Was du über die wichtigste Idee unserer Zeit wissen musst
Putin hat den Liberalismus gerade für tot erklärt. Nach diesem Text weißt du, warum er sich irrt.
Es gibt sie, diese Momente, in denen die Filterblase platzt.
Menschen wie mich. Ich bin Atheistin. Ich habe nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt,
»Die liberale Idee hat ausgedient. Sie steht im Konflikt mit Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.« – Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation
Die Formalitäten sind geklärt, ich hake die Gruppe auf der Check-in-Liste und in meinem Kopf ab. Doch dann kommt der Gruppenleiter der Missionare mit einem Lächeln auf mich zu.
»Glaubst du an Gott?«
Wäre er ein Zeuge Jehovas an einer Straßenecke, ich würde freundlich zurücklächeln, mit einem kurz angebundenen »Nein!« antworten und weiterlaufen. Doch hier und jetzt gibt es kein Entkommen. Er will reden. Über Gott. Über meinen Glauben (oder eben meinen Nichtglauben). Also reden wir.
Welche Argumente wir austauschen, ist eigentlich nicht von besonders großer Bedeutung. Was hingegen sehr wohl von Bedeutung ist: dass wir sie überhaupt austauschen. Dass wir unterschiedliche Ideen und Wertvorstellungen frei diskutieren, nicht nur an einer Hotelrezeption, sondern auch in Medien, sozialen Netzwerken, in der Politik, beim Bäcker oder im Fitnessstudio, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass nie alle Menschen einer Meinung sein werden – das verdanken wir dem Liberalismus.
Aber was heißt das eigentlich: liberal? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Rechte mögen den Liberalismus nicht, weil er für eine Vielfalt steht, die sie ablehnen – für
Linke mögen den Liberalismus nicht, weil er in einem Team mit dem Kapitalismus spielt und für eine
Wirtschaftsliberalismus, Neoliberalismus, Libertarismus… Du möchtest erst mal ein paar Begriffe klären, bevor du tiefer einsteigst?
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- Liberalismus: Liberalismus ist der Entwurf einer politischen Ordnung mit bestimmten Voraussetzungen – etwa der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Individuen, der Einschränkung politischer Herrschaft und der Selbstregulierung von Wirtschaft durch Wettbewerb. Grundsätzlich gilt im Liberalismus: Wer Freiheit einschränken will, muss dafür eine gute Begründung haben!
- Wirtschaftsliberalismus: Dahinter steckt die Idee, dass eine Wirtschaft, die sich ohne staatliche Einmischung über Markt und Wettbewerb selbst steuert, der Gesellschaft am meisten nutzt. Die Grundlagen dafür bilden Privateigentum, Gewerbe-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit. Der Staat hat dabei vor allem die Aufgabe, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten (»Nachtwächterstaat«).
Vordenker: John Locke und Adam Smith. - Sozialer Liberalismus: Sozialliberalen geht es um die freie Entfaltung des Individuums – und um Chancengleichheit. Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung jedes und jeder Einzelnen ist Voraussetzung für jeden gesellschaftlichen Fortschritt. Deshalb ist für sie die wichtigste Aufgabe des Staates die Bildung.
Vordenker: Immanuel Kant, John Stuart Mill, John Rawls. - Ordoliberalismus: Dahinter steckt die Erkenntnis: Märkte können auch versagen. Lässt man der Wirtschaft freie Hand, stellen sich unerwünschte Effekte ein. Deshalb ist ein politisch gesetzter Ordnungsrahmen notwendig, etwa Kartell- und Wettbewerbsgesetze. So sollen Effizienz und Freiheit mit sozialen Überlegungen versöhnt werden. Aus den Prozessen selbst hält sich der Staat heraus.
Vordenker: Walter Eucken, Alfred Müller-Armack. - Neoliberalismus: Neoliberalismus ist heute in erster Linie ein politisches Schimpfwort. Der Vorwurf: »Neoliberale« schätzen die Freiheit der Märkte mehr als die Freiheit der Menschen. Insbesondere wird Neoliberalismus mit der Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien in Verbindung gebracht, die auf Deregulierung und Privatisierung setzten.
Vordenker: Friedrich von Hayek, Milton Friedman. - Libertarismus: Ob der Libertarismus noch etwas mit den Grundideen des Liberalismus zu tun hat, ist umstritten. In seiner extremen Form steht er für die Abschaffung des Staates, immer aber für eine strikte Begrenzung seiner Handlungskompetenz. Die Beteiligung des oder der Einzelnen an öffentlichen Gütern (über Steuern) soll auf Freiwilligkeit beruhen. Libertarismus gibt es in den verschiedensten Ausprägungen: verbunden mit linken, rechten oder anarchistischen Ideen (Anarchokapitalismus).
Vordenker: Ludwig von Mises, Murray Rothbard.
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Kaum ein politischer Begriff wird mit so viel widersprüchlicher Bedeutung aufgeladen. Gleichzeitig steht der Liberalismus heute wieder im Zentrum von Konflikten, von denen viel, vielleicht sogar alles abhängt:
Der Grundgedanke des Liberalismus: Freiheit! Aber was soll das eigentlich sein?
Wer besser verstehen will, welcher Freiheitsbegriff die liberalen (westlichen) Demokratien von heute geprägt hat, sollte den schmalen Band eines Engländers aus dem Regal ziehen, den man sich wegen seines radikalen Idealismus eigentlich nur als jungen Mann vorstellen kann: John Stuart Mill.
In seinem optimistischen Traktat
Erst mal stellt der Philosoph klar: »Das Volk, welches die Macht ausübt, ist nicht immer dasselbe Volk wie das, über welches sie ausgeübt wird.«
Der hochgebildete, sensible John Stuart Mill wusste vermutlich, wovon er sprach. Seine Lebensführung war dem
Der Liberalismus von John Stuart Mill und Harriet Taylor ist dann folgerichtig vor allem die Freiheit, das Leben nach den eigenen Wünschen, Neigungen und Idealen zu gestalten – solange niemand anderes darunter zu leiden hat.
Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug, es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens, gegen die Tendenz der Gesellschaft, durch andere Mittel als zivile Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzuerlegen, die eine abweichende Meinung haben.
Gedanken- und Meinungsfreiheit sind für Mill aber nicht nur Wohlfühlrechte, die das Leben für jede und jeden Einzelnen angenehmer machen. Indem ich meinen eigenen Lebensplan entwerfe und darüber offen sprechen kann – wie der christliche Missionar und ich an der Hotelrezeption –, trage ich dazu bei, dass sich die Gesellschaft entwickelt.
Andere Meinungen zu tolerieren, auch wenn sie der eigenen unvereinbar gegenüberstehen, ist nach Mill und Taylor Mill die Voraussetzung für jeden gesellschaftlichen Fortschritt. Eine unterdrückte Meinung könnte schließlich immer eine Wahrheit enthalten, die allen nützt – und umgekehrt können sich eigene Ansichten als falsch herausstellen. Ohne Diskussionsfreiheit beraubt sich die Gesellschaft unendlich vieler Potenziale der Erkenntnis.
»Die Tyrannei der Gewohnheit stellt sich überall dem Fortschritt hindernd entgegen« – John Stuart Mill
Bei allem Individualismus ist die Gesellschaft für Mill trotzdem mehr als eine Ansammlung verschiedener Lebensentwürfe. Sie bietet Schutz und schafft im besten Fall die Voraussetzungen dafür, dass sich jede und jeder gemäß ihren und seinen Neigungen entwickeln und damit zum Gemeinwohl beitragen kann. Teil einer Gesellschaft zu sein, das heißt sich bewusst zu machen, wo die Grenzen des eigenen Benehmens liegen (und Strafen zu akzeptieren, wenn diese Grenzen überschritten werden). Es heißt auch, und das ist Mill wichtig,
Die Kernaufgabe des Staates wiederum ist es, die Bildung seiner Bürgerinnen und Bürger zu garantieren – denn
Die größtmögliche Freiheit für alle also, die nur dort an ihre Grenzen stößt, wo sie die Freiheit anderer beschneiden will. Wer könnte etwas dagegen haben – und warum?
Attacke von allen Seiten: Warum der Liberalismus gerade einen schweren Stand hat
Im Jahr 2019, rund 200 Jahre nach Mills und Taylors Gedanken zur individuellen und bürgerlichen Freiheit, hat die liberale Idee, vorsichtig formuliert, einen schweren Stand.
Der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin hat den Liberalismus
Liberalismus, das ist für Putin auch die Idee von offenen Grenzen, von einem Multikulturalismus, oder die Entscheidung Angela Merkels, mehr als eine Million Geflüchtete ins Land zu lassen.
»Demokratie ja, Liberalismus nein!« – Viktor Orbán, ungarischer Premierminister
Putin ist der Posterboy der neuen Illiberalen, die man sich gerade ganz gut als Boyband mit Mitgliedern wie Donald Trump, dem ungarischen Ministerpräsidenten
Putins öffentlichkeitswirksame Attacke auf den Liberalismus provozierte jede Menge Widerspruch. »Wer behauptet, dass liberale Demokratie ausgedient hat, sagt damit auch, dass Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ausgedient haben«,
Als hoher EU-Beamter vertritt Donald Tusk eine Institution, die ein Paradebeispiel für die inneren Widersprüche des zeitgenössischen Liberalismus ist.
Denn einerseits steht die EU ja tatsächlich für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Pluralismus – also für klassisch liberale Werte. Andererseits steht sie aber auch für das von links kritisierte »Primat des Marktes«. Die Europäische Union startete in den 1950er-Jahren als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, im Kern ist sie das bis heute geblieben. Die Freiheit der Wirtschaft sei der Freiheit der Menschen in der EU übergeordnet, wird
Welchen Ausweg bietet liberales Denken aus diesen Zwickmühlen, in die es sich selbst manövriert hat? Wie gelingt Fortschritt hin zu einer besseren Zukunft für alle, nicht nur für wenige?
Liberalismus als moralisches Abenteuer – oder: die Bereitschaft, sich von Argumenten überzeugen zu lassen
Die liberale Antwort klingt zunächst denkbar langweilig: mit Reformen statt Revolutionen.
Es habe sich im Laufe der Jahrhunderte gezeigt, dass das besser funktioniere, meint der US-amerikanische Autor
Und eigentlich sei es meistens die gleiche Reform, die sich nur auf unterschiedliche Orte und Menschen beziehe: eine Reform, die darauf hinarbeite, bestehende Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu überwinden.
Adam Gopnik erlöst den Liberalismus in seinem Buch von realpolitischen Grabenkämpfen und sucht stattdessen nach seiner Essenz. »Liberal«, das ist für ihn eher die Beschreibung eines Temperaments, einer Mentalität, weniger ein Set fixer politischer Glaubenssätze. Liberal zu sein bedeutet bereit zu sein, sich in einer Debatte vom besseren Argument überzeugen zu lassen, immer mit dem Ziel, soziale Reformen hin zu mehr Gleichheit anzustreben.
Grundlage für diese politische Praxis sind 2 Erkenntnisse:
- Wir könnten mit dem, was wir glauben, immer auch falsch liegen.
- Zu jedem Thema wird es immer unterschiedliche Meinungen geben.
Damit umgehen zu können, dafür braucht es in erster Linie eines: Empathie.
Wie vermutlich bei John Stuart Mill damals, so ist es auch bei Gopnik ein emotionales Erlebnis, das ihn zum Nachdenken über die Grundfesten der Gesellschaft bringt: Als sich das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 2016 abzeichnet, macht der Autor einen Spaziergang mit seiner Tochter durch das nächtliche New York. Die 17-Jährige ist geschockt und beunruhigt. Was bedeutet die Wahl von Donald Trump für das Leben, wie sie es kennt?
Gopniks Buch und sein Nachdenken über den Liberalismus bieten eine Antwort, die Hoffnung macht und gleichzeitig ein Appell ist: Die Institutionen der liberalen Demokratie sind stark. So stark, dass eine einzelne Person sie nicht in ihren Fundamenten erschüttern kann. Jedenfalls nicht, solange es einen öffentlichen Raum für Debatten und gemeinsames Handeln gibt. Dass dieser Raum erhalten bleibt und Diskussionen auch dann geführt werden, wenn sie unbequem sind, ist die Aufgabe, die sich jede und jeder Einzelne auf den Zettel schreiben kann.
Nicht erst, aber besonders seit der Wahl von Trump und dem Aufstieg populistischer Parteien und Bewegungen in Europa werden politische Streitfragen schnell als Showdown inszeniert: zwischen einer offenen, kosmopolitisch orientierten Gesellschaft auf der einen und national-konservativen Strömungen auf der anderen Seite.
Die Institutionen der liberalen Demokratie sind stark. So stark, dass eine einzelne Person sie nicht erschüttern kann
Gopnik meint: Diese Auseinandersetzungen sind eigentlich nichts Neues. Die Aufgabe der Liberalen war es schon immer, auf dem schmalen Grat
Die ständige mediale Inszenierung der beiden Lager als Feinde ist dann die eigentliche Gefahr; denn sie erstickt Empathie – und damit die Voraussetzung für ein Gespräch, das am Ende auch etwas bewegt.
Am Ende der Diskussion mit dem Missionar an der Hotelrezeption hatte weder ich zum Glauben gefunden, noch war er vom Glauben abgefallen.
Aber wir trennten uns mit versöhnlichen Worten: »Ich merke, dass du eine zufriedene Person bist, auch wenn du nicht an Gott glaubst«, sagte er. »Danke für das interessante Gespräch!«, erwiderte ich.
Titelbild: Dallas Reedy / Toa Heftiba - CC0 1.0