Bist du hochsensibel? Finde heraus, was das heißt
Rund 15% aller Menschen empfinden »zu viel«. Fremde Personen und neue Ereignisse stressen sie übermäßig. Dabei könnten ihre besonderen Fähigkeiten in Zukunft sehr gefragt sein.
Wenn Jasmin Schindler wieder einmal zu viel von der Welt da draußen hat, fängt sie meistens an, sich um ihre Meerschweinchen zu kümmern. Oder sie besucht die Wasserschildkröte. Dann steht sie vor den Tieren und beobachtet ihr Treiben minutenlang. Für sie sei das wie Meditation, sagt sie. »Es beruhigt mich und spendet mir Energie.«
Sie hat ein besonderes Verhältnis zu Tieren. Sie empfindet eine tiefe Traurigkeit, wenn sie einen überfahrenen Igel sieht. Als in ihrer Kindheit der Graupapagei verschwand, litt sie wochenlang darunter. Später starb der 11-jährige Hund ihres damaligen Freundes. Wieder überwältigte sie die Trauer. Und selbst als ihre Meerschweinchen von Parasiten befallen waren, war sie so aufgewühlt, dass sie kaum schlafen konnte.
Sie ist ein sehr empathischer Mensch, der das Erleben anderer intensiv nachempfindet. Es ist fast so, als erlebe sie das alles selbst. »Es fällt mir schwer, mich abzugrenzen. Ich verwechsele fremde Gefühle mit meinen eigenen«, sagt sie. Die Grenzen zwischen dem eigenen und dem anderen Wesen verschwimmen, so scheint es. Selbst wenn es sich dabei um Tiere handelt.
Eine überlebenswichtige Fähigkeit
Ein Blick in die Tierwelt hilft auch, um etwas besser zu verstehen, über welche besondere Eigenschaft Jasmin Schindler verfügt. Bei den Erdmännchen lässt sich zum Beispiel ein erstaunliches Sozialgefüge beobachten. Wenn ein Teil der Gruppe in der Erde buddelt, gibt es andere Tiere, die aufrecht auf einem Ausguck stehen, die Umgebung »sichern« und Alarm schlagen, wenn Gefahr in Verzug ist.
Bei den Honigbienen ist das ähnlich: In jedem Volk gibt es Wächterbienen, die am Flugloch warten, aufpassen und Eindringlinge abwehren. Diese Beispiele zeigen, dass eine hohe Wachsamkeit in der Tierwelt überlebenswichtig ist. Verhaltensbiologen fanden aber noch etwas heraus. In vielen Tierpopulationen reagiert eine Minderheit offenbar deutlich stärker auf Umweltreize. Diese Tiere nehmen Informationen auf, die den meisten Artgenossen verborgen bleiben.
»Meine Mitmenschen würden mich wahrscheinlich als normal und nicht auffällig sensibel beschreiben.« – Jasmin Schindler, Bloggerin
In der Evolution hat es sich als Vorteil erwiesen, dass ein ganz bestimmter, kleiner Teil einer Population besonders empfindlich auf Reize reagiert.
Das Gefühl, anders zu sein
Jasmin Schindler gehört zu den Menschen, die sich als hochsensibel bezeichnen. Das war nicht immer so. Die 30-jährige Autorin und Bloggerin aus Leipzig ist ein offener Mensch, der keine Scheu davor verspürt, zu sagen, was er denkt. Auch nicht vor einem großen Publikum: In ihrem
Aber auch im echten Leben habe sie wenig Probleme damit, vor Menschen zu sprechen. Mit Freunden umgibt sie sich ohnehin gern. »Ich habe lange ein relativ extrovertiertes Leben geführt. Deshalb würden mich meine Mitmenschen wahrscheinlich als normal und nicht auffällig sensibel beschreiben«, sagt sie.
Und doch sagte ihr ein Gefühl schon lange, dass sie auf eine nicht erklärbare Weise anders ist als die anderen.
- Sie spürt oft, was Menschen denken und fühlen, kann sich besonders gut in andere hineinversetzen.
- Das Gewusel in Fußgängerzonen, auf Märkten oder in Einkaufszentren strengt sie an.
- In Gruppen mit Unbekannten sagt sie eher wenig, bei Freunden blüht sie auf.
- Sie liebt es, sich in Aufgaben zu vertiefen.
- Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, braucht sie lange, um den Vorfall zu verarbeiten. Sie überlegt lange, was Menschen um sie herum wirklich antreibt und was sie mit einer bestimmten Aussage sagen wollten.
- Sie leidet häufig angesichts der Probleme in der Welt. Armut, Umweltprobleme und Tierquälerei sind Dinge, die ihr
Lange Zeit hatte Jasmin Schindler keine Vorstellung davon, wie diese Eigenschaften zusammenhängen könnten. Bis sie eines Tages vor dem Laptop saß und den Begriff »Weltschmerz« eintippte. Weltschmerz, das schien ein geeigneter Begriff zu sein für das, was sie von Kindheit an in sich spürte, und das sie offenbar von anderen Menschen unterschied.
Sie scrollte durch die Liste der Suchergebnisse, bis irgendwo am Rand ein ganz anderer, neuer Begriff auftauchte: Hochsensibilität. Ein Phänomen, von dem angeblich 15–20% aller Menschen betroffen sein sollen, erfuhr sie. »Das war für mich ein großer Aha-Moment«, sagt sie über ihre Recherche, die jetzt etwa 4 Jahre zurückliegt. Plötzlich hatte sie eine Erklärung dafür gefunden, wie sie die Welt erlebt und wie sie sich selbst in dieser Welt erlebt. Und noch wichtiger war vielleicht die Erleichterung, dass es auch anderen so geht wie ihr.
Gleichzeitig blieb Skepsis über das, was sie bei ihrer schnellen Onlinesuche vermeintlich an Selbsterkenntnis gewonnen hatte. Selbstdiagnosen sind bekanntlich schwierig, zumal es sich bei Hochsensibilität oder Hypersensitivität, wie sie manchmal auch bezeichnet wird, um ein vielschichtiges Charaktermerkmal handelt.
Also stürzte sie sich in das Thema, las alle Artikel und Bücher, die sie in die Finger bekam, tauschte sich mit Freunden aus, besuchte Gruppentreffen und stellte fest, dass andere Menschen die Welt genauso erlebten wie sie. Nach und nach verstand sie, warum allein die Tatsache, so zu leben und so zu arbeiten wie alle anderen, sie immer wieder so sehr erschöpfte. »Ich ging über meine Grenzen, weil ich einen Teil von mir nicht wahrhaben wollte«, sagt sie heute.
Die Forschung macht Fortschritte
»Ich durchschritt wie viele andere Hochsensible verschiedene Phasen von Begeisterung über Skepsis bis hin zur friedlichen Akzeptanz«, schreibt Jasmin Schindler in ihrem Buch. Der Weg vom Aha-Moment bis zur Betätigung als Buchautorin war dabei alles andere als einfach. Jasmin Schindler ist ein wissenschaftlich und kritisch denkender Mensch. Daher hat es gedauert, bis sie sich in dem Konzept der Hochsensibilität wohlgefühlt hat. Denn es ist wissenschaftlich noch nicht gut erforscht.
Manche Wissenschaftler ordnen Hochsensibilität eher dem Persönlichkeitsfaktor
Niemand weiß exakt, wie viele Introvertierte hochsensibel sind, aber wir wissen, dass 70% der Hochsensiblen Introvertierte sind und die anderen 30% meist angeben, dass sie viel »Zeit für sich« brauchen.
Das Persönlichkeitsmerkmal Extraversion gehört ebenso wie Neurotizismus zu den »Big Five«, einem in der Wissenschaft anerkannten Konzept der Persönlichkeitspsychologie, das die
Daneben gibt es in der Forschung viele weitere Annäherungen an das, was Hochsensibilität in einem Wort in den Griff zu bekommen versucht.
Die österreichische Arbeitspsychologin Christina Blach wollte das genauer wissen und forschte in den vergangenen Jahren intensiv zum Thema Hochsensibilität. Ihr fiel dabei auf, dass die Beschreibung von Sensibilität in westlichen Kulturen eher mit negativ besetzten Begriffen vorgenommen wird, mit Adjektiven wie schwach, schüchtern, gehemmt oder dünnhäutig. Eine Gruppe von Wissenschaftlern zeigte, dass sensible, ruhige Schüler in China von Gleichaltrigen respektiert und gemocht werden, in Kanada dagegen nicht.
Es war nicht die einzige aufschlussreiche Entdeckung, die Christina Blach machte. In ihrer empirischen Untersuchung konnte sie nachweisen, dass Hochsensible höhere Depressions-, Stress- und Ängstlichkeitswerte haben. »Die psychologische Komponente Ängstlichkeit trägt signifikant zur Aufklärung bei«, schreibt die Grazer Wissenschaftlerin in ihrer im Jahr 2016 veröffentlichten Dissertation.
»Menschen erkennen sich instinktiv wieder, wenn sie von Hochsensibilität hören.« – Jasmin Schindler, Bloggerin
Körperliche Unterschiede, etwa im Herz-Kreislauf-Bereich, gebe es hingegen keine. Hochsensibilität sei ein mehrdimensionales, »möglicherweise aber primär psychologisches Phänomen, das erst sekundär physiologische Wirkungen generiert«, schreibt Christina Blach. Einfach formuliert: Hochsensible bekommen angesichts großer Menschenmassen nicht deshalb Herzrasen, weil ihr Herz anders funktioniert, sondern deshalb, weil ihr Körper
Hochsensible versuchen daher häufig, äußere Reize zu minimieren. Außerdem haben sie ein höheres Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Wenn das aber zu einem Rückzugs- und Vermeidungsverhalten führe, könne das zu einer sozialen Phobie führen, also zu einer Angst vor sozialen Situationen, schreibt Christina Blach. Das wäre eine Erklärung für die hohen Ängstlichkeitswerte bei Hochsensiblen. Zwar ist Hochsensibilität keine Krankheit, doch eine Selbsteinschätzung als hochsensible Person kann bedeuten, dass dabei eine tatsächlich vorhandene psychische Erkrankung übersehen wird.
Was die Arbeitswelt lernen muss
Wichtig für Hochsensible sei es, die richtige Balance zu finden, sagt Jasmin Schindler. Oder vielmehr: zwischen der eigenen Komfortzone und der Welt da draußen zu pendeln. Gestaltungsspielräume zu haben und nicht nur äußeren Bedingungen ausgeliefert zu sein, ist dabei von besonderer Bedeutung. Im Privatleben ist das meistens ganz gut möglich, in einem anderen Lebensbereich dagegen häufig nicht: der Arbeitswelt.
Arbeit, oder vielmehr die Arbeitsbedingungen können für hochsensible Personen mit großen Problemen verbunden sein. Jasmin Schindler hat sich daher entschieden, die Bedingungen selbst zu bestimmen. Zwar möchte sie die Selbstständigkeit nicht als Flucht aus dem Angestelltendasein verstanden wissen. Außerdem
Sie habe dadurch ganz viele Probleme nicht. Dank ihrer Selbstständigkeit entkommt sie den von vielen Hochsensiblen als besonders belastend empfundenen Seiten der Arbeitswelt:
Nun könnte man einwenden, dass der telefonierende Büronachbar wohl jeden stört. Diese und andere negative Aspekte der Arbeit belasten auch normalsensible Menschen mitunter stark. Eine Arbeitswelt, die hochsensible Personen in die Selbstständigkeit und ins Homeoffice drängt, kann auch für alle anderen nicht gut sein.
Jasmin Schindler sieht das ähnlich. »Die Arbeitsbedingungen sind für viele Menschen ein Problem, aber für Hochsensible sind manche Dinge besonders schwierig.« Hochsensible Personen, sagt sie, seien so etwas wie Warnmelder für Dinge, die schief liefen. »Sie merken es zuerst.« Anders gesagt: Wer die Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse von hochsensiblen Mitarbeitern anpasst, hilft am Ende der gesamten Belegschaft. Das können Freiräume bei der Gestaltung der Arbeitszeit sein, Rückzugsmöglichkeiten am Arbeitsplatz, empathische Vorgesetzte, ein intaktes Team und ein Unternehmenszweck, den man teilt. All das sind Aspekte der Arbeit, die Sozial- und Gesundheitswissenschaftler bereits
»Man muss sich nicht outen«
Doch was können Hochsensible tun, denen die Arbeit große Schwierigkeiten bereitet? Jasmin Schindler hält es für sinnvoll, mit Kollegen und Vorgesetzten über die eigenen Präferenzen zu sprechen. »Man muss sich dafür nicht als hochsensibel outen. Viele tun das nur im kleinen Kreis.« Sich selbst den Stempel »hochsensible Person« aufzudrücken, sei nicht unbedingt hilfreich, sagt sie. Wichtiger sei es, konkrete Bedürfnisse zu benennen, etwa dass man sich gelegentlich in kleineren Gruppen austauschen möge oder am Arbeitsplatz einen Raum für Rückzug brauche, um gut arbeiten zu können.
Kollegen und Vorgesetze sind jedenfalls gut beraten, ihre besonders sensiblen Mitarbeiter nicht zu vergraulen. Hochsensible und Introvertierte gelten als besonders mitfühlend, gewissenhaft und kreativ, als aufmerksame Beobachter und
Manche Karriereexperten bezeichnen sie aufgrund ihrer Fähigkeiten, unabhängig und analytisch zu denken, Entscheidungen sorgfältig vorbereitet zu treffen, sich präzise schriftlich auszudrücken und außerdem weniger verschwenderisch im Umgang mit Geld zu sein, sogar als die besseren Führungskräfte. Der Wirtschaftspsychologe und Organisationsberater Daniel Panetta etwa stellt hochsensible Führungskräfte in seiner wissenschaftlichen Untersuchung
Emotionale Intelligenz ist gefragt
Hochsensible Chefs seien in der Praxis zwar noch eine Seltenheit, glaubt Jasmin Schindler. Doch angesichts der
Neue Studien belegen, dass Mitarbeiter mit einer besonders ausgeprägten
Für den Arbeitsplatz bedeutet das: Hochsensible nehmen die Empfindungen ihrer Kollegen wahr und können rücksichtsvoll damit umgehen. Vielleicht reagieren Hochsensible auf die ein oder andere Bemerkung empfindlicher als andere, was zu Missverständnissen führen kann. Aber weil Hochsensible besonders harmoniebedürftig sind, kommt es selten zu größeren Konflikten.
Sie sind nicht diejenigen, die am Arbeitsplatz herumwüten, Druck ausüben, Kollegen angreifen und mobben. Positiv formuliert heißt das: Hochsensible können die Arbeitswelt menschlicher, empathischer und emotionaler machen. Sie sind Teamplayer, auch wenn sie bei einem Team-Meeting mehr zuhören als reden und anschließend schnell das Weite suchen, um Ruhe zu haben.
Nach und nach verstand auch Jasmin Schindler, dass Hochsensibilität in einer lauten Welt zwar eine Bürde ist, aber auch eine große Gabe. Sie begann, ihre Sensibilität als einen Teil der eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren und besser auf ihre Bedürfnisse zu achten. »Ich nehme heute nicht mehr jede Einladung an und gönne mir mehr Ruhezeiten. Bei Verabredungen bin ich wählerischer. Den Vorrang gebe ich den Treffen mit Menschen, die mir Energie spenden«, sagt sie und spricht mit diesem Bedürfnis wohl auch Menschen an, die sich nicht im Konzept der Hochsensibilität heimisch fühlen.
»Menschen erkennen sich instinktiv wieder, wenn sie von Hochsensibilität hören – oder eben nicht«, weiß Jasmin Schindler aus vielen Gesprächen mit hochsensiblen Personen. Bei ihr war das so. Auch wenn die Wissenschaft noch nicht alle Fragen beantworten kann: Für viele Menschen ist der Begriff Hochsensibilität und das, was er beschreibt, eine große Hilfe.
Jasmin Schindler hat die Auseinandersetzung mit ihrer Hochsensibilität dabei geholfen zu begreifen, was sie braucht, um sich wohlzufühlen. Sie weiß, wann es auch richtig sein kann, die eigene Komfortzone auszuweiten, Veränderungen zuzulassen und mutig zu sein, ohne sich dabei von sich selbst zu entfremden. Sie hat ein Rezept gefunden, ihre Hochsensibilität anzunehmen und die Stärken für sich zu nutzen. Besuche bei Meerschweinchen und Wasserschildkröte sind nur ein kleiner Teil dieser Strategie.
Titelbild: Nam Hoang - CC0 1.0