Vor uns die Sintflut
Unser Gastautor Eckhart von Hirschhausen sagt: Er und die restliche »Boomergeneration« hätten lange genug eine sorgenfreie Zeit gehabt. Jetzt müssten wir das Klima schützen und an nachfolgende Generationen denken.
Sommer war mal etwas, auf das man sich freute. Dieser Sommer ist anders. Erst die Hitzewellen, jetzt die Flutkatastrophe. Die Bilder der letzten Woche von Menschen, die mit den Wassermassen kämpfen, werden uns begleiten. Sie gehen nicht mehr aus dem Kopf. Wir haben die letzten Jahrzehnte nach dem Motto »Nach uns die Sintflut« gelebt. Jetzt ist sie da. Und damit auch die Frage nach dem Sinn. So wie es die Bilder aus Bergamo brauchte, damit wir in Deutschland die Bedrohung durch die Pandemie ernst nahmen, brauchte es vielleicht auch die Bilder der Flutkatastrophen, um uns klarzumachen: Die
Die Bilder kannten wir schon. Aus Bangladesch. Und mit einer gewissen Arroganz dachten wir: Na ja, wenn die Leute auch so wackelige Häuser bauen, kein Wunder, werden die zerstört. Und plötzlich trifft es uns mitten in Deutschland.
Mein Mitgefühl gilt allen, die in den letzten Tagen in den Grundfesten ihrer Existenz erschüttert wurden. Ich bin in die Eifel gefahren, weil eine sehr gute Freundin dort direkt an einem Bach wohnt. Sie musste nachts evakuiert werden. Zum Glück konnte sie mit ihren Tieren rechtzeitig gerettet werden, aber der Schock sitzt tief. Was mich dann sehr gerührt hat, waren Frauen und Männer aus dem Dorf, die freiwillig helfen kamen, das Chaos und die Folgen der Überschwemmung zu beseitigen. Diese Solidarität und Hilfsbereitschaft vor Ort haben mich sehr beeindruckt. Das ist die eine Seite.
Können wir in so einer Situation über Klimapolitik reden?
Aber: Hunderte Menschen sind gestorben. Tausende Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung wurden körperlich verletzt, seelisch traumatisiert oder durch die Extremwetterereignisse materiell um alles gebracht, was ihr Hab und Gut war. Können wir in so einer Situation über Klimapolitik reden? Ich finde: Wir müssen. Der Medizin wird oft vorgeworfen, nur die Symptome und nicht die Ursachen von Krankheiten zu behandeln. Die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit und Existenz von Menschen ist eine Katastrophe mit Ansage. Wenn die Überhitzung der Erde eindeutig durch unseren Raubbau an der Natur verursacht wird sowie durch das Verheizen der fossilen Ressourcen und die Vernichtung unserer Lebensgrundlage, können wir »Naturkatastrophen« nicht mehr unabhängig von unserem Verhalten und der Politik der letzten 30 Jahre betrachten.
So wichtig die akute Hilfestellung jetzt für alle Betroffenen ist, muss die Diagnose eines chronischen Versagens auf vielen Ebenen erlaubt, ja geboten sein. So wie der öffentliche Gesundheitsdienst über Jahrzehnte dezimiert wurde und uns in der Coronakrise massiv gefehlt hat,
Wir investieren Milliarden in Grundlagenforschung – dann fehlen uns Masken und Sirenen.
Wir investieren Milliarden in Grundlagenforschung – aber dann fehlen uns Masken und Sirenen. Dass die Grundlagen unserer Existenz keine hochspezialisierten Medikamente, sondern so basale Dinge sind wie Trinkwasser, etwas zu essen, saubere Luft, Seuchenschutz und für Menschen erträgliche Temperaturen, kam lange in der Politik nicht vor. Diese Verbindung wurde auch auf Regierungsebene nicht gesehen. Der Gesundheitsminister war nicht Teil des Klimakabinetts. Dabei sagen alle wissenschaftlichen Studien und Institutionen seit Jahren:

Gleichzeitig muss darüber diskutiert werden, an welchen Stellen die Landes- und Bundespolitik zu dieser Katastrophe aktiv beigetragen hat: durch Versiegelung von Flächen, eine hochsubventionierte industrielle Landwirtschaftspolitik, die Böden und Wäldern ihre Fähigkeit zur Wasserspeicherung raubt, und vor allem eine massive Verhinderung der Energiewende, auch gerade in NRW.
Wir haben Kräfte entfesselt, die wir nicht mehr verstehen.
Ich habe Angst. Ich habe Angst, dass Dinge, die wir Menschen mit verursacht haben, in ihren komplexen Auswirkungen unsere Vorstellungskraft und unser Handlungsvermögen übersteigen. Wie beim Zauberlehrling haben wir Kräfte entfesselt, die wir nicht mehr verstehen und eingefangen bekommen. Ich habe mich selbst schon oft gewundert, wieso wir Treibhausgase in Tonnen messen. Wie werden die denn gewogen, wenn die doch unsichtbar sind und magisch »schweben« oder nach oben abziehen?
Mein Freund Harald Lesch hat mir einen Satz hinter die Ohren geschrieben: »Naturgesetze sind nicht verhandelbar.« Salopp gesagt: Physik gilt für alle, egal ob wir sie verstehen oder nicht. Ja, CO2 ist für unser Auge unsichtbar – aber nicht für Wärmestrahlung. Ja, Feinstaub sehen wir nicht, aber er zerstört unsere Lunge, unser Hirn und sogar unsere Bauchspeicheldrüse. Luftverschmutzung ist weltweit die Killerin Nummer eins. Und hängt maßgeblich damit zusammen, woraus wir Energie gewinnen. Deshalb ist die Energiewende nicht nur eine Frage für Ingenieur:innen, sondern auch für Ärztinnen und Ärzte und alle Gesundheitsberufe.
Es ist nur eine hauchdünne Schicht, die uns vom lebensfeindlichen Universum schützt
Die Atmosphäre ist eben keine Dunstabzugshaube, die alle schlimmen Gerüche ins Nirwana verfrachtet – sie ist eine hauchdünne Schicht, im Verhältnis zur Erde dünner als die Haut von einem Apfel. Und sie bildet die entscheidende Barriere zwischen dem lebensfeindlichen Universum und dem einzigen bekannten Planeten mit Wasser und Sauerstoff, Kaffee, Sex und Schokolade. Besser wird es nicht. Nirgendwo. Noch nicht mal für Elon Musk oder Jeff Bezos. Kein Milliardär kann sich seine eigene Außentemperatur kaufen. Oder sich aus der Biologie freikaufen.
Warum endet jedes Fieberthermometer bei 41 Grad Celsius? Weil wir mehr Körpertemperatur schlichtweg nicht aushalten. Die Eiweißstoffe im Hirn gehen kaputt. So schwer uns das in den Kopf geht. Es gibt Dinge, die sind nicht mehr umkehrbar. Irreversibel. Das weiß jede:r, der:die schon mal ein Ei gekocht hat: Dass Proteine, die einmal ihre Form durch Überhitzung verändert haben, nicht mehr in die ursprüngliche Form zu bringen sind. Ein Ei wird bei über 40 Grad Celsius hart. Und auch wenn es wieder abkühlt, nicht wieder weich. Wir übersehen wirklich, wie sehr wir auch als Menschen biologische Wesen sind, mit einem sehr anfälligen und verletzlichen Körper. Es ist eine große Illusion, dass wir uns »gewöhnen« können an Hitze. Klar, im Urlaub, in der Sauna, im begrenzten Rahmen reguliert unser Schweiß, unser Kreislaufsystem das. Aber wir kommen sehr schnell an unsere Grenze. Erst recht, wenn Menschen Vorerkrankungen haben.
Deutschland ist unter den Top 3, wenn es um Hitzetote geht.
Deutschland ist unter den Top 3 der extrem von Hitzetoten betroffenen Ländern weltweit, weil wir eine Bevölkerung mit vielen älteren Menschen haben. Wie so oft, trifft es die Armen und Geschwächten zuerst. Deshalb empfinde ich es auch als zynisch, wenn man »soziale Fragen« aus dem Hut zaubert, um Klimaschutz, ehrliche Preise für Lebensmittel oder den Ausbau der Erneuerbaren zu verhindern. Die Klimakrise war und ist schon immer ungerecht, weil sie Menschen unterschiedlich hart trifft. In Deutschland.
Eine Generation, 2 Pandemien – es ist etwas aus dem Lot
Vor wenigen Wochen fand der weltweite AIDS-Kongress in Berlin statt, wo ich mit Anthony Fauci sprechen durfte, der mit über 80 Jahren immer noch der oberste Infektionsexperte der USA ist und der schon 7 Präsidenten überlebt hat. Fauci erinnerte daran, dass ziemlich genau vor 40 Jahren das HI-Virus entdeckt wurde, welches von Schimpansen auf den Menschen übertragen wurde. Die Übertragungen aus dem Tierreich – wie Ebola, Mers, Sars und aktuell Corona – werden immer heftiger und häufiger, weil wir den Lebensraum der Wildtiere brutal zerstören, die Tiere krank werden, und weil wir den Wildtierhandel nicht stoppen. So springen immer häufiger Erreger auf den Menschen über. Wir leben in historischen Zeiten. Dass eine Generation 2 Pandemien erlebt, ist ein Zeichen dafür, wie schwerwiegend die Dinge aus dem Lot sind.
In Deutschland gibt es bereits erste Fälle durch das »West-Nil-Virus«, wo schon der Name besagt, dass es eigentlich hier nicht hingehört. Wir schaffen gerade die Voraussetzungen, dass auch andere Erkrankungen, die wir als »Tropenkrankheiten« bezeichnet hatten, sich hierzulande ausbreiten können –
Lange konnten wir uns um die schönen Dinge im Leben kümmern – das ist jetzt vorbei
Über die letzten 10.000 Jahre war der CO2-Gehalt der Atmosphäre und damit unsere Gesamtwetterlage sehr stabil; und wir konnten uns um die schönen Dinge des Lebens kümmern. Unsere Zivilisation beruht darauf, dass wir Zeit hatten für Kunst, Wissenschaft und Demokratie, weil wir uns nicht ständig mit dem Notwendigsten beschäftigen mussten. Wenn all das, was uns heute beschäftigt, bereits bei 1,2 Grad Celsius Überhitzung gegenüber der vorindustriellen Zeit passiert, versteht man auch, dass jedes weitere 1/10-Grad Celsius weiteres Gefahrenpotenzial mit sich bringt. Und deshalb lohnt es sich, um jede Tonne CO2 zu kämpfen, die wir NICHT in die Atmosphäre verklappen. Es schweben schon genug Tonnen über uns. Alles, was wir dort oben »deponieren«, fällt uns buchstäblich auf die Füße. Wenn wir momentan an einem Tag etwa so viel fossile Energie freisetzen, wie Mutter Erde in 1.000 Jahren mühselig gebildet hat, braucht man kein Rechengenie zu sein, um zu verstehen: Das geht nicht lange gut.
Erst die Diagnose, dann die Therapie.
Als Arzt habe ich eine wichtige Reihenfolge gelernt. Erst die Diagnose stellen und dann über die Therapiemaßnahmen sprechen. Deshalb wundert es mich, dass wir immer noch in der Politik den zweiten Schritt vor dem ersten tun. »Reduktionsziele« – wird einem da irgendwie warm ums Herz? Macht das Lust, dabei zu sein? Das klingt wie »Reduktionskost«. An die halten wir uns ja auch nur, wenn uns die Ärztin oder der Arzt vorher gesagt haben, dass es keine Frage der Optik ist, sondern es um unser Leben geht. Ursula von der Leyen ist Ärztin. Ich wundere mich, warum sie bei all den richtigen und überfälligen Schritten des Green New Deals nicht einmal erwähnt, dass wir nicht »das Klima« retten müssen, sondern uns.
Aber vielleicht sind wir jetzt an dem »tipping point«, an dem Kipppunkt. Denn die gibt es nicht nur im Erdsystem, sondern auch in der Gesellschaft.
Wir müssen uns anstrengen, obwohl wir nicht direkt belohnt werden
Es häufen sich die Zeichen, dass endlich die Realitätsleugnung aufhört und die Diagnose in der Mitte der Gesellschaft ankommt: Wir sind in einer absolut bedrohlichen Lage. Und es wird auch die nächsten Jahrzehnte nicht besser, sondern schlechter. Wir müssen massiv umsteuern, investieren, umbauen und, und, und. Wie wir wohnen und heizen, wie wir essen, wie wir uns bewegen und wie wir globale Verantwortung übernehmen. Daraus resultiert der Frust, dass wir uns anstrengen müssen, ohne dafür direkt belohnt zu werden. Mit dem Stiftungsnetzwerk F20 hatte ich die Gelegenheit, mit dem EU-Kommissar Frans Timmermans zu sprechen. Er erinnerte an die großen Umbrüche und Fortschritte, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg machte, vor dem Hintergrund der
Wenn man

Diese Dinge können wir heute tun
Was kann jede:r heute tun? Die »Klassiker« Ökostrom, nachhaltige Geldanlage, wenig Fleisch, wenig Fliegen sind wichtig, aber noch entscheidender ist: Mund aufmachen. Sich engagieren. Sich schlau machen und den politischen Druck aufrechterhalten.
Die Europawahl war schon stark von den Klimafragen geprägt, umso mehr gilt das für den September. Das Thema gehört keiner einzelnen Partei, sondern ist im Kern auch »konservativ«. In den Klimafragen stecken die großen Themen der evangelischen und katholischen Kirche: Bewahrung der Schöpfung, Friede und Gerechtigkeit. Wenn man alle Mitglieder der christlichen Kirchen zusammenzählt, hätte man ja schon eine absolute Mehrheit! Durch die Abstimmung für die Bienen und die Artenvielfalt in Bayern wurde klar: Viele haben verstanden, dass es unsere oberste Priorität sein muss, nicht weiter unsere Lebensgrundlage zu zerstören. Wer jetzt noch ein »Weiter so« für einen gangbaren Weg hält, hat wirklich den Schuss nicht gehört.
Wir brauchen Politik, die auf die Wissenschaft hört.
Wir brauchen jetzt Politikerinnen und Politiker, die auf die Wissenschaft hören und bereit sind, auch unpopuläre, aber strategisch wichtige Dinge voranzubringen. Das Anliegen von »Scientists for Future« war ursprünglich sehr einfach. Zusammen mit 28.000 Wissenschaftler:innen haben wir eine Stellungnahme unterzeichnet, die den Jugendlichen in ihren Forderungen recht gibt. Was wir den »Fridays« wirklich verdanken, ist, dass sie das Thema in das öffentliche Bewusstsein und auf die Straße gebracht haben. Und dass sie die ganze Diskussion bei aller Brisanz mit Humor führen. Ich liebe die Plakate »Kurzstreckenflüge nur für Insekten«, »Wozu Bildung, wenn keiner auf die Wissenschaft hört?« oder »Klima ist wie Bier – zu warm ist scheiße«.
Eigentlich ist es gar nicht so kompliziert. Es reichen 5 Sätze, die hoffentlich alle, die bis hierhin gelesen haben, unterschreiben können:
Die Klimakrise ist echt und bedrohlich.
Sie ist menschengemacht.
Die Wissenschaft ist eindeutig.
Menschen können etwas ändern.
Es gibt noch Hoffnung.
Dieser Artikel ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.
Titelbild: Dominik Butzmann - copyright