Wir alle wollen ein gutes Leben führen, also müssen wir zwangsläufig produzieren und konsumieren. Aber müssen dafür Kinder schuften? Ozeane und Länder zugemüllt werden? Böden unfruchtbar gemacht werden? Gewässer kippen? Und die Atmosphäre glühen?
Nein!, sagt die Cradle-to-Cradle-Bewegung: Wir können auch so wirtschaften, dass wir dabei nicht nur möglichst wenig Schaden anrichten, sondern die Welt sogar noch besser machen. Bei welchen Produkten das in der Praxis längst funktioniert, weiß Tim Janßen, der seit dem Jahr 2012 den in Berlin leitet.
Bio und Tech: 2 Kreisläufe für eine heile Umwelt
Felix Austen:
Wie funktioniert denn das Cradle-to-Cradle-Designkonzept konkret?
Tim Janßen:
Beim Cradle-to-Cradle-Designkonzept geht es um die Frage, wie sich Cradle to Cradle in die Praxis umsetzen lässt. Eines unserer Prinzipien lautet »Nährstoff bleibt Nährstoff«. Das bedeutet, dass alle Materialien fortwährend in Kreisläufen zirkulieren. Wir sprechen von 2 Kreisläufen: dem biologischen und dem technischen Kreislauf. Neben der Kreislaufführung ist ganz wichtig, welche Materialien benutzt werden, um Dinge herzustellen, nämlich genau definierte, gesunde Materialien. Außerdem werden eine Vielfalt von Konzepten und Ideen in die Produktion miteinbezogen, zum Beispiel, dass nur mit Erneuerbaren Energien produziert wird.
Felix Austen:
Also im Kern eine Kreislaufwirtschaft?
Tim Janßen:
»Circular Economy« ist so ein trendiges Stichwort, das gerade ein bisschen den Begriff »Nachhaltigkeit« ablöst. das wir heute machen, hat mit Cradle to Cradle aber nichts zu tun: Bis zu 70% des gelben Sacks werden einfach verbrannt.
Wir leben in einer Welt voller Materialien, die überhaupt nicht kreislauffähig oder gesund sind. Du gehst etwa ins Krankenhaus, weil du gesund werden willst, und auf dem Schreibtisch des Arztes steht ein Laserdrucker, der emittiert ohne Ende Feinstäube. Gratulation! Du wirst bei der Diagnose noch vergiftet.
Bei Cradle to Cradle geht es nicht darum, vom Ende aus zu denken, sondern vom Anfang: Denn wenn ich weiß, was in meinem Produkt ist, weiß ich am Ende der Nutzung auch noch, was ich mit meinem Produkt tun kann.
Felix Austen:
Ist das neu?
Tim Janßen:
Jahrzehntelang hieß es: »Weniger schlecht sein!« Also unser Fußabdruck ist schlecht und wir müssen ihn reduzieren. Mein Eindruck ist, sei es in der Wirtschaft oder in den NGOs, es geht bei Nachhaltigkeit fast immer darum, zu prüfen, wie schlecht etwas ist. Dann analysiert man das und sagt, das müssen wir irgendwie reduzieren. Ohne dabei an die Wurzel des Problems zu gehen.
Felix Austen:
Es geht also bei Cradle to Cradle darum, einen, ich meine 2 echte Kreisläufe zu schaffen.
Tim Janßen:
Ja! Aber das heißt nicht, dass wir in biologischen Kreisläufen nur biologische Materialien haben und in technischen Kreisläufen keine biologisch abbaubaren Materialien. Das ist gar nicht der Punkt. Es geht in beiden Fällen darum: Was passiert bei der Nutzung?
Wenn die Nutzung bedeutet, dass sich ein Material verbraucht, abreibt, wenn du riskierst, Teile davon in die Umwelt zu verlieren, dann muss das Material so beschaffen sein, dass es das auch kann. Und dass es sich in der Natur in vielleicht 3–5 Jahren abbaut, aber eben nicht erst Beispielsweise deine
Oder dein Waschmittel, das über die irgendwann wieder im Wasserkreislauf landet. Oder deine Schuhsohle, die sich beim Laufen abreibt. Du kannst nichts dagegen tun, die reibt sich ab, ob du es willst oder nicht. Der biologische Kreislauf ist für genau dieses Szenario, wenn sich Materialien reduzieren.
Das heißt nicht: Wenn man was für den biologischen Kreislauf herstellt, kann oder sollte man das dann einfach in den Wald werfen. Wenn du ein T-Shirt für den biologischen Kreislauf entwirfst, kannst du es trotzdem nach der ersten Nutzung kleiderkreiseln oder auf dem Flohmarkt weiterverkaufen. Es gibt wahrscheinlich Leute, die es noch nutzen können. Und wenn das nicht mehr der Fall ist, dann gibt es technische Verfahren, die Fasern zu recyclen.
Ähnlich wie beim Da gibt es ein perfektes industrielles Verfahren, sodass man die Papierfaser übers Recycling solange nutzt, bis sie irgendwann zu kurz ist. Und erst dann kompostieren wir sie, damit daraus wieder eine neue Faser wachsen kann. Auch wenn man dazusagen muss, dass Papierrecycling heute leider nicht ganz so funktioniert, weil die Papierfasern mit giftigen Farb- und Füllstoffen verunreinigt sind.
Felix Austen:
Okay, das ist der Biokreislauf. Und was ist der technische Kreislauf?
Tim Janßen:
Da geht es um die Gebrauchsprodukte, bei denen wir keinen Abrieb erfahren und die Produkte wirklich erhalten können. Der Fernseher bei dir zu Hause, die Wasserrohre oder Möbel. Dort setzt man Materialien ein, die sich im Prinzip immer wieder nutzen lassen.
Dabei muss man natürlich auch über andere Geschäftsmodelle nachdenken, Dienstleistungssysteme zum Beispiel, bei denen man gar nicht mehr die Waschmaschine kauft, sondern nur ihre Nutzung. Der Hersteller bekommt die Materialien wieder zurück, kann sie auseinandernehmen, weil er weiß, was drin ist, und daraus eine Neue bauen. Und vor allem: Er konzipiert sie von Beginn an für dieses Nutzungsszenario!
Noch mal: Im Designkonzept ist es ganz elementar, dass wir nur gesunde Materialien benutzen. Gesund heißt, unbedenklich in der Art und Weise, wie es genutzt wird. Es gibt auch Materialien, die wären nicht gesund, wenn wir sie verschlucken. Wenn wir sie im technischen Kreislauf in einem bestimmten Nutzungsszenario verwenden, dann funktioniert das trotzdem.
Über 8.000 Produkte: Cradle to Cradle ist längst Realität
Felix Austen:
Jetzt habe ich es, glaube ich, verstanden. Ich frage mich allerdings: Wie soll sich dieses Konzept durchsetzen, wo liegt der wirtschaftliche Vorteil für Produzenten?
Tim Janßen:
Das ist natürlich die Gretchenfrage. Das kann sich ganz gut rechnen: Ein Reifenhersteller muss aktuell sehr toxische Substanzen einsetzen, um einen konventionellen Reifen herzustellen. Die muss er richtig handhaben, was die Sicherheit und den Arbeitnehmerschutz angeht. Wenn du dir vorstellst, du nimmst nur noch gesunde Substanzen in deiner Produktion, dann sieht natürlich das Produktionsumfeld ganz anders aus. Er muss wahrscheinlich auch weniger zahlen, um das Abwasser danach wieder zu klären.
Und es geht um Skaleneffekte. Wenn jemand ein T-Shirt herstellt oder einen Autoreifen, davon aber nur 50 Stück im Jahr, dann wird sich das natürlich überhaupt nicht rechnen. Wenn aber ein großer Reifenhersteller wie Continental sagen würde, wir stellen unsere Rezeptur komplett um, dann hat er natürlich in der Beschaffung Skaleneffekte und in der Effizienz der Herstellung genauso.
Felix Austen:
Aber es gibt ja ein Cradle-to-Cradle-Zertifikat, das tragen doch sicher auch schon viele Produkte.
Tim Janßen:
Ja, klar. Es gibt mittlerweile rund von bald 300 Unternehmen, die das schon machen, darunter auch sehr große Unternehmen.
Die bekannten Frosch-Reiniger zum Beispiel, die haben ihre Produkte nach Cradle to Cradle ausgerichtet. Um sie kreislauffähig zu machen, benutzen sie 100% Recyclate für ihre PET-Flaschen, was es so noch nicht gab auf dem Markt.
Ein anderes Beispiel: Auf unserem Kongress dieses Jahr Und das ist kein kleines Unternehmen, sondern eine bekannte und etablierte Consumer-Marke.
Die haben Hunderte Filialen, sind im Massenmarkt angekommen und haben mittlerweile über 80 zertifizierte Produkte, von denen viele auch sind. Deswegen finden wir das Engagement richtig gut und hoffen auch, dass bald andere wie H&M nachziehen.
Felix Austen:
Was ist an so einem Kleidungsstück jetzt besser, als wenn ich mir ein Bio-Shirt kaufe?
Tim Janßen:
Ein Bio-Label sagt oft nur etwas über die Landwirtschaft, also die Erzeugung der Faser. Ein T-Shirt ist aber keine Faser. Eine Textilie ist vernäht, gefärbt, bei Hemden werden Finishings angebracht, damit sie weniger knittern. Es werden Manschetten und Verstärkungsteile in den Kragen eingebracht …
Die Faser ist – ich will nicht sagen das kleinste – aber doch nur eines von vielen Problemen.
Es geht schon auf dem Acker los: Wie funktioniert unsere Landwirtschaft, sodass wir den und erodieren lassen, sondern ihn aufbauen – Thema Monokultur, Fruchtfolgen und so weiter.
Dann wird das Shirt gefärbt und vernäht. Wie geht es den Leuten, die das nähen, und welche Qualität hat das Wasser in der Produktion? Wie definieren wir dann die Farben, damit am Ende eine Textilie herauskommt, die für Hautkontakt gemacht ist? Und kann die Farbe irgendwann wieder in die Biosphäre zurückgehen?
Das Designkonzept Cradle to Cradle ist sehr straight: Es kann niemals Cradle to Cradle sein, wenn du nicht weißt, was drin ist. Es kann niemals Cradle to Cradle sein, wenn Menschen bei der Produktion darunter leiden, wenn das Wasser danach verschmutzt oder nicht mehr trinkbar ist oder nicht mehr aufbereitet werden kann. Es kann nie Cradle to Cradle sein, wenn wir dafür fossile Energieträger verbrennen, kann nie Cradle to Cradle sein, wenn es uns krank macht, und es kann nie Cradle to Cradle sein, wenn irgendwas von dem, was wir machen, am Ende nicht mehr nutzbarer Abfall ist.
Bei einem Schuh weißt du oft nicht, woraus er ist, weil da irgend so ein ganz räudiger Kunststoff verwendet wird, weil ganz dogmatisch darauf geachtet wird: Hauptsache, keine tierischen Inhaltsstoffe.
Felix Austen:
Ist das Fairphone da auch schon auf einem guten Weg?
Tim Janßen:
Das ist für mich ein bisschen ein Herzensthema, weil ich das auch mit gecrowdfunded habe. Den Ansatz finde ich also super. Beim Smartphone wird es allerdings echt schwierig, Deshalb ist das Cradle-to-Cradle-Smartphone sowas wie die Königsdisziplin.
Kein Büßertum, sondern »Toll, dass du da bist!«
Felix Austen:
Dann bleiben wir bei der Kleidung. Am Beispiel des T-Shirts sieht man ja, dass Cradle to Cradle ganz viele andere, ich sage mal Öko-Trends (Circular Economy, Permakultur, Solidarische Landwirtschaft, Veganismus) zusammenbringt. Ist Cradle to Cradle eine Art gedanklicher Überbau, der all die andere Dinge in einem wirtschaftlich praktizierbaren System zusammenbringt?
Tim Janßen:
Für die Denkschule kannst du das sagen. In der Praxis hat immer irgendjemand etwas gegen Cradle to Cradle. Da gibt es in meinen Augen manchmal zwischen all den Ansätzen. Dieser ideologische Streit – der muss eigentlich gar nicht sein.
Felix Austen:
Du sprichst einen wichtigen Punkt an. Ihr unterscheidet zwischen dem Cradle-to-Cradle-Designkonzept und der Cradle-to-Cradle-Denkschule. Das Designkonzept mit den beiden Kreisläufen haben wir oben besprochen. Was macht die Denkschule aus?
Tim Janßen:
Wir wollen ein gewisses Gleichgewicht, eine gewisse »Harmonie« in unserem Wirtschaften und Leben. Eben kein Büßertum, das sagt: »Es wäre besser, es gäbe dich gar nicht!«, sondern: »Toll, dass du da bist! Lass uns das als Chance begreifen und einen Fußabdruck hinterlassen, der möglichst groß sein darf, weil unser Handeln positiv ist.«
Felix Austen:
Hm, etwas schwammig.
Tim Janßen:
Die Cradle-to-Cradle-Denkschule ist die grundsätzliche Haltung, die Perspektive, aus der wir auf die Welt schauen und wie wir handeln. Der Mensch kann seine Bedürfnisse befriedigen und die Welt dabei besser machen. Der Mensch kann ein Nützling sein.
Felix Austen:
Würdest du denn sagen, dass die Menschheit vor der industriellen Revolution diesen Idealen schon mal relativ nahe gekommen ist? Und bringt uns dieser Vergleich überhaupt weiter?
Tim Janßen:
Nicht unbedingt. Ich habe auf einer Indienreise erlebt, wie ein Mann Bilder mit Naturfarben malte und mich gewundert, weil alles so glänzte – das sah gar nicht so öko aus. Dann sah ich, wie er einen Klumpen Blei in die Farbe mischte. Ich will gar nicht wissen, was die Leute vor 200–300 Jahren alles benutzt haben. Die Natur ist nicht besser, die giftigen Sachen bestehen draußen in den Ökosystemen, die giftigsten Sachen sind Natursubstanzen. In Innenräumen irgendwelche Petroleumlampen abzubrennen ist überhaupt nicht gesund. Aber es stimmt schon, mit dem Aufkommen der Chemieindustrie und der petrochemischen Kunststoffe wurde vieles schwieriger.
Felix Austen:
Wie sieht es vonseiten der Politik aus?
Tim Janßen:
Ich will nicht sagen, dass da völlige Ratlosigkeit herrscht, sondern eher eine Suche danach, was ist. Außerdem ist unklar, wer zuständig ist: Das Entwicklungsministerium macht gerade viel zu Cradle to Cradle, das Umweltministerium auch. Das Landwirtschaftsministerium müsste sich aber genauso damit befassen, das Wirtschaftsministerium eigentlich erst recht.
Felix Austen:
Was unterscheidet euch denn von anderen Nachhaltigkeitsbewegungen?
Tim Janßen:
Wenn man sich anschaut, was gerade abgeht, dann kann man nicht von »sustaining«, also »erhalten« reden. Vieles, was wir Menschen gerade machen, ist so verdammt schlecht, das wollen wir doch eigentlich gar nicht erhalten. Erhalten ist so ein Minimalziel – das zu fordern, finde ich eigentlich pervers. Die Welt hat sich noch nie durch Unterlassen verändert. Den Fußabdruck reduzieren, das reicht nicht. Es muss ein positiver Fußabdruck werden. Dafür steht Cradle to Cradle.
Weitere Informationen zu dieser Förderung findest du hier!
Der Physiker Felix begrüßt den Trend zu Hafermilch und fährt gern Rad. Er weiß aber auch, dass das nicht genügen wird, um die Welt vor der Klimakatastrophe und dem Ökokollaps zu bewahren. Deshalb schreibt er über Menschen, Ideen und Technik, die eine Zukunft ermöglichen. Davon gibt es zum Glück jede Menge!