So kannst du den Regenwald hautnah erleben, ohne dein Wohnzimmer zu verlassen
Diese Frau hat hart dafür gekämpft, die erste Schamanin ihres Stammes zu werden. Sie nimmt dich mit auf ihre abenteuerliche 3D-Reise durch den Amazonas – Rausch inklusive.
Zwischen den Premierengästen in langen Roben und seidenen Anzügen im Kino sticht Hushahu sofort heraus. Die obere Hälfte ihres Gesichts ist rot angemalt und ihr Haar ist mit mehreren großen Federn geschmückt. Draußen, vor dem roten Teppich, blitzen Hunderte Kameras. Die Fans kreischen ohrenbetäubend, als sie sehen, dass auch Hollywood-Megastar Cate Blanchett zur Weltpremiere von Alfonso Cuaróns neuem Film »Roma« gekommen ist.
Hushahu kennt Cate Blanchett nicht. Sie läuft über den roten Teppich der Filmfestspiele in Venedig, weil sie dort selbst eine Geschichte zu erzählen hat. Die Geschichte, wie sie Schamanin des indigenen Stammes der Yawanawa geworden ist – als erste Frau überhaupt. Ihr Film
»Du musst zu uns an den Amazonas kommen!«
Ein 100-jähriger Schamane liegt zusammengekauert auf einer Pritsche. Neben ihm steht seine Schülerin und flüstert ihm sanft ins Ohr. Dreht man den Kopf mit der VR-Brille nach rechts, links oder über die Schulter, sieht man überall riesige, saftig grüne Bäume. Man hört einzig das Zirpen des Regenwaldes.
Ein paar Tage nach diesen Aufnahmen in 360 Grad verstirbt der alte Schamane. »Ich habe ihn leider nicht mehr persönlich getroffen«, erzählt Lynette Wallworth. Sie ist als Regisseurin von »Awavena« dafür verantwortlich, dass Hushahu ihre Geschichte vor großem Publikum in Venedig erzählen kann. »Ich bin so froh, dass mein Filmteam ein paar Tage früher angereist ist. Tata ist so wichtig für Hushahu«, erzählt die Regisseurin über den toten Schamanen.
Begonnen hatte die Zusammenarbeit zwischen Wallworth und dem indigenen Stamm in Großbritannien. Die australische Virtual-Reality-Regisseurin und
»Nachdem er die VR-Brille abgenommen hatte«, erzählt die Filmemacherin, »sagte Tashka zu mir: ›Das können wir nutzen, Lynette. Du musst zu uns an den
Tashka wollte erzählen, wie die Yawanawa die Kultur ihres Stammes umkrempeln und es trotzdem schaffen, sie zu bewahren: Tata, der älteste Schamane der Yawanwa, hatte ein uraltes kulturelles Tabu gebrochen, indem er eine Frau zur Schamanin ausbildete.
15 Monate allein im Regenwald
Hushahu wusste schon früh, dass sie Schamanin werden wollte. Der Weg war jedoch verschlossen.
Der alte Schamane sah die Entschlossenheit der jungen Frau und entschied sich trotz großen Widerstandes dazu, ihr Lehrer zu werden – und damit seine spirituelle Autorität zu riskieren. Die damals 24-jährige Hushahu musste 15 Monate, meist ganz allein, im Regenwald bleiben, um eine tiefere Verbindung zum Wald und der spirituellen Welt aufzubauen. Ein Schamane müsse stark sein, sagt sie ernst.
Die Klippen und Untiefen ihrer Ausbildung im Wald bekomme ich hautnah zu spüren, als ich die VR-Brille aufsetze und der Film beginnt. Der Zuschauer läuft mit Hushahu durch den Regenwald, fällt in einen Fluss und sinkt unter Wasser. Währenddessen erzählt Hushahu mit ruhiger Stimme, wie viel Angst sie während dieser Zeit hatte. Das Bild verschwimmt und ich fühle,
Die Erlösung kommt in Gestalt eines blauen Schmetterlings, den man anfangs nur als keinen Punkt über der Wasseroberfläche sieht. Er führt den Zuschauer aus dem Wasser durch das tiefgrüne Dickicht ins Innere eines Baumstamms bis hoch in die Krone, wo
»Die Aufgabe eines Schamanen ist es, jedem zu helfen, der Hilfe benötigt.«
Alles wirkt phantastisch, was durchaus beabsichtigt ist. Hier verschwimmen Realität und Visionen der Schamanin. Der Zuschauer sieht, was Hushahu während ihrer psychedelischen
Nach Ende ihrer Ausbildung im Wald kehrt Hushahu für das endgültige Aufnahmeritual zu ihrem Stamm zurück und beginnt mit ihrem Dienst am Volk. »Die Aufgabe eines Schamanen ist es, jedem zu helfen, der Hilfe benötigt.
Ihre Pionierarbeit schlug noch größere Wellen. Wenn eine Frau Schamanin werden kann, warum sollte eine Frau nicht auch Stammesführerin werden können? In den vergangenen Jahren kamen in den 7 Dörfern der Yawanawa zu den männlichen Häuptlingen 7 weibliche Stammesführerinnen dazu – als Doppelspitze sozusagen.
»Für uns ist Stärke und Macht etwas ganz anderes!«
Der Führungsanspruch von Frauen ist ein sehr wichtiges Thema für Hushahu. Doch ihr geht es um noch mehr. Sie möchte, dass der
Im Interview, ein paar Tage nach ihrem Auftritt auf dem roten Teppich, sagt Hushahu, sie habe etwas herausgefunden: »Das hier, der rote Teppich, ist für die weißen Menschen ein Zeichen der Macht. Für uns ist Stärke und Macht etwas ganz anderes.« In ihrem Volk stehe der Wald im Zentrum von allem. Er ernähre nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Sie beschreibt, wie die Menschen in der Stadt nur von Gebäude zu Auto zu Gebäude wanderten, und dabei das Wichtigste verlernten, nämlich was die Natur uns geben kann. Auch die Stadt sei real, aber gleichzeitig sei sie es nicht, denn Gebäude und
Diese Erfahrung, den Kontakt mit der Seele des Waldes, rufen die Yawanawa mit Ayahuasca hervor,
Für den zweiten Teil des Films bekomme ich neben der Brille noch einen Computer-Rucksack aufgesetzt. Ich werde in einen kleinen Raum gebracht, in dem ich mich frei bewegen kann. Ein Mitarbeiter bleibt dabei, um sicherzugehen, dass ich nicht gegen eine Wand laufe, was natürlich trotzdem passiert. Glücklicherweise ist alles mit Stoff ausgekleidet. Ich bin zurück bei den Schmetterlingen. Rechts, links, oben, unten – überall flattern sie. Das Besondere an dem Film ist, dass man mit den Faltern interagieren kann. Ich laufe also herum und versuche die virtuellen Tierchen mit der Hand zu berühren, doch immer kurz bevor ich sie erreiche, fliegen sie galant davon. Sie reagieren auch auf rufen und pusten. Die Schmetterlinge wirken überraschend plastisch – die Technik hat in den letzten Jahren riesige Sprünge nach vorn gemacht.
Diesen Teil des Films hat Hushahu gemeinsam mit 3D-Entwicklern entworfen. Er soll dem Zuschauer zeigen, was die Schamanin während ihrer psychedelischen Visionen sieht.
Ersetzen VR-Brillen bald die Partydrogen?
Nach dem Absetzen der VR-Brille bin ich kurz orientierungslos. Es dauert eine Weile, bis man feststellt, dass man nicht mehr im Amazonas-Regenwald oder in einer von Hushahus Visionen ist. Das Gefühl ist ähnlich, wie wenn man an einem unerwarteten Ort aufwacht, zum Beispiel im Urlaub. »Ach ja, hier bin ich.« Während des Films sieht und hört man – anders als im Kino – nichts anderes als die Welt in der Brille, selbst wenn man den Kopf dreht.
Die virtuelle Realität ist ein mächtiges
Werden kleinere VR-Brillen die Massen erreichen?
Was bedeutet das für uns? Werden Leute in Berliner Clubs bald keine wahrnehmungserweiternden Drogen mehr einwerfen, sondern VR-Brillen aufsetzen? Wahrscheinlich nicht. Das Potenzial des Mediums ist jedoch in vielen anderen Bereichen riesig. Die Medizin, die Architektur und natürlich auch die Pornoindustrie haben es längst erkannt und bereits viel Geld in die Entwicklung von VR investiert. Facebook zahlte sagenhafte 2 Milliarden Dollar für die VR-Vorreiterfirma
Seit die Technologie vor ca. 3 Jahren mit ersten Brillen für die breite Öffentlichkeit erschwinglich wurde, blieb der Erfolg jedoch – nach einem kurzlebigen Hype – hinter den Erwartungen
Liz Rosenthal ist die Kuratorin der
»Ein Jahr technischer Entwicklung in VR kommt ca. 10–15 Jahren Entwicklung im klassischen Kino gleich. Wir bekommen fast wöchentlich öffentliche Bekanntmachungen von technischen Innovationen«, erzählt Rosenthal weiter.
Was bedeutet diese rasante Entwicklung für die Zukunft unseres Medienkonsums? Stehen wir vielleicht sogar vor etwas Größerem als einem neuen Medium? Wenn man nur mithilfe einer Brille im Amazonas herumlaufen und die psychedelischen Visionen einer Schamanin sehen kann, könnte es sich dann nicht sogar um ganz neue Realitäten handeln?
Mandy Rose forscht zu virtueller Realität an der University of West England in Bristol. Sie ist kein Fan des Worts »Revolution« in diesem Kontext. Sie sagt: »Wir fangen nicht das Wirkliche ein. Wir rahmen es nur, genau wie bei allen anderen Medien auch.«
Das Neue sei die Fähigkeit, den Körper miteinzubeziehen. »Das ist schon aufregend«, erzählt die Wissenschaftlerin. »Man kann die [virtuelle] Welt fühlen. So etwas ging vorher nicht.«
Gegenseitig voneinander lernen
Hushahu sieht in der Technologie die Möglichkeit, Menschen in anderen Ländern ihre Realität zu zeigen. Es ginge nicht darum, Komplimente einzusammeln, sondern um gegenseitiges Lernen und darum, wertvolles Wissen zu erhalten. »Nicht nur wir Ureinwohner verändern uns. Auch der Westen, die ganze Menschheit geht durch diesen Prozess«, erzählt die Schamanin.
Anfang des Jahres hatte Hushahu ihren Film »Awavena« schon auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos präsentiert. »Manchmal möchten wir uns vielleicht verstecken oder wegrennen vor diesen neuen Welten, aber das geht nicht«, erzählt die Schamanin ernst. »Wir alle müssen Teil dieser Veränderung sein, um nicht von ihr verschluckt zu werden.«
Dann verabschiedet sie sich, denn sie fliegt in wenigen Stunden noch in die Niederlande, bevor es zurück nach Brasilien geht, in den realen Amazonas-Regenwald.
Schau dir hier den einminütigen Trailer zu »Awavena« an.
Titelbild: Greg Downing - copyright