Ich sehne mich nach Anstand und Tugend! Bin ich jetzt ein Konservativer?
»Eine neue Ritterlichkeit« fordert Alexander Graf von Schönburg und wird dafür von rechts gefeiert. Ich feiere mit.
»Nehmen Sie das hier, das ist interessant«, sagt mein Buchhändler mit einem Nicken und drückt mir Die Kunst des lässigen Anstands in die Hand.
Nicht schon wieder was von dem, denke ich. Denn der Autor ist Alexander von Schönburg, konservativer Christ, deutscher Adel, ein selbsternannter »Bewahrer alter Tradition« und ausgerechnet in der Chefredaktion der BILD-Zeitung – in der Summe also niemand, dem ich 360 Seiten lang dabei folgen will, wie er seine verstaubte Ritterlichkeit wiederentdeckt.
Doch nach der ersten Leseprobe ertappe ich mich dabei, wie ich bei vielen Zeilen zustimmend nicke. Anstand, Werte, Moral, Tugenden – das klingt zwar veraltet, aber auch ganz gut in einer Zeit von politischen Partisanenkämpfen und
Wofür von Schönburg mit seinem Buch angetreten ist, ist tatsächlich nobel: Er will mit 27 Tugenden ein moralisches Koordinatensystem aufzeigen, an dem wir alle uns festhalten können,
»Die Tugenden – eine Gebrauchsanweisung«
Viele suchen außergewöhnliche Herausforderungen, um sich als gute Menschen zu beweisen, dabei befinden sich die Herausforderungen in unserem direkten Umfeld, in unserem Alltag.
Um die Herausforderungen des Alltags zu meistern, stellt von Schönburg handverlesene Tugenden für die heutige Zeit vor, mit denen der Leser an sich arbeiten soll. Da wären etwa:
- Klugheit und die Bereitschaft, dazuzulernen und über den eigenen Tellerrand zu blicken.
- Aufrichtigkeit als Übung der Selbstreflektion über die eigenen kleinen Schwindeleien, die wir uns durchgehen lassen.
- Fleiß für die Optimierung der eigenen Tagesabläufe und das
- Treue als wichtigste Zutat für jede stabile Beziehung, Liebe oder Freundschaft.
- Dekorum (Würde) als eine ausgestrahlte, lässige Eleganz und Lockerheit in jeder Lebenslage.
In der Summe wirken sie wie eine Mischung aus den 10 Geboten, griechischer Philosophie und modernem Glücklichkeitsratgeber. Immer wieder beschwört Schönburg dabei Fürsprecher eines tugendhafteren Lebens: Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Schönburgs eigenen Onkel Rudolf und nicht nur einmal die Bibel. Das ist durchaus unterhaltsam und eine Fundgrube lässiger Zitate – lässt aber bei genauerem Blick doch viele Fragen offen.
Wer relevante Informationen ausblendet, wer ohne rechts und links zu schauen durchs Leben geht, handelt […] dumm.
Wie hängen Tugenden und Anstand zusammen? Kann ich mir meine Tugenden aussuchen?
Auf der Suche nach Antworten wende ich mich an einen echten Philosophen. Tim Henning lehrt an der Universität Stuttgart Praktische Philosophie und hält Vorlesungen von Aristoteles bis Marx. Er klärt erst einmal die Begriffe:
- Anstand ist das Mindestmaß, das wir als Gesellschaft in Bezug auf Moral an unsere Mitmenschen anlegen. Wer nicht immer klug, maßvoll oder mutig handelt, ist nicht unanständig, wer den Wert anderer mit Füßen tritt aber schon. »Wer nicht anständig ist, hat definitiv etwas falsch gemacht«, meint Tim Henning. Anstand allein reicht also nur für ein gesellschaftlich akzeptables, aber noch nicht für ein gutes Leben.
- Tugenden sind bewundernswerte Charakterzüge, mit denen Menschen Situationen richtig verstehen und gewichten können. »Schon bei Sokrates traten Tugenden nur im Rudel auf«, erklärt Henning. Ein mutiger Mensch ist nur dann richtig mutig, wenn er die anderen Tugenden mitbedenkt. Ohne Klugheit und Maß etwa wäre er
»Aristoteles würde sagen,
Ein tugendhafter Mensch zu werden ist also eine Lebensaufgabe. Dem würde wohl auch von Schönburg nicht widersprechen.
Man muss die höchsten Ansprüche im Blick haben. Aber es geht nicht darum, sie zu erreichen.
Der adlige Literat hat aber einen Geheimtipp parat, der Lesern beim Erlernen der Tugenden helfen soll: sich in gute Gesellschaft begeben. Welche er damit meint, wird im Buch schnell klar: »Menschen, zu denen man aufschauen kann, die einen überragen.« Moderner Adel eben. Ich rolle mit den Augen bei der Lektüre. Böse gefragt: Hat etwa der Pöbel die Manieren wieder vom Adel zu lernen? Und warum glauben Konservative, es sei ihre Aufgabe, die Tugenden für alle zu entwerfen?
Deshalb gehört das gute Leben nicht allein den Konservativen
Nicht jede Generation kann sich einfach neue Wahrheiten backen – man findet Wahrheiten vor.
Aus der Perspektive von Alexander von Schönburg ist seine Tugendlehre heute dringend nötig. Denn er schreibt auch gegen eine »linke Kulturrevolution« an, der angeblich nichts mehr heilig sei und die alle Werte und Traditionen bekämpfe. Kein Wunder, dass er dafür
Das Problem ist, da ist etwas dran – sagt der Philosoph Tim Henning: »Wenn in unserer Gesellschaft über Moral geredet wird, dann herrscht oft ein gewisser
Doch alte Tugenden als Rettung für eine aus dem Ruder laufende Gesellschaft – das will Tim Henning so nicht stehen lassen: »Wenn Sie irgendjemandem ein Fahrrad klauen oder es um die Frage geht, ob jemand fair behandelt wurde, dann erweist sich oft, dass wir alle noch einen intakten moralischen Kompass haben. Und wenn wir weniger verstaubtes Vokabular verwenden, merken die Leute schnell: Sie finden diese alten Werte immer noch sehr wichtig.«
Ob alle Tugenden also nun konservativ sind, entpuppt sich als Fachsimpelei über Begrifflichkeiten, hinter denen – rechts wie links – oft dieselben Werte stehen. Den Unterschied sieht der Philosoph vor allem darin, dass »linke Kräfte oft auf moralische Vokabeln verzichten«. Dabei stünden diese auch den progressiveren Kräften gut, um klarer zu machen, was sie eigentlich umtreibt. »Es gibt heute tatsächlich diese legitime Sehnsucht nach klaren Wertvorstellungen.« – Tim Henning, Philosoph
Für von Schönburgs Projekt hat der Philosoph Tim Henning daher große Sympathie übrig: »Es gibt heute tatsächlich diese legitime Sehnsucht nach klaren Wertvorstellungen. Und weil sie die nicht ausreichend in der Öffentlichkeit finden, schließen sich manche in unserer Gesellschaft ja radikalen Strömungen oder Sekten an.«
Mehr über Tugenden zu sprechen,
Und das führt direkt zur wichtigsten, ja heilsamsten Tugend für unsere heutige Zeit.
Die wichtigste Tugend für das 21. Jahrhundert ist …
Irgendetwas mit Gender, dann noch eine Frage, in der das Reizwort ›Immigration‹ fällt, schon ist Ihre Position im Partisanenkrieg der Meinungen klar.
Links oder rechts, progressiv oder konservativ, gläubig oder atheistisch, kapitalistisch oder sozial, Veganer oder Fleischesser, Trump gegen der Rest der Welt – heute gibt es eine Vielzahl von verfeindeten Perspektiven, zwischen denen häufig Spott und Hass regieren,
Dabei hilft vor allem eines: Toleranz.
Mit ihr könnten wir wieder neugierig auf die »andere Seite« werden und ihre Argumente für uns abwägen. Auch Alexander von Schönburg setzt für einen lebhaften Austausch auf Toleranz – und trifft damit den Kern dieser häufig missverstandenen Tugend.
- Toleranz heißt nicht, jede Anfeindung mit einem Lächeln wegzustecken, seine eigenen Ansichten anzupassen und immer nur Verständnis zu zeigen. Wer alles unkritisch toleriert, verliert nur die eigenen Werte.
- Toleranz heißt auch, eine klare Meinung zu zeigen und zu verkünden – ohne andere Tugenden wie Höflichkeit, Geduld, Weltoffenheit und Mitgefühl auszublenden.
»Echte« Toleranz erfordert
Sich in Toleranz zu üben ist schwer, aber es lohnt sich. »Toleranz ist zu sagen: Du machst etwas falsch. Und trotzdem solltest du das dürfen.« – Tim Henning, Philosoph
Das weiß ich genau, denn sie gilt auch für mich und Die Kunst des lässigen Anstands. Hätte ich mich nämlich von der durchklingenden Adelsattitüde oder den Seitenhieben auf LGBTQI-Aktivisten und linke Politik abschrecken lassen, hätte ich eine interessante moderne Tugendlehre verpasst, die mich sicher noch Wochen beschäftigen wird.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily