Klimakrise: Diese 6 Hebel können uns noch retten
Wenn sogenannte soziale Kipppunkte erreicht sind, kann sich sehr schnell enorm viel ändern. Wie wir sie ansteuern, erklärt dieser Klimaforscher.
»Wer muss sich ändern: das System oder ich?«
Mit dieser Frage haben wir uns in den vergangenen Monaten vor dem Hintergrund der Klimakrise
In meinem letzten Artikel habe ich eine historische Perspektive eingenommen, um besser zu verstehen, wie sich die öffentliche Wahrnehmung des Klimawandels bis hin zur Klimakrise entwickelt hat. Der Fokus lag auf der Rolle der Konzerne, deren Geschäftsmodell es ist, fossile Brennstoffe zu finden, sie zu erschließen und sie anschließend zu verkaufen. Schon früh – wesentlich früher als gemeinhin angenommen – wussten diese Konzerne von den zerstörerischen Folgen ihres Geschäfts für Mensch und Planet. Dennoch unternahmen sie nichts, um das Problem zu lösen, und änderten nicht einmal ansatzweise die Art und Weise ihres Wirtschaftens. Stattdessen vertuschten sie die Beweise, säten Zweifel und, als nichts mehr abzustreiten war, wälzten die Verantwortung auf uns Individuen ab.
Eine besondere Rolle spielte dabei eine groß angelegte PR-Kampagne rund um den CO2-Fußabdruck, der Anfang der 2000er-Jahre weltweit gezielt bekannt gemacht wurde.
Einige PD-Mitglieder stellten im Diskussionsbereich unter dem Artikel die interessante These auf, ob sich die Konzerne mit dieser PR-Strategie nicht mittelfristig selbst ein Bein gestellt haben. Ein Mitglied schreibt:
Ist es vielleicht nicht sogar so, dass der Schuss der Öl-Lobby nach hinten losgegangen ist? Durch das Fußabdrucktool sind vielleicht sogar viele erst auf ihre politische Verantwortung aufmerksam geworden. Mir ging es so. Das wäre doch mal eine interessante Recherche für euch, oder?
Ein weiteres Mitglied berichtet darüber, wie es sich für sie ausgewirkt hat, sich mit dem eigenen CO2-Fußabdruck zu beschäftigen:
Bei mir und vielen anderen, die ich kenne, hat die Beschäftigung mit meinem Fußabdruck zum einen dazu geführt, mir meiner eigenen Verantwortung und ihrer Grenzen bewusst zu werden. Zum anderen hatte sie aber auch zur Folge, dass ich demonstrieren gegangen bin, Zusammenhänge begriffen habe und sogar ein eigenes Klimaschutz-Projekt auf die Beine gestellt habe. […] Ich wage sogar die These aufzustellen, dass die Erfindung des CO2-Fußabdrucks gar keine so tolle PR-Maßnahme ist, weil er – zumindest bei denkenden Menschen – dazu führt, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, was dann ja nicht bei der eigenen Verantwortung aufhört.
Eine einleuchtende Argumentation, die mich zum Nachdenken gebracht hat: Wie lässt sich das komplexe Bild aus individueller Verhaltensänderung, Engagement für politischen Wandel und notwendigen Reformen hin zu Regulierung und Transformation entwirren?
Auf der Suche nach Antworten bin ich auf das Konzept der sogenannten »sozialen Kippelemente« zur Stabilisierung des Weltklimas gestoßen, worüber wir bereits
Im Gespräch hat mir einer der Autoren der zugehörigen Studie erklärt, was es genau damit auf sich hat, und meinen Blick auf das große Ganze geschärft. Hier ist das Ergebnis.
Kipppunkte, die unsere Lebensgrundlage schützen
Was kann ich tun, um der Klimakrise etwas entgegenzusetzen?
Wer sich mit dieser Frage auseinandersetzt, kann leicht verzweifeln. Zu groß scheinen die Herausforderungen, viel zu klein die Fortschritte, welche die Menschheit in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. »Uns rennt die Zeit davon« ist ein gängiges und durchaus nachvollziehbares Narrativ.
Sich umfassend zu informieren und aktiv zu werden, ist angesichts von
Daher muss die Frage lauten: Wo soll ich anfangen, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen? Um mich einer Antwort auf diese Herausforderung zu nähern, habe ich mich an Jonathan Donges vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gewandt. Der Physiker forscht dort zu den planetarischen Grenzen der Erde. In der Studie
Der dahin gehende Druck kann sich im Laufe der Zeit unter der Oberfläche aufbauen, bis ein auslösendes Ereignis für Kurswechsel sorgt, die oft unumkehrbar zu einem neuen Zustand, also einem Kipppunkt, führt. Während Klimaforscher:innen vor Kipppunkten in unseren biophysischen Systemen warnen, geht es in diesem Kontext also um wünschenswerte Kipppunkte.
Donges und Kolleg:innen haben 6 soziale Kipppunkte identifiziert, die in der Lage sein können, das Weltklima zu stabilisieren:
- Produktion und Speicherung von Energie
- Städte und urbane Räume
- Finanzmärkte
- Werte und Normen
- Bildungssystem
- Emissionsfeedback über Waren und Dienstleistungen
Auch wenn sich diese Liste wie eine Aufzählung der üblichen Verdächtigen im Kampf gegen die Klimakrise liest, bietet sie einen riesigen Vorteil: Sie reduziert die Masse von nötigen Ansätzen und Maßnahmen auf ein handliches Maß, woran sich Engagement ausrichten lässt.
Jonathan Donges erklärt, wie diese zusammenhängen: »Die einzelnen Aspekte sind nicht isoliert voneinander – weder innerhalb der Gesellschaft, noch ist die Gesellschaft vom Klima und der Biosphäre als unsere Lebensgrundlage isoliert. Daher macht es Sinn in diesem komplexen System, in dem alles mit allem zusammenhängt, erst einmal diese Kippelemente zu identifizieren. Innerhalb dieser gilt es dann, kritische Interventionspunkte auszumachen, an denen Politik, Zivilgesellschaft oder andere Akteur:innen eine besonders große Hebelwirkung erzeugen können. Wir haben uns in unserer Studie stark darauf fokussiert, welche Interventionen zu einer schnellen Reduktion von Treibhausgasen führen.«
Der Schmetterlingseffekt im Kampf gegen die Klimakrise
Das Besondere an den sozialen Kippelementen ist laut Donges und seiner Co-Autor:innen, dass der Sprung über diese hinweg hin zu echten Veränderungen nicht linear abläuft, wie auf einem Zeitstrahl, sondern in kleinen Schritten. Angestoßen werden die Veränderungen in der Regel durch eine kleine, aber engagierte Minderheit. Diese überzeugt im Idealfall immer mehr Menschen von ihrer Position, bis eine kritische Masse erreicht ist. Die betrage laut verschiedener Studien in etwa 10–25% der Bevölkerung und deckt sich mit der Einschätzung des Sozialpsychologen Harald Welzer, der im Interview mit Perspective Daily ein provokantes Statement abgab:
Soziale Bewegungen gehen immer von Minderheiten aus. Die Gesellschaft ist bewusstseinsmäßig so aufgeteilt, dass 5–10% ein Avantgarde-Denken haben, weitere 5–10% sind extrem konservativ und die restlichen 80% interessieren sich einen Scheiß für irgendwas und machen alles mit. Also ist ein Lebensstilwandel, der von 5% auf die Wege gebracht wird, effektiv.
Das Paradebeispiel für diesen Prozess ist eine schwedische Schülerin, die jeden Freitag in einen Schulstreik tritt – und am Ende den Klimaschutz weltweit verstärkt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt.
Was sich am Beispiel von Greta Thunberg und Fridays for Future aber auch zeigt: Die 6 Kippelemente weisen unterschiedlich lange Kippzeiten auf. Im Bereich der Werte und Normen nimmt ein nachhaltiger Wandel der Studie zufolge mindestens 30 Jahre in Anspruch – Zeit, die wir im Kampf gegen die Klimakrise nicht haben. »Werte und Normen ändern sich in der Breite meist in Generationenzyklen«, sagt Jonathan Donges, was aber nicht bedeute, dass Klimaaktivismus sinnlos ist. Ganz im Gegenteil: »Durch die Proteste von Fridays für Future ist einiges in Bewegung gekommen. Die Sorge um die Umwelt hat sich in Deutschland exponentiell vergrößert, bis der Wert durch die Pandemie wieder etwas eingebrochen ist. Trotzdem sind wir hier jetzt auf einem deutlich höheren Niveau, als wir es in den letzten 30 Jahren jemals waren.«
Allerdings müsse dabei bedacht werden, dass diese Veränderung bisher nur einen gewissen Teil der Gesellschaft erreiche. Kurzum: Der schrittweise Wandel im Bereich der Werte und Normen ist wichtig, auch wenn er viel Zeit in Anspruch nimmt. Denn je größer die Basis in diesem Bereich ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wünschenswerte Veränderungen durch politische Kehrtwenden wieder aufgehoben werden.
Was uns kurz zum Einstieg des Textes zurückführt. Nehmen wir diesen Betrachtungswinkel ein, ist die These einiger PD-Mitglieder unter dem Artikel zur Geschichte des CO2-Fußabdrucks durchaus einleuchtend: Durch den Versuch des Ölkonzerns BP, die Verantwortung für die Klimakrise auf die individuelle Ebene abzuschieben, hat sich dieser auf lange Sicht wohl ein Eigentor geschossen. So gab die PR-Kampagne sicher für viele Menschen einen wichtigen Impuls, ihre eigene Rolle im System sowie die damit zusammenhängenden Werte und Normen zu hinterfragen – auch wenn dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist.
»Gerade für die Menschen, die für Klimaschutzmaßnahmen ohnehin schwer zu erreichen sind, ist der Wandel durch einen Fokus auf individuellen Konsum in ihrer Wahrnehmung oft sehr stark mit Verzicht verbunden. Die Lobbyarbeit der Ölindustrie hat hier ganze Arbeit geleistet«, sagt Jonathan Donges.
Daher lohnt es sich, an dieser Stelle einmal mehr einen Schritt zurückzumachen, um einen Überblick über das gesamte System der 6 sozialen Kippelemente zu gewinnen.
Wo es zu kippeln beginnt
Der Wandel von Werten und Normen hin zu einem allgemeinen Problemverständnis fossiler Brennstoffe spielt eine elementare Rolle, um das Weltklima stabilisieren zu können. Der Zeithorizont hierfür ist ein langer. Daher gilt es parallel zu diesem Prozess an den anderen Elementen zu arbeiten, womit schnellere Fortschritte wahrscheinlich sind.
Wie genau nun der jeweilige Stand bei den entsprechenden Kipppunkten ist, erscheint aufgrund der Komplexität jedes einzelnen Elements auf den ersten Blick schwer abzuschätzen. Gut, dass Jonathan Donges sich hauptberuflich mit dieser Herausforderung beschäftigt und eine kurze Einschätzung für die anderen 5 Kippunkte liefern kann:
- Energieerzeugung und Speicherung: »Auch wenn es hier immer wieder Rückschläge gibt, tut sich im Rahmen der Energiewende einiges in diesem Bereich, und das bereits seit einigen Jahren. Das gilt erst mal für Deutschland, ist aber auch in einigen anderen Ländern zu beobachten«, sagt Donges. Die kritische Frage sei hier immer, ob es sich dann auch um ein globales Phänomen handele.
Zentraler Hebel: Der wichtigste Faktor ist hier, dass Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen ertragreicher und attraktiver ist als aus fossilen Brennstoffen. Die gute Nachricht:
Zeithorizont: 10–30 Jahre
Hier erfährst du, wie der Staat klimaschädliches Verhalten subventioniert: - Städte und urbane Räume: »Städte sind global gesehen wichtige Akteure, ein großer und beständig wachsender Teil der Weltbevölkerung lebt hier. Städte sind zentral in politischen, wirtschaftlichen und sozial-kulturellen Netzwerken«, sagt Donges. Auf diese Weise geben Sie wichtige Impulse für Wandel. Ein Kipppunkt in diesem System ist erreicht, wenn Technologien ohne fossile Brennstoffe die erste Wahl für neue Bau- und Infrastrukturprojekte werden.
Zentraler Hebel: Kohlenstoffneutrale Städte als wichtige Vorreiter und positive Vorbilder, die breiteren Wandel anstoßen können.
Zeithorizont: Ca. 10 Jahre
Hier erklärt Felix Austen, warum Landflucht und Verstädterung eine große Chance sein können: - Bildungssystem: »Im Bereich der Klimabildung gibt es noch sehr viel Potenzial. Hier sind schon eine Menge an innovativen Ansätzen vorhanden, aber Themen wie nachhaltige Entwicklung müssten eine viel größere Rolle spielen«, meint Jonathan Donges.
Zentraler Hebel: Die Quantität und Qualität der Unterrichtsinhalte zum Thema Klima muss in allen Schulformen und -fächern erhöht werden und darf nicht nur in den Fächern Politik und Erdkunde stattfinden.
Zeithorizont: 10–30 Jahre - Informationsfeedback: »Hier geht es darum, die Emissionen für Waren und Dienstleistungen einfach und verständlich transparent zu machen. Das betrifft individuelle
Zentraler Hebel: Kennzeichnungspflichten über die Emissionen von Produkten und Dienstleistungen wie bei Lebensmitteln können das Informationsfeedback für Individuen verbessern und mühsame eigene Recherchen überflüssig machen. »Die soziologische und psychologische Forschung belegt, dass es für Menschen sehr wichtig ist, die Konsequenzen des eigenen Handelns zurückgespiegelt zu kommen«, so Donges. Erste Ansätze gibt es auch in diesem Bereich: Der Discounter Lidl testete im vergangenen Jahr erstmals in einigen Filialen ein Umweltlabel ähnlich der Lebensmittelampel
Zeithorizont: Wenige Jahre
Wer mitgezählt hat, dem wird auffallen, dass noch ein Element fehlt. Das ist so wichtig und momentan hochaktuell, dass es noch einen eigenen Absatz bekommt.
Finanzmärkte: Wo Wandel am schnellsten stattfinden kann – und muss
Das letzte Kippelement, bei dem theoretisch ein sehr schneller Wandel mit großen Auswirkungen für das Klima stattfinden kann, sind die Finanzmärkte. Stichwort
Dass es in diesem Bereich echte Fortschritte zu verbuchen gibt, zeigte im vergangenen Jahr etwa der Rundbrief des Geschäftsführers von Blackrock, dem größten Vermögensverwalter der Welt.
Wir rufen Unternehmen daher dazu auf, einen Plan vorzulegen, aus dem hervorgeht, wie sie ihr Geschäftsmodell an eine klimaneutrale Wirtschaft anpassen wollen – also an eine Wirtschaft, in der die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius begrenzt wird und die mit dem globalen Ziel von Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050 vereinbar ist.
Auch wenn hier einiges in Bewegung ist, müssen wir weiterhin genau hinsehen, ob den vollmundigen Ankündigungen auch Taten folgen. Eine gute Möglichkeit hierzu bietet die Nichtregierungsorganisation »350.org«, die unter anderem
Doch Vorsicht: Politische Entscheidungen können immer wieder dafür sorgen, dass eventuelle Fortschritte verwässert werden. Ein unschönes Beispiel gibt der jüngste Beschluss zur sogenannten EU-Taxonomie, der vorsieht, dass Energie aus Kernkraft und Erdgas
Hier zeigt sich eine Schwachstelle der Studie des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung: Die Schwerpunktsetzung auf soziale Kippelemente lässt politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse außen vor.
Was das in der Praxis bedeutet, wird zum Beispiel daran ersichtlich, dass die Lobbyist:innen der Gasindustrie vor und während der Verhandlungen über die Taxonomie Überstunden einlegten und die durchschnittliche Zahl ihrer Meetings in dieser Zeit
Das zeigt: Engagement im Kampf gegen die Klimakrise rund um die sozialen Kippelemente kommt daher nicht umher, die politischen und wirtschaftlichen Komponenten mitzudenken und darauf einzuwirken – sonst droht die Kettenreaktion der fallenden Dominosteine durch den Einfluss mächtiger Wirtschaftsverbände schnell wieder gestoppt zu werden.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily