präsident Andrzej Duda um ein Treffen gebeten, bei dem wir die politische Krise in Polen und ihre gefährlichen Konsequenzen für unser Land im internationalen Rahmen besprechen können. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, ein Worst-Case-Szenario zu verhindern, das zur Marginalisierung Polens in Europa führen könnte. Die Situation ist ernst. Deshalb brauchen wir ernsthafte Maßnahmen und ernsthafte Partner. Geben Sie Ihr Bestes, Herr Präsident!
Und auch wenn der erbitterte Schlagabtausch zwischen PiS und EU-Offiziellen anderes vermuten lässt: Die polnische Gesellschaft sieht ihren Platz mehr denn je in der Union. konstatierte im November 2016 ganze 77% Zustimmung zur Mitgliedschaft Polens in der Union – mehr als in Deutschland oder Frankreich.

Dass die Bürgerinnen und Bürger die PiS trotzdem an die Macht wählten, zeigt, dass die wirtschaftsliberalen Vorgängerregierungen in den Augen vieler Menschen nicht »geliefert« haben. Der Aufstieg der PiS kann aber auch als Symptom einer gesamteuropäischen Krise linker Parteien verstanden werden. Die sozialpolitischen Lücken in ihren Programmen werden zunehmend von rechtspopulistischen Parteien gefüllt.
Dass Massenproteste gegen die PiS in Polen nun innerhalb eines Jahres wirken und Präsident Duda die Justizreform zumindest in Teilen blockierte, ist deshalb ein besonders gutes Zeichen für die Demokratie. Wie hoch sind die Löhne in Polen? Kann man vom Durchschnittsgehalt eine Familie ernähren? Gibt es genug Ärzte, und sind die Medikamente bezahlbar? Diese Fragen müssen sich auch EU-Kommissionsbeamte und deutsche Kommentatoren stellen, wenn sie das Ende der Demokratie fürchten.
Denn Polen ist mehr als die PiS.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily