Wer muss sich ändern: das System oder ich?
Muss ich fair und ethisch essen, shoppen und reisen? Oder vergessen wir beim Versuch, perfekte Konsument:innen zu werden, nicht etwas Wichtigeres: politisch aktiv zu sein? Daran scheiden sich die Geister – auch in der Perspective-Daily-Redaktion.
Es muss sich was ändern!
Ein einfacher Satz, bei dem sich wohl die allermeisten Menschen einig sind. Doch hier endet die Einigkeit auch schon. Denn nicht nur bei der Frage, was sich denn da genau ändern muss, gehen die Meinungen auseinander. Auch beim »Wie« gibt es unterschiedliche Ansätze. Muss ich bei mir selbst anfangen und in jeder Hinsicht ein Vorbild sein? Aufs Auto verzichten, wenn überhaupt nur ethisch und ökologisch konsumieren, mich sozial engagieren und nach Feierabend noch Müll am Straßenrand einsammeln?
Oder lenkt der Fokus auf das Selbst in Wahrheit vom eigentlichen Schlüssel zu einer besseren Welt ab: politisch aktiven Bürger:innen, die den Spielraum der Demokratie nutzen, um das System gerechter und besser machen?
Das ist die Frage, die immer wieder von Leser:innen unter unseren Texten diskutiert wird und bei der auch in der Redaktion unterschiedliche Ansichten herrschen. Zum Beispiel zwischen uns, Katharina und Felix. Deshalb haben wir ein Streitgespräch oder besser gesagt einen Streitchat darüber geführt, wer sich ändern muss: Ich oder das System?
Zum Streit ist es zwar nicht so richtig gekommen – dafür liegen wir doch zu nah beieinander. Aber entscheidet am besten selbst, ob die beiden Wege tatsächlich 2 unterschiedliche sind oder doch nur 2 Seiten derselben Medaille.
Katharina Wiegmann: Felix, du sitzt gerade vorbildlich im Zug. Ich bin vor ein paar Tagen aus dem Urlaub zurückgekommen. Ich war in der Türkei, an der Schwarzmeerküste. Und ich bin geflogen. Fliegst du eigentlich noch? Und findest du, ich müsste ein schlechtes Gewissen haben?
Felix Austen: Katharina, wie schön. Wir reisen ja oft
Nein, ich bin schon lange nicht mehr geflogen, finde es aber auch nicht verwerflich. Fliegen ist eines der Dinge, die für mich nicht so einfach zu ersetzen sind. Aber näher gelegene Orte, die ich früher mit dem Flugzeug angesteuert hätte (Spanien, Italien, Skandinavien), würde ich heute eher mit dem Zug erreichen. Slow Travel und so, da bin ich voll im Trend.
Katharina Wiegmann: Das mit dem Schwarzwald stimmt! Wir waren in Uzungöl, das ist ein kleiner Ort in der Provinz Trabzon, der sich an einen großen See schmiegt. Drumherum hohe Berge, dunkle Wälder. Und sehr viele Tourist:innen aus den Golfstaaten.
Katharina Wiegmann: Ich bin bei dir, dass das Fliegen bzw. das Reisen über weitere Strecken für mich eine Sache ist, auf die ich ungern verzichten würde. Ich habe einfach schon immer den Eindruck, dass ich dabei viel mitnehme, was wertvoll ist, und dass ich an fremden Orten etwas lerne, was ich im Schwarzwald vielleicht nicht lernen kann. Deshalb bin ich schon mal froh, dass du mir kein schlechtes Gewissen machst. Allgemein habe ich den Eindruck, dass diese Flugscham-Debatte, die ja vor einigen Jahren sehr ausgiebig geführt wurde –
(Ein bisschen begleitet mich das schlechte Gewissen übrigens immer, wenn ich einen Flug buche. Und was mir dieses Mal aufgefallen ist: Wenn der Flug 50–100 Euro teurer gewesen wäre, hätte ich mir wohl doch einen anderen Reiseplan ausgedacht …)
Felix Austen: Schönes Bild! Ich halte mal Ausschau nächste Woche, ob es am Titisee (im Schwarzwald) auch schon eine Moschee gibt!
Ich bin total bei dir: Das Reisen –
Aber du bist ja heute auch hier, um den Standpunkt zu vertreten, dass der persönliche Verzicht ohnehin gar nicht so viel bringt. Ein schlechtes Gewissen hast du trotzdem, wie du sagst. Woher kommt das?
Katharina Wiegmann: Ich bin nicht sicher, ob ich den Standpunkt vertrete, dass persönlicher Verzicht nicht viel bringt. Auf jeden Fall vertrete ich aber den Standpunkt, dass wir uns nicht primär auf individuelles Handeln fokussieren sollten, wenn wir darüber sprechen, wie wir es schaffen können, dass dieser Planet längerfristig bewohnbar bleibt.
Warum mich bei vielen kleineren und größeren Entscheidungen trotzdem ein schlechtes Gewissen begleitet, ist eine gute Frage. Ich glaube, da gibt es mehrere Ebenen. Zum einen bin ich absolut dafür, eigene Handlungsspielräume zu nutzen. Wenn ich schon die Möglichkeit habe, »gut« zu handeln, oder mich zumindest für eine »bessere«, nachhaltigere oder umweltfreundlichere Option zu entscheiden, dann geht damit für mich auch eine gewisse
Die andere Ebene ist ein bisschen komplizierter. Unser Mitglied Christoph hat uns in den Diskussionen zu Julianes und meinem
Felix Austen: Ich weiß genau, was du meinst. Wenn man »ich muss mich verändern« nur in »ich muss grüner und fairer shoppen« übersetzt, dann ist wenig gewonnen. Ich glaube aber, wer sich etwas mehr mit dem Thema beschäftigt, kommt in vielen Fällen auch auf individueller Ebene zu einem anderen Schluss: Ich muss einfach weniger shoppen (Fashion, Elektronik) und ich muss regionaler, saisonaler und am besten vom lokalen Bauernhof shoppen. Trends, die dem kapitalistischen System nicht so gut schmecken dürften.
Deshalb mein Fazit: Konsum ist und bleibt Konsum. Der wird leider oft zu einem politischen Akt überhöht, das sehe ich auch als Problem. Aber innerhalb des Konsums sollte man, wie du schön sagst, schon seine Spielräume nutzen, finde ich.
Felix Austen: Du sagst auch, wir sollten uns darauf nicht zu sehr konzentrieren. Das erinnert mich an einen Brief, den uns eine Leserin schon vor einigen Jahren einmal geschickt hat. Ein echter Brief, aus Papier, von Hand geschrieben. Erinnerst du dich?
Katharina Wiegmann: Ganz grob. An den Inhalt leider nicht mehr im Detail. Hast du daraus nicht einen Text gemacht? Schick mal den Link!
Felix Austen: Genau das habe ich. Eine jüngere Frau hatte uns geschrieben, dass sie bei uns so viele Texte über Plastikmüll, vegetarische Ernährung, Mobilität usw. gelesen hatte und ihr das alles so einleuchtete. Sie zerbreche und verzweifle nun aber fast an dem Versuch, das alles umzusetzen.
Wie bekommen wir Handeln und Ideale unter einen Hut? Darum geht es in diesem Text – in dem du auch den Brief findest, den uns PD-Mitglied Claudia damals geschickt hat.
Felix Austen: Das zeigt das Problem ganz gut: In dem Versuch, auf persönlicher Ebene alles perfekt zu machen, überlädt man sich. Man beraubt sich der Kraft und der Muße, gleichzeitig noch auf anderer Ebene aktiv zu werden, und scheitert am Ende vielleicht auch bei den eigenen Vorsätzen. Das ist die Gefahr.
Katharina Wiegmann: Darüber hat Maren doch damals auch einen Artikel geschrieben und sogar ein Wort dafür gefunden:
»In dem Versuch, auf persönlicher Ebene alles perfekt zu machen, überlädt man sich. Man beraubt sich der Kraft und der Muße, gleichzeitig noch auf anderer Ebene aktiv zu werden, und scheitert am Ende vielleicht auch bei den eigenen Vorsätzen. Das ist die Gefahr.« – Felix Austen
Felix Austen: Da habe ich für mich übrigens eine tolle kleine Faustregel, wie man das umgeht. Willst du die wissen?
Katharina Wiegmann: Na, unbedingt!
Felix Austen: Vielleicht kennst du sie: Die 80-20-Regel. Sie besagt: Für 80% des Ertrags reichen oft 20% Aufwand. Für die restlichen 20% bis zur Perfektion muss man hingegen oft viel mehr ackern, nämlich 80% Aufwand. Ob beim Mülltrennen, Veggie-Ernährung oder eben dem Flug in den Urlaub – für mich klappt das ganz gut. Meistens fällt es mir leicht, die bessere Wahl zu treffen. Aber wenn ich unbedingt mal sündigen will, sage ich mir »leider geil!« und mache mich nicht verrückt.
Und übrigens, bitte nicht dem Chef sagen, aber die 80-20-Regel funktioniert auch auf der Arbeit ganz gut!
Katharina Wiegmann: Haha, bei Kalkulationen dieser Art schlägt wahrscheinlich der Naturwissenschaftler in dir durch! Klingt aber ganz sinnig.
Ich will noch einmal eine kleine Rolle rückwärts machen, die uns dann aber vielleicht dahin bringt, endlich über Politik zu sprechen. Bei vielen Artikeln, die mir Ökotipps und gute Ratschläge für einen nachhaltigen Lebensstil geben wollen, schimmert mir oft ein Verständnis von Politik als eine komplett vom alltäglichen Leben abgetrennte Sphäre durch. Da wird das Individuum dann in erster Linie als Konsument:in und nicht als politisches Wesen begriffen. Das hast du vorhin schon angesprochen und siehst das auch kritisch. Da sind wir uns also einig.
Oft geht das Ganze aber mit einem mangelnden Verständnis dafür einher, wie vielschichtig unser demokratischer Prozess ist, und die Möglichkeiten der Mitbestimmung, zum Beispiel auf lokaler Ebene, werden übersehen. In der Konsequenz wird dann manchmal die Demokratie als Problem identifiziert, als zu langsam, zu ineffizient.
Wenn ich so argumentiere: Denkst du manchmal, ich habe den Ernst der Lage nicht so ganz verstanden?
Felix Austen: Ich glaube ehrlich gesagt, dass die wenigsten Menschen den Ernst der Lage begriffen haben. Ich denke, die Chance, dass es in 150–200 Jahren vorbei ist mit der menschlichen Zivilisation, stehen erschreckend gut. Aber in diese Richtung muss unser Gespräch jetzt vielleicht gar nicht gehen.
Ob wir deshalb die Demokratie opfern sollten? Schwer zu sagen. Ich und viele Menschen mit ähnlichen Privilegien führen ein fantastisches Leben, ich weiß nicht, ob ich das opfern will. Und du hast ja in dem Essay, den du eben erwähnt hast, auch schon einige starke Argumente dafür genannt, dass wir ohne Demokratie noch viel weniger in der Lage sein werden, das in den Griff zu bekommen, wenn es denn noch möglich ist.
Zur Frage, wie vielschichtig unsere Demokratie ist: Ich finde deine Perspektive auf die Dynamiken zwischen Gesellschaft, Politik und allen Akteur:innen, die noch so mitmischen, immer wieder erhellend. Ich wollte dir als Politikwissenschaftlerin deshalb auch mal die ganz einfache Frage stellen, die für unsere obige Leitfrage wichtig ist: Wie ändern sich denn Systeme? Und wer ändert Systeme?
Katharina Wiegmann: Hui, also, eine einfache Frage ist das nicht! Aber eine sehr spannende. Der wichtigste Faktor, darauf willst du wahrscheinlich hinaus, ist der Mensch. In Gesellschaften gibt es immer Interessengruppen, die miteinander ringen. Wie einflussreich eine bestimmte Gruppe wird, hängt dann wieder von vielen anderen Faktoren ab: Wie gut sich diese Gruppe organisiert zum Beispiel; ihre Kooperationsfähigkeit, die Strategien, die sie wählt, um ihren Interessen Einfluss zu verleihen. Was du gerade vielleicht hören möchtest: Jede:r Einzelne trägt einen Teil zur Stabilität von Systemen bei. Oder dazu, sie ins Wanken zu bringen und vielleicht auf einen neuen historischen Pfad zu stupsen.
Felix Austen: Darauf wollte ich auch hinaus, ja. Aber kann man den Fluss nicht noch weiter stromaufwärts schwimmen und sagen: Interessengruppen, die an Einfluss gewinnen, haben doch oft sehr klein angefangen. Könnte man nicht beinahe sagen: Durchsetzungskräftige Ideen und Bewegungen haben ihre Ursprünge fast immer bei einzelnen Individuen?
Katharina Wiegmann: Ja, klar. Aber damit sich wirklich etwas verändert, müssen sich diese Individuen in größeren Gruppen organisieren. Die amerikanische Politologin Erica Chenoweth hat sich politische Kampagnen der letzten 100 Jahre angeschaut und herausgefunden, dass sich 3,5% der Bevölkerung eines Landes beteiligen müssen, damit ein politisches Ziel erreicht wird. Das ist wohl die magische Schwelle. Darüber hat unser Kollege
Felix Austen: Das gefällt mir!
Wie siehst du das eigentlich: Was bringt Individuen dazu, sich politisch zu engagieren, in der Parteipolitik oder bei NGOs?
Katharina Wiegmann: Politisch aktiv wird man aus einem Bedürfnis heraus, Einfluss zu nehmen auf die Welt um sich herum. Das haben, glaube ich, die meisten Menschen irgendwo in sich.
Felix, wir fragen uns ja gerade: Wer muss sich ändern, das System oder ich? Hat sich deine Haltung dazu in den letzten Jahren eigentlich verändert? Irgendwie sind wir uns ja ziemlich einig. Unser Mitglied Christoph, das den Impuls für dieses Gespräch gegeben hat, und auch explizit uns beide diskutieren sehen wollte, hat da in der Vergangenheit aber wohl ein Spannungsfeld identifiziert. Gibt es das am Ende gar nicht?
Felix Austen: Ich glaube, wir liegen nicht so weit auseinander. Aber ich finde es trotzdem gut und hilfreich, sich darüber im Dialog klar zu werden, welche Form von individuellem Wandel letztlich zu systematischem Wandel führt. Ich habe das Gefühl, dem nähern wir uns hier schon ein bisschen an.
»Politisch aktiv wird man aus einem Bedürfnis heraus, Einfluss zu nehmen auf die Welt um sich herum. Das haben, glaube ich, die meisten Menschen irgendwo in sich.« – Katharina Wiegmann
Zu deiner Frage, wie sich meine Haltung verändert hat: Das zielt vielleicht auch darauf ab, dass ich Vater geworden bin. Und eine Sache, die mir wahnsinnig bewusst geworden ist durch diese neue Rolle: Wie stark unsere Funktion als Vorbild ist. Als Erwachsene verstehen wir Vorbilder ja oft ideell. Vorbilder sind Menschen, die uns durch ihre Ansichten oder Ideen inspirieren. Mit einem kleinen Kind im Haus merkt man aber, dass jeder Akt, den man in seinem Leben macht, von anderen nachgespielt wird. Das fängt an beim Formen von Worten, beim Halten der Gabel, dem Zähneputzen und dem Anziehen der Regenjacke. Und dann geht es aber weiter beim sozialen Verhalten: Wie respektvoll spreche ich mit Mitmenschen? Wie hilfsbereit bin ich? Wie gehe ich als Mann mit Frauen um? Wie empathisch bin ich gegenüber fremden Menschen und weniger Privilegierten? Und so weiter.
Nachdem ich das entdeckt habe, bin ich sicher: Wir sind auch außerhalb der Familie ständig Vorbilder für andere, im Guten wie im Schlechten. Deshalb lohnt es sich, sich vorbildlich zu verhalten. Damit geht ja auch einher, dass man durch das eigene Verhalten soziale Normen schaffen oder aufweichen und es so anderen Gleichgesinnten leichter machen kann, ebenfalls den Mut aufzubringen, sich zu ändern. Wir empowern uns so gegenseitig!
Katharina Wiegmann: An deine Vaterrolle habe ich gerade überhaupt nicht gedacht! Aber das finde ich einen super spannenden Aspekt und ich kann mir total gut vorstellen, dass der tägliche Umgang mit Kindern eine:n das eigene Verhalten noch mal ganz anders reflektieren lässt. Das finde ich eigentlich schon fast einen sehr schönen Abschlussgedanken. Vorbildsein, wo ich Vorbild sein kann. Wo es meine Kapazitäten und psychischen Ressourcen, mein Hintergrund, meine Privilegien zulassen. Und vielleicht auch ein bisschen daran arbeiten, diesen Bereich bei mir selbst zu finden, wo mir das eben möglich ist. Gleichzeitig aber nicht denken, dass ich in allen Bereichen vorbildlich sein muss.
Felix Austen: Das ist ein schöner Schluss! Ich hatte aber extra ein Ghandi-Zitat rausgesucht als Schlusswort. Darf ich das noch reinwerfen?
Katharina Wiegmann: Oh je, Pathos-Alarm. Na gut!
Felix Austen: Kalenderspruch-Felix zu Diensten: »You must be the change you want to see in the world.«
Katharina Wiegmann: …
Felix Austen: Underwhelmed?
Katharina Wiegmann:
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