Wer die AfD schlagen will, braucht Visionen statt Angst
Messerverbotszonen, Grenzkontrollen, Abschiebeoffensiven: Die politische Debatte ist so toxisch und reaktiv wie selten zuvor, meint unser Autor. Dabei wäre jetzt die Zeit, grundlegende Weichen für die Zukunft zu stellen.
Um Deutschlands Gesundheit ist es nicht zum Besten bestellt: Die immer noch recht traditionell aufgestellte deutsche Wirtschaft macht nicht den zukunftsfestesten Eindruck –
Höchste Zeit für ein gründliches Check-up: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen
Viel heiße Luft, keine Visionen
Die derzeitige politische Debatte ist jedenfalls atemberaubend visionsbefreit. Sie ist geprägt vom Erstarken der rechtsextremen AfD in Sachsen und Thüringen,
Aber zurück zur visionslosen Debatte: Die Union scheint die Veränderungsmüden mit einer Doppelstrategie in den Blick zu nehmen. Da werden die Grünen als vorgebliche Treiber der Veränderung verächtlich gemacht – und gleichzeitig nähert sie sich in der Migrationspolitik einigen Positionen der AfD an. Das
Einer Volkspartei, die ihr Intermezzo in der Opposition gerne beenden würde, dürften solche Konsequenzen eigentlich nicht so demonstrativ egal sein, wie sie es Merz, Söder und Co. offenbar sind. Dazu kommt, dass die Union dem Land eine abenteuerliche Mischung aus staatstragender Opposition, kindlicher Bockigkeit und dann wieder unverantwortlichem Populismus aufgetischt hat, und das alles in nur 3 Wochen.
Ähnlich kurzsichtig sind die Debattenbeiträge anderer Oppositionsparteien, aber auch der Bundesregierung. Die zerstrittene Ampel gibt sich ausnahmsweise handlungsbereit und entschlossen, indem sie als Reaktion auf den Anschlag von Solingen punktuelle
Ob diese Schritte notwendig waren, ob sie sinnvoll sind und ob sie überhaupt an der richtigen Stelle ansetzen, das darf gern an anderer Stelle diskutiert werden. Dieser Text geht mit der Feststellung weiter: Einen solch hysterisch geführten Streit um ein Einzelthema, der dazu noch auf der Stelle tritt, kann sich unser Land gerade eigentlich nicht leisten. Die Zeiten verlangen nach Pragmatismus, einer ganzheitlicheren Betrachtung und: Visionen.
Die grundlegenden Weichenstellungen der 2020er
Denn wenn wir einmal einen Schritt zurücktreten und mit etwas Abstand auf die Gegenwart schauen, sehen wir: Wir befinden uns gerade in einer Zeit, auf die Historiker:innen vielleicht einmal als Nullpunkt weltgeschichtlicher Richtungsentscheidungen zurückblicken werden.
Vorbei sind die vermeintlichen Geradeaus-Jahre der 2010er, in denen wir das Lenkrad locker mit einer Hand festhalten konnten, die andere lässig aus dem Fenster in den Fahrtwind gehängt. Seit Corona, erst recht seit dem Ukrainekrieg, ist diese Epoche vorbei. Gerade sind wir auf einem schwierigen Streckenabschnitt, der volle Konzentration erfordert – wegen mehrerer Faktoren:
- Geopolitik: Nach Russlands Krim-Annexion 2014 wollten wir in Deutschland (anders als zum Beispiel im Baltikum) die Zeichen der Zeit noch nicht sehen, 2022 überrollten sie uns mit voller Wucht: Die weltweiten Machtverhältnisse ordnen sich gerade massiv neu. Mit dem Ausgang des Krieges in der Ukraine wird sich nicht nur das Schicksal der Menschen zwischen Lviv und Luhansk entscheiden, sondern auch das zukünftige Kräfteverhältnis zwischen westlichen Demokratien und dem Autoritarismus Moskauer und Pekinger Prägung. Die nach dem Zweiten Weltkrieg errungene regelbasierte Ordnung steht auf dem Spiel, solange die russische Bedrohung nicht abgewendet ist, die sich auf große Teile Europas erstreckt.
Und diese Neuordnung findet auch im Globalen Süden statt. In Afrika zum Beispiel schwindet der europäische Einfluss seit Jahrzehnten zugunsten von China und zuletzt verstärkt auch von Russland. Beide interessieren sich für die Ressourcen des Kontinents, wissen jedoch um das destabilisierende Druckpotenzial, das Wirtschaftsmigration auf Europa entfaltet. Die Verteidigung freiheitlicher Werte gen Osten und Partnerschaften auf Augenhöhe gen Süden könnten also über die künftigen Verhältnisse in Europa entscheiden. - Wirtschaftspolitik: An der Wirtschaft zerren neben der Geopolitik auch andere Kräfte: Die Transformation beschleunigt sich immer weiter – zum Beispiel fällt bei den Herstellungskosten für Autos die Elektronik immer stärker ins Gewicht gegenüber Materialkosten für Stahl, Aluminium und Glas. Das heißt, den Chipfabriken gehört die Zukunft, während die Stahlhütten die Vergangenheit symbolisieren. Massive Subventionen, aber auch protektionistische Maßnahmen wie Grenzzölle geben die Leitlinien für einen globalen Umbau vor, der die Industrie ihres klimaschädlichen Fußabdrucks weitestgehend entledigt. Das stellt in einer globalisierten Weltwirtschaft neue Fragen. Dazu findet immer mehr Wertschöpfung automatisiert oder digital statt.
- Gesellschaftspolitik: Wenn Arbeitsplätze mit nur geringen Qualifizierungsanforderungen wegfallen, ist das auch gesellschaftlich eine Herausforderung;
- Klimawandel: Wie eine Wolke schwebt
Klimapolitik hat immer das strukturelle Problem, dass sie sich um nationale Beiträge zu einem grenzenlosen Thema befasst – und dass es um langfristige Entwicklungen geht, die nicht in ein Raster aus Amtszeiten und Legislaturperioden passen. Trotzdem müssen sehr rasch tiefgreifende Veränderungen angestoßen werden –
In den 2020er-Jahren stehen in all diesen Bereichen Richtungsentscheidungen an, die womöglich Auswirkungen auf unser gesamtes restliches Leben haben. Höchste Zeit also, eine Vision für unsere Zukunft zu entwerfen.
Vor diesem Hintergrund muten die Debatten, die Deutschland im Frühherbst 2024 führt, umso bizarrer an. Wir drehen gerade die x-te Runde im selben Kreisverkehr – höchste Zeit, mal zu überlegen, wohin wir eigentlich wollen, den besten Weg dorthin zu suchen, zu blinken und uns auf den Weg zu machen!
Wir drehen gerade die x-te Runde im selben Kreisverkehr
Es dauert nun
Jeder der oben skizzierten Punkte trägt viele konkretere Fragen in sich, zum Beispiel: Wie soll die Distanz zwischen Städten und ländlichem Raum überbrückt werden? Wie sollen Transformationskosten sozial gerecht getragen werden? Wie soll die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aussehen? Welches Gesundheitssystem, welche Verwaltung, welches Bildungswesen, welche Mobilitätsinfrastruktur wollen und brauchen wir?
Auf solche konkreten Fragen könnten alle zukunftstauglichen Parteien unterschiedliche Antworten finden – und unsere nächste Bundestagswahl wäre nicht allein eine Wahl der Bulletpoints, sondern eine Wahl der Visionen. Nicht mithalten könnte da die AfD – denn ihr politisches Geschäftsmodell baut zu großen Teilen auf Zukunftsängsten auf.
Teilweise sind die Denkrichtungen der Parteien klar, zumindest in Grundzügen: Die FDP will die Beinfreiheit der Wirtschaft vergrößern, den Staat verschlanken und so viel wie möglich – inklusive Klimaschutz – über marktwirtschaftliche Logiken verwirklicht sehen. Die Grünen hingegen wollen die wirtschaftlich-ökologische Transformation gleichzeitig mit sozialen Aspekten verbinden und dies in vorausschauender Regulierung umsetzen. SPD und Union wollen jeweils unterschiedliche Elemente unseres Systems (soziale Sicherungssysteme bzw. ein leistungsorientiertes Wirtschaftsmodell) zukunftsfest machen und drumherum Neuerungen in überschaubarer Dosierung ergänzen. Die Linke will einen möglichst starken Staat, der materielle Ungleichheit und gesellschaftliche Benachteiligungen verringert. Die AfD will einen autoritären Unrechtsstaat zugunsten einer nach rassistischen Kriterien festgelegten Gruppe.
So weit die unterschiedlichen Denkschulen, die im aktuellen Bundestag aufeinanderprallen – welche Visionen für die Zukunft sie daraus ableiten, dazu werden die Parteien unterschiedlich konkret. Der politische Diskurs beschränkt sich auf heute und vielleicht noch morgen, über das Übermorgen wird selten geredet. Mehr noch: Viele in der Debatte erhobenen Forderungen würden wie ein Kartenhaus zusammenklappen, wenn man die Langfristwirkungen miteinbezieht. Zurückweisungen an der Grenze ohne europäische Absprachen könnten Schengen und die EU insgesamt bedrohen. Neu eingebaute Gasheizungen mögen zwar heute billiger sein als Wärmepumpen –
Wir sollten mehr über die Zukunft reden
Der politische Diskurs würde also ganz anders verlaufen, spielte die Zukunftsfähigkeit von Argumenten eine größere Rolle. Gefragt sind dabei zuallererst die Parteien, die weniger über reaktive Problemlösung (wie in der Migrationsdebatte) und mehr über ihre Visionen für das Land sprechen müssten. In Koalitionsverhandlungen könnten sie dann überprüfen, wo die Visionen überlappen – und wo vielleicht das gemeinsame Ziel das gleiche ist, anstatt nur auf Differenzen zu stoßen bei der Wahl des richtigen Weges. In der Konsensmaschine der parlamentarischen Demokratie kann man bei der Frage nach Visionen sogar mitunter die Parteibrille ganz ablegen, zum Beispiel indem man
Nach Visionen fragen können aber auch alle anderen Mitglieder der Zivilgesellschaft. Es dauert noch, bis wir diese Fragen den Politiker:innen beim Straßenwahlkampf stellen können – aber wir alle können dieses Frage-Mindset in den alltäglichen politischen Austausch mitnehmen. Zum Onkel auf der Familienfeier, zur Kollegin im Job, bei Social Media, in unsere Kneipen, Sportumkleiden, Bäcker-Warteschlangen, oder wo auch immer Politik zur Sprache kommt. »Wie wollen wir in Zukunft leben?« öffnet dabei andere Räume als »Warum kriegen die das mit der Migration nicht hin?«. Zugegeben, das ist idealistisch. Aber Idealismus ist vielleicht die beste Lösung in einer Krisenzeit der epochalen Entscheidungen, in der sonst vor allem Pessimismus die Debatten bestimmt.
Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Bis zur Bundestagswahl bleibt uns noch ein Jahr Zeit, um Visionen für unsere Zukunft zu entwickeln.
Redaktion: Chris Vielhaus
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily