Was fehlt der EU zu einer lebendigen Demokratie? Vor allem eine europäische Öffentlichkeit mit allem, was dazugehört: Diskussionen, Streit, der Austausch von Ideen und Erfahrungen, gegenseitige Inspiration. Bisher findet all das vorwiegend auf nationaler Ebene statt. Die Europäer reden viel über-, aber wenig miteinander.
Der Politikberater Johannes Hillje hat eine Idee, wie diese Lücke zu schließen wäre: mit, auf und über eine Plattform Europa. Die soll mehr sein als ein europäisches Facebook, nämlich eine komplette digitale Infrastruktur für alle Europäerinnen und Europäer – mit Nachrichten, Unterhaltung, sozialen Netzwerken, Beteiligungsmöglichkeiten und Anwendungen, die den Nutzen der europäischen Integration erfahrbar machen, zum Beispiel bei der Jobsuche.
70 Tage vor der Europawahl habe ich Johannes Hillje in Berlin getroffen, um mit ihm über die Potenziale einer Plattform Europa zu sprechen.
Wie sollte ein europäischer Wahlkampf idealerweise aussehen?
Johannes Hillje:
In einem europaweiten Wahlkampf würden sich nicht nur die deutschen Parteien über Ideen für Europa streiten, sondern
Wir hätten einen Wahlkampf, der sich nicht nur auf die Nationen beschränken, sondern auf ganz Europa ausgedehnt würde.
Macron hat das in gewisser Weise geschafft, aber er musste den Umweg über 28 nationale Zeitungen gehen und hatte nicht ein zentrales europäisches Medium, über das er seinen Beitrag ausspielen konnte.
Was brauchen wir noch, damit die Bürgerinnen und Bürger sich im Wahlkampf eine informierte Meinung bilden können?
Johannes Hillje:
Kandidaten-Duelle auf europäischer Ebene sind ein Element des Wahlkampfs. Bei den letzten Europawahlen im Jahr 2014 hatten wir das erste TV-Duell zwischen den Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien. Das war ein Fortschritt für die Europawahlen – aber nicht besonders viele Leute haben das geschaut. Ein wesentlicher Grund war, dass sich die nationalen Rundfunkanstalten, die das ausgestrahlt haben, dagegen entschieden haben, dieses TV-Duell ins Hauptprogramm zu setzen; es lief dann zum Beispiel bei Phoenix oder auf dem BBC Parliament Channel, also in den Spartenkanälen.
Ein wirklich europäischer Wahlkampf müsste aber nicht nur ein TV-Duell, sondern einen ständigen Wettstreit zwischen Kandidierenden aus ganz Europa ermöglichen – nicht nur aus dem eigenen Land. Das hieße zum Beispiel auch, dass deutsche Bürger den Kandidaten der europäischen Sozialdemokraten für die EU-Kommissionspräsidentschaft, Frans Timmermanns, regelmäßig befragen können. Der sollte nicht nur in den Niederlanden zu sehen, sondern für alle Europäerinnen und Europäer ansprechbar sein.
Und natürlich sollten in den deutschen Medien genauso Kommentatoren aus Italien, Griechenland, Dänemark und Ungarn zu Wort kommen, um wirklich eine europäische Sicht auf Politik zu bekommen.
Wenn man sich die niedrige Wahlbeteiligung bei Europawahlen anschaut, kann man sich ja schon fragen: Wollen die Europäerinnen und Europäer überhaupt näher zusammenrücken?
Johannes Hillje:
Sie haben völlig recht: Das Interesse an europäischer Politik ist geringer als das an nationaler Politik. Aber mein Vorschlag ist ja, dass wir nicht allein einen politischen Kommunikationsraum in Europa schaffen, sondern eine Öffentlichkeit, die sämtlichen Bedürfnissen von öffentlicher und zwischenmenschlicher Kommunikation gerecht werden kann.
Man darf nicht den Fehler machen, eine europäische Öffentlichkeit nur im Sinne einer Nachrichtenöffentlichkeit zu denken. Damit erreicht man wieder nur die, die sowieso schon politisch interessiert und womöglich auch sehr europäisiert sind. Mein Vorschlag ist es, in einem europäischen Kommunikationsraum genauso und gleichberechtigt ein Unterhaltungsangebot zu machen.
Nicht alle Menschen interessieren sich für Politik. Aber breite Teile der Gesellschaft konsumieren zum Beispiel Netflix – dann könnten wir ja auf so einer Plattform auch ein europäisches Serienangebot machen, das eben nicht den American Way of Life abbildet, sondern einen European Way of Life.
Schon heute schauen die Deutschen gerne Krimis aus Skandinavien …
Johannes Hillje:
Es gibt eine Abbildung nationaler Vielfalt bei Kulturangeboten. Zusätzlich sollte man auch eine Abbildung europäischer Einheit anbieten – also so etwas wie ein House of Cards aus Brüssel, eine Realityshow über einen Interrail-Trip, eine europäische Kochserie … Europäisches Zusammenleben findet ja statt, es findet aber noch nicht wirklich eine Ausdrucksform in kulturellen und popkulturellen Angeboten. Das könnte so eine Plattform leisten.
Sie schreiben, dass Europa in einem Teufelskreis aus Konflikt, Nachrichten und Nationalismus steckt. Wie meinen Sie das?
Johannes Hillje:
Die Berichterstattung über Europa war in den letzten 10 Jahren vor allem eine Krisenberichterstattung. Das ist auch nicht verwunderlich, weil Europa mit der Eurokrise, der Migrationsthematik und dem Brexit verschiedene Krisen zu bewältigen hatte – und noch immer hat.
Krise hat einen Nachrichtenwert, deshalb wird darüber berichtet. Allerdings ist die Krisenberichterstattung über Europa dahingehend besonders, dass die Nationen, die Teil der Europäischen Union sind, im Krisenfall vor allem übereinander und nicht miteinander reden. Und dieses Übereinanderreden ist oft diskriminierend und abwertend. »Die Berichterstattung über Europa war in den letzten 10 Jahren vor allem eine Krisenberichterstattung«
Können Sie ein Beispiel nennen?
Johannes Hillje:
Im Diskurs über die Griechenlandkrise wurde in Deutschland von den »gierigen Griechen«, von den »Pleitegriechen« gesprochen –
Andersherum gab es in der griechischen Berichterstattung sehr negative Ausdrücke gegenüber Deutschland. Da fühlte man sich an das Dritte Reich erinnert und einem Spardiktat unterworfen. Auch da gab es eine Abwertung des anderen.
Das hat sich in der Migrationsdebatte ein Stück weit erneuert, da waren
Da gab es wieder einen doppelten Opferdiskurs: Die Deutschen fühlten sich als Opfer der mangelnden Solidarität der Visegrád-Staaten und als Versorgungsmeister für Flüchtlinge. Die Visegrád-Staaten fühlten sich, als bekämen sie von Deutschland Flüchtlinge aufgezwungen und als Opfer eines Moralisierungsmeisters Deutschland. Wieder wurde abwertend übereinander und nicht konstruktiv miteinander geredet.
Das Ergebnis in den Ländern, die in diesen beiden Krisen im Zentrum standen, ist, dass wir in der Bevölkerung eine zunehmende Verbundenheit mit der Nation sehen und eine abnehmende Verbundenheit mit der EU.
Wie kommen wir denn nun heraus aus dem Teufelskreis? Eine zentrale Hürde, die ich sehe, sind die unterschiedlichen Sprachen …
Johannes Hillje:
Ich glaube, die Sprache der europäischen Öffentlichkeit muss Übersetzung heißen. Wir können nicht erwarten, dass alle Bürgerinnen und Bürger in Europa eine einzige Sprache sprechen. Wir müssen in allen offiziellen europäischen Sprachen kommunizieren können.
»Die Sprache der europäischen Öffentlichkeit muss Übersetzung heißen«
KI kann schon heute in Echtzeit Übersetzungen zwischen Menschen leisten, die in unterschiedlichen Sprachen sprechen. Im Facebook Messenger gibt es in den USA die Möglichkeit, dass man zwischen Spanisch und Englisch live übersetzen lassen kann, während man chattet.
Europa sollte stark in diesen Bereich investieren, in KI generell, aber auch in Übersetzung mittels KI im Speziellen, damit das Problem der Sprachbarriere kleiner wird.
Genau da liegt wohl der Knackpunkt der Idee einer Plattform Europa: Sie wird ziemlich viel Geld kosten. Wie soll das finanziert werden?
Johannes Hillje:
Zum Beispiel
Die großen Digitalunternehmen sollten dazu gebracht werden, einen fairen Steuerbeitrag in Europa zu leisten. Darüber könnte man ungefähr 4 bis 5 Milliarden Euro im Jahr einnehmen – das würde schon erst mal eine recht komfortable finanzielle Ausstattung für diese Plattform bieten.
Angenommen, es klappt mit der Finanzierung: Wer soll die Plattform Europa denn umsetzen?
Johannes Hillje:
Mein Vorschlag ist, dass die Plattform Europa von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten getragen wird.
sitzen die europäischen Öffentlich-Rechtlichen schon heute an einem Tisch. Sie sind der richtige Akteur, eine solche Plattform umzusetzen, weil diese gemeinwohlorientiert sein muss.
Warum nicht ein privater Anbieter?
Johannes Hillje:
Private Plattformen dominieren das Netz, haben es aber nur ungenügend geschafft, einen demokratischen Diskurs im Netz zu ermöglichen. Demokratische Regeln haben dort eine untergeordnete Priorität. Erst mal geht es Facebook, Google und Co. darum, dass Menschen interagieren und auf diese Weise Daten produzieren, die von den Plattformen in Geld umgesetzt werden. Das ist
und kein Diskursmodell der Demokratie.
Das heißt aber auch, die Plattform Europa wäre wieder ein Projekt von oben. Wäre das nicht eher Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten? Ich ahne schon das Motto: »Lügenpresse – jetzt auch europaweit?«
Johannes Hillje:
Die potenziellen Nutzer sollten zuerst gefragt werden, was sie auf so einer Plattform an Mehrwert sehen möchten, damit sie diese Plattform auch nutzen. Das ist das Gegenteil von dem, wie die EU bisher konstruiert wurde, nämlich sehr stark von oben.
»Man kann nur Nutzer gewinnen, wenn man ihnen etwas bietet, das sie auf anderen Plattformen nicht bekommen«
Nehmen wir
Das war immer ein Elitenprojekt; man wollte das europäische CNN werden, hat aber nie hinterfragt, ob die europäischen Bürgerinnen und Bürger überhaupt auf einen europäischen Nachrichtensender warten. Haben sie offenbar nicht.
Deswegen möchte ich als ersten Schritt die europäischen Bürgerinnen und Bürger fragen, was so eine Plattform bieten sollte, damit sie sie nutzen.
Wir können uns ja zum Beispiel mal einen 17-jährigen Schüler in einer ländlichen Region in Brandenburg vorstellen … Was für ein Interesse könnte der haben, die Plattform Europa zu nutzen?
Johannes Hillje:
Ein großes Problem der EU heute ist, dass immer gesagt wird »Von Europa profitieren alle«, tatsächlich merken aber gar nicht alle, wie sie davon profitieren, oder sie tun es tatsächlich auch gar nicht. Ein 17-Jähriger könnte ja auf die Idee kommen, im Sommer einen Ferienjob in Portugal oder Spanien zu suchen. Er hätte heute keine wirkliche Anlaufstelle, wo er Jobs in diesen Ländern finden kann. Es gibt ein sehr schlechtes Jobportal der EU-Kommission, wo aber zum Beispiel Stellenausschreibungen in Schweden nur auf Schwedisch gelistet sind. So etwas wäre besser umsetzbar – zum Beispiel über eine Job-App, die Teil einer Plattform Europa werden könnte.
Wie soll die Plattform Europa gegen die »Big 5« Microsoft, Google, Apple, Facebook und Amazon ankommen?
Johannes Hillje:
Man sollte nicht einfach Youtube oder Facebook kopieren und das öffentlich finanzieren. Ich glaube, man kann nur Nutzer gewinnen, wenn man ihnen etwas bietet,
Das wäre ein europäisches Nachrichtenangebot, das wären politische Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der EU, das wären Unterhaltungs- und Kulturangebote im europäischen Sinne und das wären auch Apps, mit denen man Europa anwenden und die europäische Integration nutzen kann.
Dazu kommt: Eine öffentlich-rechtliche Plattform kann ganz anders mit Datenschutz umgehen als die privaten Plattformen. Daten wären nicht Teil des Geschäftsmodells, deswegen könnte man ein höheres Datenschutzniveau anbieten. Ich glaube, dass das zunehmend ein Faktor ist, der die Menschen umtreibt.
Haben Sie eigentlich bei den Öffentlich-Rechtlichen schon einmal angeklopft und Ihre Idee vorgestellt?
Johannes Hillje:
Es gibt Gespräche und es kommen auch Leute aktiv auf mich zu. Es gibt konkrete Überlegungen bei den Öffentlich-Rechtlichen selbst, deshalb ist die
Plattform Europa auch keine Utopie, sondern eine Idee, an deren Umsetzung schon gearbeitet wird. Die
Deutsche Welle will bald eine deutsch-französische Plattform einrichten, das ist dann zwar nicht ganz Europa, aber ein erster Schritt.
Die Öffentlich-Rechtlichen in Europa haben erkannt, dass sie, wenn sie im digitalen Raum bestehen wollen, sich dafür europäisch zusammenschließen müssen.
Ich höre bei Ihnen einen großen Grundoptimismus heraus in der Hinsicht, dass es so etwas wie eine europäische Identität jenseits nationaler Identitäten wirklich geben kann …
Johannes Hillje:
Die gibt es ja heute schon! Die Mehrheit der Europäer fühlt sich nicht allein als Franzose, Deutscher, Spanier oder Schwede. Die Mehrheit der Europäer fühlt sich als Bürger ihres Landes – und als Europäer. Und im Übrigen auch noch als Bürger ihrer Region. Bei Identitäten haben wir so etwas wie ein Zwiebelmodell mit verschiedenen Schichten. Diese Schichten sind lokal, national und auch europäisch.
Europa hat weniger ein Problem mit einem Zugehörigkeitsgefühl. Wir haben nur keinen öffentlichen Raum, wo die Menschen das Gefühl europäischer Bürgerschaft tatsächlich ausleben können. Diesen Raum möchte ich ihnen zur Verfügung stellen.